Problemfall Verbringungsgewahrsam

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Vor dem Lokalderby zweier verfeindeter Fußballvereine sichtet die Polizei mehrere polizeibekannte Ultras des gegnerischen Teams. Die Polizei erteilt den Ultras einen Platzverweis für das Stadiongelände und bringt sie mit mehreren Polizeiautos zurück zum Bahnhof.

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Einordnung des Falls

Problemfall Verbringungsgewahrsam

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der sog. Verbringungsgewahrsam liegt vor, wenn die Polizei eine Person von einer Örtlichkeit zu einem anderen Ort bringt, um die Person von dieser Örtlichkeit fernzuhalten. Ist der Platzverweis die richtige Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof?

Nein, das ist nicht der Fall!

Umstritten ist, auf welche Rechtsgrundlage die Polizei den Verbringungsgewahrsam stützen kann. Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass das Verbringen von der Standardermächtigung des Platzverweises (Art. 16 Abs. 1 BayPAG, § 16 Abs. 1 BbgPolG, § 13 Abs. 1 POG RP) umfasst sei. Dagegen spricht allerdings, dass der Platzverweis eine Standardermächtigung ohne Vollzugselement ist. Der Platzverweis enthält allein eine Anordnungsbefugnis für ein Entfernungsgebot und Betretungsverbot, aber keine Ermächtigung zur Durchsetzung. Das Verbringen an einen anderen Ort geht über die bloße Anordnungsbefugnis hinaus und hat vollziehenden Charakter. Die Verbringung an einen anderen Ort geht über die Befugnisse hinaus, die die Standardermächtigung zum Platzverweis einräumt. Der Platzverweis (Art. 16 Abs. 1 BayPAG, § 16 Abs. 1 BbgPolG, § 13 Abs. 1 POG RP) ist nicht die richtige Ermächtigungsgrundlage.
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2. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist der Durchsetzungsgewahrsam (§ 19 Abs. 1 Nr. 3 PAG TH, § 204 Abs. 1 Nr. 4 LVwG, § 37 Abs. 1 Nr. 3 SOG LSA).

Nein, das trifft nicht zu!

Teilweise vertritt die Literatur, dass das Verbringen an einen anderen Ort vom Durchsetzungsgewahrsam (§ 22 Abs. 1 Nr. 4 SächsPolG, § 13 Abs. 1 Nr. 2b SPolG, § 14 Abs. 1 Nr. 3 POG RP) umfasst sei. Das Verbringen diene der Durchsetzung des vorher ausgesprochenen Platzverweises. Diese Meinung lässt allerdings außer Betracht, dass das Wegbringen ein anderes Ziel als der Gewahrsam verfolgt: Ziel des Gewahrsams ist es, eine Person längerfristig festzuhalten. Ziel des Verbringen ist es, die Person von einer bestimmten Örtlichkeit fernzuhalten, aber nicht, sie festzuhalten. Das Verbringen der Ultras zum Bahnhof verfolgt gerade nicht das Ziel, die Fans in einem eng umgrenzten Ort längerfristig festzuhalten, sondern sie an einen anderen Ort zu bringen. Der Durchsetzungsgewahrsam ist nicht die richtige Ermächtigungsgrundlage.

3. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist die polizeiliche Generalklausel (§ 17 Abs. 1 ASOG, § 10 BbgPolG, § 10 Abs. 1 BremPolG).

Nein!

Manche Stimmen in der Literatur wollen das Verbringen auf die polizeiliche Generalklausel basieren. Allerdings ist zweifelhaft, ob diese überhaupt anwendbar ist: Das primäre Durchsetzungsinstrument für den Platzverweis ist der Gewahrsam; subsidiär darf auf die allgemeinen Vollstreckungsregeln zurückgegriffen (§§ 50ff. PolG NRW) werden. Somit ist der Durchsetzungsgewahrsam im Vergleich zur polizeilichen Generalklausel die speziellere und abschließende Regelung. Teilweise werden auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anwendung der polizeilichen Generalklausel aufgeführt, da diese nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG entspreche. Allerdings müsste das Verbringen an einen anderen Ort dann ein Freiheitsentzug sein, was aufgrund der kurzen Dauer und geringen Intensität zweifelhaft ist. Die Polizei kann das Verbringen der Ultras vom Bahnhof aus Spezialitätsgründen nicht auf die polizeiliche Generalklausel stützen.

4. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist der unmittelbare Zwang nach den allgemeinen Vollstreckungsregeln (§§ 64ff. NPOG, §§ 53ff. BbgPolG, §§ 79ff. SOG MV).

Genau, so ist das!

Am überzeugendsten erscheint die Lösung über die allgemeinen Vollstreckungsregeln der Polizeigesetze der Länder. Die Polizei setzt den Platzverweis, der die Grundmaßnahme darstellt, welche auf die Vornahme einer Handlung bzw. Unterlassung gerichtet ist, im Wege des unmittelbaren Zwangs durch (bspw. §§ 64 Abs. 1, 69, 71ff. NPOG). Ein Spezialitätsproblem besteht auch nicht: Der Durchsetzungsgewahrsam ist zwar das primäre Durchsetzungsinstrument für den Platzverweis, allerdings ist er anders als im Vergleich zur Generalklausel gegenüber den allgemeinen Vollstreckungsregeln keine abschließende Sonderregelung. Fehlt es an einem Grundverwaltungsakt, weil die Polizei vorher keinen Platzverweis erteilt, kann das Verbringen auf den Sofortvollzug basiert werden. Allerdings sieht nicht jedes Polizeigesetz den sofortigen Vollzug vor.
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