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Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch - Entfernung einer öffentlichen Abwasserleitung von Privatgrundstück (OVG LSA, Beschl. v. 12.01.2024, Az. 4 L 126/21 u. 294/22)
Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch - Entfernung einer öffentlichen Abwasserleitung von Privatgrundstück (OVG LSA, Beschl. v. 12.01.2024, Az. 4 L 126/21 u. 294/22)
31. Mai 2025
15 Kommentare
4,7 ★ (28.941 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Stadt S ist Eigentümerin eines Grundstücks, unter dem sie 1998 eine Abwasserleitung verlegte. Diese übereignet sie 2011 an das Abwasserwerk W. 2017 wird das Grundstück an die K übereignet. K erfährt von der Abwasserleitung und begehrt 2018 von W deren Beseitigung, da das Grundstück durch sie nicht bebaubar und daher wertlos sei.
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Einordnung des Falls
Öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch - Entfernung einer öffentlichen Abwasserleitung von Privatgrundstück (OVG LSA, Beschl. v. 12.01.2024, Az. 4 L 126/21 u. 294/22)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren der Klägerin (vgl. § 88 VwGO). Ist hier die Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) statthaft?
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die allgemeine Leistungsklage der K ist zulässig. Setzt die Begründetheit voraus, dass K einen Anspruch auf Beseitigung der Leitung hat?
Ja, in der Tat!
3. Anspruchsgrundlage für die Beseitigung der Abwasserleitung könnte der öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch sein.
Ja!
4. Handelt es sich bei der Verlegung der Abwasserleitung durch S um hoheitliches Handeln?
Genau, so ist das!
5. Ist die Verlegung der Wasserleitung unter dem Grundstück durch die Stadt S dem Beklagten W zurechenbar?
Ja, in der Tat!
6. Die Abwasserleitung und damit einhergehende beschränkte Bebaubarkeit des Grundstücks begründet einen Eingriff in die Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) der K.
Ja!
7. Ist K durch den Erwerb des Grundstücks auch Eigentümerin der Abwasserleitung geworden?
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Ein Eingriff in ein subjektives Recht ist gegeben. Der Zustand wäre allerdings rechtmäßig, wenn die K die Abwasserleitung auf ihrem Grundstück dulden müsste (Duldungspflicht).
Ja, in der Tat!
9. Könnte sich eine Duldungspflicht der K hier grundsätzlich aus § 93 S. 1 WHG ergeben?
Ja!
10. Begründet die Abwasserleitung unter dem Grundstück der K somit einen fortdauernden rechtswidrigen Zustand?
Genau, so ist das!
11. Der Folgenbeseitigungsanspruch dürfte schließlich nicht aus anderem Grunde ausgeschlossen sein.
Ja, in der Tat!
12. W rügt, die Verlegung der Abwasserleitung sei unmöglich. Ein Sachverständigengutachten belegt jedoch, dass es Alternativen zur Abführung des Abwassers gibt. Ist die Folgenbeseitigung wegen Unmöglichkeit ausgeschlossen?
Nein!
13. Der Wertverlust des Grundstücks der K durch die Abwasserleitung beläuft sich auf €50.000, der Aufwand der Umverlegung für W auf ca. €80.000. Führt dies zu einer Unzumutbarkeit der Folgenbeseitigung?
Nein, das ist nicht der Fall!
14. W macht geltend, Ks Anspruch auf Folgenbeseitigung sei verjährt. Trifft das zu, wenn K den Anspruch 2018 klageweise geltend gemacht hat?
Nein, das trifft nicht zu!
15. Der Folgenbeseitigungsanspruch ist somit nicht ausgeschlossen. Kann K die Beseitigung der Abwasserleitung verlangen?
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Nils01
25.1.2025, 13:58:34
Ich verstehe nicht ganz, warum eine Eigentumsverletzung vorliegt. Da sich die Abwasserleitung von Anfang an auf dem Grundstück der A befand, hatte diese doch nie Eigentum an einem baufähigen Grundstück, welches später erst durch eine Leitung beeinträchtigt wurde. Sondern sie hatte "nur" Eigentum an einem nicht baufähigen Grundstück aufgrund der Wasserleitung.
P K
2.2.2025, 01:38:49
Ich glaube da denkst du zu sehr zivilrechtlich. Bei §
823 BGBwäre deine Argumentation in jedem Fall richtig. Dies hat aber die notwendige Abgrenzung zwischen Leistungs- und
Integritätsinteressezum Hintergrund. Die Frage stellt sich hier nicht. Du hast insofern einen Punkt als dass ein "Eingriff" im Sinne der Grundrechtsdogmatik nicht vorliegt, da kein staatliches Handeln vorlag, welches subjektive Rechte beeinträchtigt hat. Insofern sollte man beim FBA mehr auf den Erfolg bzw. Zustand an sich schauen und - erfolgsbezogen - von einer Beeinträchtigung des Rechtsguts sprechen, egal ob sie nun durch das staatliche Handeln oder erst durch das Hinzutreten weiterer Umstände (hier Veräußerung) eingetreten ist. Und das lässt sich ja durchaus bejahen, denn das Grundstück kann faktisch nicht genutzt werden.

