Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2024
Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)
Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die AfD hält ihren Parteitag in der Stadt S ab. Hunderte vermummte Personen errichten Blockaden nahe des Veranstaltungsorts. Sie zünden Pyrotechnik und tragen Transparente mit Aufschriften wie „Nationalismus ist keine Alternative“. Die Polizei kesselt – formell rechtmäßig – die Demonstrierenden ein und kündigt an, sie einzeln abzuführen. Die Protestierenden bleiben im Kessel, bis sie von den Beamten weggebracht werden.
Diesen Fall lösen 88,1 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 19 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Drei Monate später erhebt Teilnehmerin T Klage gegen das Vorgehen der Polizei. Richtet sich die statthafte Klageart nach dem Klagebegehren (vgl. § 88 VwGO)?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. T begehrt die Feststellung, dass die „Einkesselung“ rechtswidrig war. Könnte die Einkesselung ein reiner Realakt gewesen sein?
Genau, so ist das!
3. In der Ankündigung, die Demonstrierenden aus dem Kessel einzeln abzuführen liegt das Gebot, dass diese im Kessel verbleiben müssen.
Ja, in der Tat!
4. Die Maßnahme der Polizei war ein Verwaltungsakt. Ist deswegen die Feststellungsklage statthaft?
Nein!
5. T ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). T klagt aber erst drei Monate später. Scheitert die Zulässigkeit der Klage an der Klagefrist aus § 74 VwGO?
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Die Fortsetzungsfeststellungsklage kann nur dann zulässig sein, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse besteht. Hat T ein solches Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme?
Ja, in der Tat!
7. Ts zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, wenn die Einkesselung zur Abführung der Teilnehmen rechtswidrig war und T dadurch in ihren Rechten verletzte (§ 113 Abs. 1 S. 1, S. 4 VwGO).
Ja!
8. Zunächst müsste die Maßnahme der Polizei aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen sein.
Genau, so ist das!
9. Das Versammlungsrecht entfaltet eine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des Polizeirechts (sog. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts.
Ja, in der Tat!
10. Die Blockade des Parteitags müsste zunächst eine Versammlung (Art. 8 Abs. 1 GG) gewesen sein.
Ja!
11. Weil es den Teilnehmenden zumindest auch auf die Blockade des AfD-Parteitags ankam, lag eine reine Verhinderungsblockade vor.
Nein, das ist nicht der Fall!
12. Die Blockade war eine Versammlung. Muss die Polizei Versammlungen grundsätzlich erst nach § 15 Abs. 3 VersG auflösen, bevor sie Teilnehmende in Gewahrsam nehmen kann?
Ja, in der Tat!
13. Art. 8 Abs. 1 GG gilt nur für friedliche Versammlungen. Findet das VersG deswegen ebenfalls von vornherein keine Anwendung auf unfriedliche Versammlungen?
Nein!
14. Nach der „neueren“ Rechtsprechung des BVerwG findet der Auflösungsvorbehalt § 15 Abs. 3 VersG jedenfalls dann keine Anwendung, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich war.
Genau, so ist das!
15. Eine Versammlung kann nach Ansicht des BVerwG nur dann als unfriedlich eingestuft werden, wenn es bereits zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen ist.
Nein, das trifft nicht zu!
16. Das BVerwG hat die Versammlung als von Anfang an unfriedlich eingestuft, weil „850 - 1000 gewaltbereite Menschen (...)“ und Ausschreitungen zu erwarten waren. Bedurfte es daher noch einer Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG vor der Ingewahrsamnahme?
Nein!
17. Die Ingewahrsamnahme war formell rechtmäßig. Müsste sie auch materiell rechtmäßig gewesen sein?
Genau, so ist das!
18. Auf Rechtsfolgenseite muss die Polizei die Maßnahme zunächst gegen den richtigen Störer gerichtet haben. Durfte die Polizei T als Störer in Gewahrsam nehmen?
Ja, in der Tat!