Lorena.Giacco
3.2.2025, 14:25:36
Hallo @[Nils01](282341), Danke für Deine Frage. Wie @ P K schon völlig richtig ausgeführt hat, kommt es verfassungsrechtlich nicht darauf an, ob K je Eigentum an einem bebaubaren Grundstück hatte, sondern darauf, dass der staatlich geschaffene Zustand die Nutzungsmöglichkeiten an ihrem Eigentum beeinträchtigt. Die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG schützt nämlich nicht nur das bloße Eigentum als solches, sondern gerade auch umfassende Nutzungs- und Ver
wertungsmöglichkeiten am Eigentum. Die A wird in ihrer Eigentumsfreiheit also beeinträchtigt, weil sie ihr Grundstück nicht so nutzen kann, wie es normalerweise (ohne die Abwasserleitung) möglich wäre. Auch die Rspr. erkennt Eingriffe in Art. 14 GG regelmäßig an, wenn die Nutzbarkeit des Grundstücks durch faktische oder rechtliche Beschränkungen erheblich beeinträchtigt wird, unabhängig davon, ob der Eigentümer den belasteten Zustand von Anfang an übernommen hat. Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team

Tadara
27.1.2025, 10:30:41
ich verstehe nicht, wie das Wasserrohr, welches als
wesentlicher Bestandteildes Grundstücks qualifiziert wird, gem. § 929 S.2 BGB veräußert werden kann. Steht einer Veräußerung nicht in diesem Fall
§ 93 BGBentgegen?
P K
2.2.2025, 01:42:52
Die Lösung vertritt die Auffassung, dass das Rohr wegen § 95 Abs. 1 S. 2 BGB
Sonderrechtsfähigkeiterlangt und deswegen veräußert werden kann. Das erscheint mit Blick darauf zweifelhaft, dass diese Norm ja gerade ein
fremdes Grundstück voraussetzt; im Zeitpunkt des Einbaus - so habe ich den Fall verstanden - war es ja aber gerade das eigene Grundstück. Ich verstehe aber ohnehin nicht, weshalb es überhaupt auf die Eigentumsverhältnisse am Rohr ankommen soll. Entscheidend ist die Beeinträchtigung der Nutzbarkeit des Grundstücks. Die ist so oder so gegeben.

Lorena.Giacco
3.2.2025, 14:19:32
Hallo @[Tadara](95073), Danke für Deine Frage. So ist es, @[P K](196201): Wir haben bei der Lösung – dem OVG folgend – angenommen, dass die Abwasserleitung zu einem
Scheinbestandteilgemäß § 95 Abs. 1 S. 2 BGB wurde und so
Sonderrechtsfähigkeiterlangt hat und isoliert nach § 929 S. 2 BGB übereignet werden konnte. Als die Stadt S selbst noch Eigentümerin des Grundstücks war und die Abwasserleitung darunter errichten ließ, lagen die Voraussetzungen des § 94 Abs. 1 S. 1 BGB vor, sodass sie ein
wesentlicher Bestandteildes Grundstücks wurde. Zu diesem Zeitpunkt lagen insb. nicht die Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 S. 2 BGB vor, der ja, wie @ P K zu Recht feststellt, voraussetzt, dass „ein
Dritter“ ein Werk errichtet: Hier hat S auf dem eigenen Grundstück ein Werk errichtet. Spätestens durch den Erwerb des Grundstückseigentums durch die K liegen hinsichtlich der Abwasserleitungen aber die Voraussetzungen eines
Scheinbestandteils nach § 95 Abs. 1 S. 2 BGB vor: Aus Sicht der A haben „Dritte“ (Stadt S) ein Werk an ihrem Grundstück errichtet. Dies erfolgte auch „in Ausübung eines Rechts an einem
fremden Grundstücks“, hier namentlich die öffentlich-rechtliche Befugnis zur Errichtung einer Versorgungsleitung. Zwar erfolgte die Errichtung der Leitung schon bevor A Eigentümerin des Grundstücks war, als es sich für S also noch nicht um ein
fremdes Grundstück handelte – mit Eigentumserwerb der K handelt es sich für S nun allerdings um ein
fremdes Grundstück, sodass die Abwasserleitung nunmehr ein
Scheinbestandteildes Grundstücks i.S.d. § 95 Abs. 1 S. 2 BGB ist. Der ehemals wesentliche Bestandteil hat sich so sachenrechtlich zu einer selbständigen Sache umgewandelt (RdNr. 46), dies ist insb. bei Versorgungsleitungen möglich (vgl. auch etwa BGH NJW 2006, 990; Prütting, Sachenrecht, 37. Aufl. RdNr. 4a). Wir hoffen, das klärt die Frage! Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team