19. Die konkrete Ingewahrsamnahme müsste auch ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig, gewesen sein.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
Jurafuchs kostenlos testen
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Julia
23.7.2024, 11:17:45
Ich finde die Einordnung der Versammlung als "von Anfang an unfriedlich" zumindest nicht ganz selbstverständlich. Wurde diese allein auf das Zünden von Pyrotechnik gestützt? Oder gar darauf, dass die Teilnehmer:innen "linksradikal" waren?
judith
23.7.2024, 12:45:20
In der Falllösung sind die gewonnenen Erkenntnisse der Polizei vor Ort, welche die Unfriedlichkeit begründen sehr verkürzt dargestellt. Im Urteil unter findest Du diese nochmal ausführlicher aufgelistet. Es wurden 850 – 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum erwartet. Es war zu erwarten, dass diese Personen - Zufahrtswege zur Messe als dem Veranstaltungsort des AfD-Bundesparteitags blockieren - Infrastruktur an der Messe zerstören - Inbrandsetzen von Kraftfahrzeugen und Ladengeschäften und ähnliche schwere Ausschreitungen
Linne_Karlotta_
24.7.2024, 08:47:07
Hallo in die Runde, danke für Eure Anmerkungen. Es ist so, wie Judith sagt. Ich habe die entsprechende Frage noch etwas mit Sachverhaltsinformationen angereichert, damit das deutlicher wird. Man kann es hier aber durchaus kritisch sehen, dass diese (m.E. sehr unspezifische) Prognose ausreicht, um die Versammlung als von Anfang an unfriedlich einzustufen. Das BVerwG stellt zwar ausdrücklich klar, dass es für diese Einordnung nicht bereits zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sein muss, sondern eben eine solche Prognose ausreicht (RdNr. 57). Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG könnte man hier aber zumindest dafür argumentieren, dass es für die Prognose noch konkretere Anhaltspunkte gebraucht hätte. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
Jan Moritz
25.7.2024, 10:46:43
Hey, an welcher Stelle im Gutachten müsste man das Problem mit der
Polizeifestigkeit des Versammlungsrechtserörtern ? Grundsätzlich ist es ja so, dass bei dem Vorliegen einer Versammlung und der damit verbundenen Anwendbarkeit des Versammlungsrechts ein Rückgriff auf das Polizeirecht gesperrt ist, um die Versammlungsteilnehmer vor unverhältnismäßigen Eingriffen ihrer Versammlungsfreiheit zu schützen. (zumindest auf Tatbestandsebene) Hab ich das richtig verstanden , dass die Sperrwirkung allerdings dann nicht eingreift, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich gewesen ist und somit bereits auf Tatbestandsebene die Anwendung des Polizeirechts nicht gesperrt ist? Müsste man also zunächst im Gutachten bereits beim Prüfungspunkt „Ermächtigungsgrundlage“ zunächst darstellen , dass bei Vorliegen einer Versammlung grundsätzlich das Versammlungsrecht anwendbar ist und somit der Rückgriff auf das PolizeiR gesperrt ist . Dann allerdings sagen , dass es einer Versammlungsauflösung nicht bedarf , wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich gewesen ist und somit der Rückgriff auf die Ermächtigungsgrundlagen des Polizeirechts zulässig ist und infolgedessen auf die Ingewahrsamnahme abstellen als EGL? Bei der VHMK würde ich dann darauf abstellen , dass sich die Versammlungsteilnehmer nicht auf Art 8 GG Berufen können, weil bereits der Schutzbereich nicht eröffnet ist ? Kann auch sein, dass ich es falsch verstanden habe. Daher die Nachrage. Beste Grüße !
Patrick4219
31.7.2024, 10:23:58
Hallo @[Jan Moritz](201057) , ich würde es genauso machen wie du und die Diskussion komplett unter dem Prüfungspunkt "Ermächtigungsgrundlage" darstellen. Schematisch etwa so: A. Begründetheit der FFK I. EGL 1. VersG a) Grundsatz = Sperrwirkung b) Ausnahme aa) Auflösung bb) Nichterforderlichkeit der Auflösung wegen anfänglicher Unfriedlichkeit c) Ergebnis = Polizeirecht anwendbar . . .
Jan Moritz
31.7.2024, 11:07:12
Alles klar ! Vielen Dank !