Lorena.Giacco
3.2.2025, 14:22:31
Hallo @[P K](196201), Danke auch für diese Frage! Du hast Recht, dass eine Beeinträchtigung der Nutzbarkeit des Grundstücks durch die Abwasserleitung gegeben ist und vor diesem Hintergrund ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG zu bejahen ist. Hätte K allerdings auch Eigentum an der Abwasserleitung erworben (nach §
946 BGB, wenn die Leitung ein
wesentlicher Bestandteilwäre), könnte man zumindest erwägen, einen Eingriff in die Eigentumsfreiheit abzulehnen: Dann würde es sich nicht um eine
fremde Abwasserleitung handeln und es stünde der K frei, sie selbst zu beseitigen. Um die Entscheidung des OVG möglichst vollständig abzubilden, haben wir diesen Aspekt und die spezielle sachenrechtliche Problematik daher mitaufgenommen. Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team
Findet Nemo Tenetur
22.5.2025, 21:37:47
Wenn aus Sicht der A Dritte (Stadt S) ein Werk auf ihrem Grundstück errichtet haben und das in Ausübung eines Rechts an einem
fremden Grundstück erfolgte, weil eine öffentlich-rechtliche Befugnis zur Errichtung einer Versorgungsleitung bestand (womit S Berechtigte iSd § 95 I 2 BGB war), wie kann dann selbige Handlung zu einem
rechtswidrigen Eingriff führen? W muss sich ja das Handeln der S zurechnen lassen, wieso denn dann nicht auch die Berechtigung hinsichtlich dieses Handelns?

Dolo Agate
28.1.2025, 11:18:56
Ich hab nicht ganz verstanden wer hier W als Zwischenerwerber war
lawfox99
28.1.2025, 21:24:39
„Wasserwerke“ zb, die die Leitung unter dem Grundstück der K von der Stadt gekauft haben
jenny24
28.1.2025, 22:16:06
Es ist unklar gegen wen geklagt wurde, wer W ist und was er tut. Es bleibt mir unverständlich wieso hier nicht die Kenntnis der Leitung bei Erwerb eine Rolle spielt. wieso ist hier ein Eingriff in Art. 14 gegeben, wenn nie Eigentum ohne Abwasserleitung erworben wurde?
C
30.1.2025, 15:52:44
Finde den Fall auch sehr wirr. Es wird überhaupt nicht klar, dass W überhaupt ein Hoheitsträger ist. Außerdem wird in der einen Fragen gefragt: Liegt ein
rechtswidriger Zustand vor? Antwort ja. In der nächsten Frage wird dieses eigentlich endgültig klingende Ergebnis doch wieder hinterfragt.
Findet Nemo Tenetur
22.5.2025, 21:39:37
Bei mir bleiben auch viele Fragen; habe es beispielsweise nicht so verstanden, dass W Hoheitsträger ist (@[C](137884) ).
Con
2.2.2025, 19:22:45
Vielen Dank für den interessanten Fall. Ich hätte aber noch zwei Fragen bzw. Bitten: Erstens verstehe ich die Verlinkung nicht ganz – müsste hier nicht das Staatshaftungsrecht statt des Zivilrechts relevant sein? Zweitens erscheint mir der Sachverhalt in Bezug auf W nicht vollständig klar. Möglicherweise könnte dieser noch ergänzt oder präzisiert werden.
Findet Nemo Tenetur
22.5.2025, 21:55:44
Ich schließe mich mit einer weiteren Frage an: Laut Erklärung sind die Voraussetzungen des Anspruchs: 1)
Hoheitliches Handeln2) Eingriff in subjektives Recht 3) Fortdauernder,
rechtswidriger und zurechenbarer Zustand 4) Kein Ausschluss Der
Folgenbeseitigungsanspruchwird ggü W (keine Ö-R, sondern Privatperson, soweit ich den SV habe) geltend gemacht. Deshalb wird mir nicht klar, auf welcher Ebene die Zurechnung erfolgt. In der Erklärung steht, der
hoheitliche Eingriff müsse dem W zurechenbar sein; somit hätte ich gedacht bei 3). Allerdings verstehe ich nicht, weswegen auch die
Hoheitlichkeit (also Punkt 1)) zugerechnet werden kann. Wenn die
Behördehier nicht durch Realhandeln, sondern zB durch VA gehandelt hätte, könnte man dann etwa auch den VA einer Privatperson zurechnen? Ich verstehe es irgendwie überhaupt nicht. Die Erklärung sagt dass passivlegitimierter
Schuldner des FBA die Stelle ist, die im aktuellen Zeitpunkt für die öffentliche Aufgabe zuständig ist. Mir ist nicht klar, an welcher Stelle im Schema ich die öffentliche Aufgabe unterbringe. Beim
hoheitlichen Handeln? Dass also derjenige, der in
Erfüllungeiner öffentlichen Aufgabe handelt, gleichzeitig auch
hoheitlichhandelt? Ist W dann
Beliehene? Andererseits steht in einer Subsumtion, dass die Aufgabe (dh also nicht die bloße
Erfüllung, sondern die Aufgabe selbst, oder?!) der Abwasserbeseitigung nun auf W übergegangen sei. Da W Privatperson ist, ist es demnach ja gar keine öffentliche Aufgabe mehr. Nun sind es doch einige Fragen mehr geworden, aber den anderen Kommentaren nach zu urteilen besteht auch bei anderen Verwirrung, deshalb habe ichs jetzt mal so gelassen.. Danke!