Jan Moritz
31.7.2024, 14:36:51
Könnte man es auch folgendermaßen aufbauen : B. Begründetheit I. EGL 1. Ingewahrsamnahme P: Grundsatz der
Polizeifestigkeit-> Rückgriff auf PolizeiR gesperrt , wenn es sich um eine Versammlung handelt und somit das VersG anwendbar ist. Fraglich , ob es sich um eine Versammlung handelt. a) Anwendbarkeit des VersG aa) Vorliegen einer Versammlung (+) bb) ZE: Grundsätzlich Damit Sperrwirkung, sodass es grundsätzlich vor dem Rückgriff auf das PolizeiR einer Auflösung bedurfte -> war nicht der Fall b) Ausnahme vom Grundsatz der
Polizeifestigkeit-> Sperrwirkung greift ausnahmsweise nicht, wenn Versammlung von Anfang an unfriedlich -> subsumieren und die Ausnahme bejahen c) ZE : Ingewahrsamnahme somit die EGL (weil Ausnahme eingreift )
CR7
19.8.2024, 10:04:43
Ich hätte es auch nicht anders gemacht als @[Patrick4219](231635). Man muss ja irgendwo zu einer Ermächtigungsgrundlage für die Einkesselung kommen. Hier ist es ja so, dass das VersG (bei uns ist es das § 15 SächsVersG) nicht die Rechtsfolge "Einkesselung" regelt. Daher passt es nicht ganz. Dann müsste man zu dieser Diskussion kommen mit der vom BVerwG hier erörterten Ausnahme, die eine Auflösung gerade nicht erfordert, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich ist.
CR7
19.8.2024, 10:05:49
@Jan Moritz, sorry, dein Kommentar wurde mir leider nur abgeschnitten angezeigt. Ich finde deinen Ansatz super gut! Ich würde es genau so machen, dann zeigt man der Korrektorin a), dass man das VersG verstanden hat und b), dass man die Sperrwirkung auch überwinden kann
Jan Moritz
20.8.2024, 12:23:12
Hey, vielen Dank für dein positives Feedback !
QuantumCookie
31.7.2024, 08:31:30
Liebes Jurafuchs-Team, auf einer der "Folien" steht, die FFK sei gem. § 113 I 4 VwGO begründet, *wenn* der VA rechtswidrig gewesen sei. Wäre es nicht sinnvoller, wie bei der AK, zu schreiben, die Klage ist begründet, *soweit* der VA rechtswidrig war? Liebe Grüße!
Linne_Karlotta_
2.8.2024, 14:18:43
Hallo @[QuantumCookie](242513), danke für Deine gute Frage! Beachte hier den Unterschied zwischen der gerichtlichen Entscheidung bei einer begründeten Anfechtungsklage und einer begründeten Fortsetzungs
feststellungsklage: Bei der Anfechtungsklage hebt das Gericht den angefochtenen (wirksamen) Verwaltungsakt auf, *soweit* dieser rechtswidrig ist. Es kann also sein, dass der Verwaltungsakt zu einem Teil bestehen bleibt (und die Klage damit nur teilweise begründet ist, was sich wiederrum auf die Kostenverteilung nach § 155 Abs. 1 VwGO auswirkt). Deswegen ist in dieser Konstellation die „soweit-Formulierung“ wichtig. Bei der Fortsetzungs
feststellungsklageliegt ja aber schon gar kein wirksamer Verwaltungsakt mehr vor. Das Gericht hebt damit auch nichts mehr (auch nicht teilweise) auf. Der Rechtsschutz ist nur darauf gerichtet, dass festgestellt wird, dass der ehemalig wirksame Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig war. Aus welchen Gründen und ob der Verwaltungsakt ganz oder nur teilweise rechtswidrig war, spielt hier keine Rolle. Die Formulierung des Obersatzes mit „wenn“ ist daher richtig und üblich (vgl. z.B. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17.A. 2019, RdNr. 1435; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 17.A. 2019, RdNr. 933) Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
CR7
19.8.2024, 10:09:21
Super aufgearbeitet, großes Lob! Das ist so eine Steilvorlage, das muss doch in den nächsten 1-2 Durchgängen kommen. :D
Wendelin Neubert
19.8.2024, 22:30:12
Vielen herzlichen Dank lieber @[CR7](145419)! Freut uns, dass die Bearbeitung auf so positives Echo stößt! Finde ich auch super, wie @[Linne_Karlotta_](243622) den Fall herausgearbeitet hat. Wir bleiben dran! Ganz liebe Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Gigachad1
29.8.2024, 23:40:54
Bei der Frage ,,muss die Polizei die Versammlung nach §15 auflösen um Teilnehmende in Gewahrsam zu nehmen?'' ist die richtige Antwort ja? Also kann in der gesamten Versammlung keiner festgenommen werden, bis die Versammlung aufgelöst wird? Kann doch nicht sein oder?