Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2024

Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)

Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die AfD hält ihren Parteitag in der Stadt S ab. Hunderte vermummte Personen errichten Blockaden nahe des Veranstaltungsorts. Sie zünden Pyrotechnik und tragen Transparente mit Aufschriften wie „Nationalismus ist keine Alternative“. Die Polizei kesselt – formell rechtmäßig – die Demonstrierenden ein und kündigt an, sie einzeln abzuführen. Die Protestierenden bleiben im Kessel, bis sie von den Beamten weggebracht werden.

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Einordnung des Falls

Eine von Anfang an unfriedliche Versammlung muss nicht aufgelöst werden, bevor die Polizei polizeirechtliche Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmer ergreift (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 - 6 C 1.22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 19 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Drei Monate später erhebt Teilnehmerin T Klage gegen das Vorgehen der Polizei. Richtet sich die statthafte Klageart nach dem Klagebegehren (vgl. § 88 VwGO)?

Ja!

Will die Klägerin gegen eine Maßnahme der Verwaltung vorgehen, so muss unterschieden werden: Wendet sich der Kläger gegen einen (vermeintlich) rechtswidrigen Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG), so kommt zunächst die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) in Betracht. Richtet sich die Klage dagegen gegen einen Realakt, so kommt die Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) in Betracht. Der zuvor zu prüfende Verwaltungsrechtsweg ist hier nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet. Insbesondere handelt es sich um eine präventive Maßnahme zur Gefahrenabwehr, sodass die Sonderzuweisung des § 23 EGGVG nicht einschlägig ist.
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2. T begehrt die Feststellung, dass die „Einkesselung“ rechtswidrig war. Könnte die Einkesselung ein reiner Realakt gewesen sein?

Genau, so ist das!

Bei der Prüfung der statthaften Klageart ist regelmäßig der Verwaltungsakt von einem Realakt abzugrenzen.In polizeirechtlichen Klausuren kommt diese Abgrenzung häufig und zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Hier kannst Du bereits einen tollen ersten Eindruck bei Deiner Korrektorin hinterlassen.Ein Verwaltungsakt ist eine (1) hoheitliche Maßnahme einer (2) Behörde zur (3) Regelung eines (4) Einzelfalls auf dem (5) Gebiet des öffentlichen Rechts mit (6) unmittelbarer Rechtswirkung nach außen (§ 35 S. 1 VwVfG). Dagegen fehlt bei Realakten die „Regelungswirkung“: Sie sind nicht auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet, sondern haben eine rein tatsächliche Wirkung. Problematisch an der Einordnung der „Einkesselung“ als Verwaltungsakt könnte das Merkmal der Regelung sein. Die durch die „Einkesselung“ umschlossenen Demonstranten wurden zunächst „nur“ durch physische Gewalt tatsächlich daran gehindert, ihren Aufenthaltsort zu verlassen. Im Originalfall geht der Kläger gegen eine Reihe von Maßnahmen der Polizei vor. Wir konzentrieren uns hier auf eine.

3. In der Ankündigung, die Demonstrierenden aus dem Kessel einzeln abzuführen liegt das Gebot, dass diese im Kessel verbleiben müssen.

Ja, in der Tat!

Bei polizeirechtlichen Maßnahmen stellt sich oft die Frage, ob diese – neben ihren offensichtlich tatsächlichen Wirkungen – auch eine Regelungswirkung i.S.e. Verwaltungsakts entfalten. Eine Regelung i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG liegt z.B. vor, wenn die handelnde Behörde dem Adressat ein Ge- oder Verbot auferlegt. Die Polizei hat die Teilnehmenden nicht nur tatsächlich eingekesselt, sondern auch das Gebot erteilt, bis zu ihrer Abführung in dem Kessel zu verbleiben. Die gesamte Maßnahme kann daher als einheitlicher Verwaltungsakt eingeordnet werden. So das BVerwG (RdNr. 20). Mit entsprechendem Verweis auf die vorrangig tatsächliche Wirkung der Maßnahme wäre hier auch vertretbar, einen Realakt anzunehmen. Auf die (veraltete) Ansicht, die im polizeilichen Handeln immer eine konkludente Duldungsverfügung (= Verwaltungsakt) sehen will, kommt es an dieser Stelle nicht an, da Du hier auf eine ausdrückliche Anordnung der Polizei abstellen kannst.

4. Die Maßnahme der Polizei war ein Verwaltungsakt. Ist deswegen die Feststellungsklage statthaft?

Nein!

Wendet sich der Kläger gegen einen (vermeintlich) rechtswidrigen Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG), so kommt zunächst die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) in Betracht. Hat sich der angegriffene Verwaltungsakt bereits erledigt, so ist die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) statthaft. Ein Verwaltungsakt hat sich erledigt, wenn dieser nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen, insbesondere wenn die von ihm ausgehende tatsächliche oder rechtliche Beschwer nachträglich entfällt. Dies kann z.B. durch Zeitablauf eintreten (vgl. § 43 Abs. 2 VwVfG). Der Kessel wurde aufgelöst, T ist mittlerweile wieder „frei“. Die Anordnung, in dem Kessel zu verbleiben, entfaltet mittlerweile keine Rechtswirkung mehr und hat sich damit erledigt. Weil sich der Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung erledigt hat, ist die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO statthaft. Die verschiedenen Varianten der Klage kannst Du Dir hier anschauen. Nimmst Du eine rein tatsächliche Wirkung der Einkesselung an, so musst Du die Statthaftigkeit der Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) bejahen.

5. T ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). T klagt aber erst drei Monate später. Scheitert die Zulässigkeit der Klage an der Klagefrist aus § 74 VwGO?

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage kommt es i.S.d. subjektiven Rechtsschutzes auf eine mögliche Rechtsverletzung der Klägerin an (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Hat sich der Verwaltungsakt vor Ablauf der Klagefrist aus § 74 VwGO erledigt, entfaltet dieser keine Wirkung mehr. Er kann daher auch nicht bestandskräftig werden. Die Klägerin kann daher grundsätzlich zeitlich unbegrenzt die Fortsetzungsfeststellungsklage erheben. T könnte dadurch, dass sie eingekesselt und abgeführt wurde, in ihrem Recht aus Art. 8 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Abs. 2 GG und hilfsweise aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt sein. Es ist unschädlich, dass sie erst drei Monate später Klage erhoben hat. Auch das nach § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO vor der Anfechtungsklage erforderliche Vorverfahren ist entbehrlich, sofern die Erledigung vor Ablauf der Widerspruchsfrist eintritt (str.). Denn ein zentraler Zweck des Vorverfahrens – die Selbstkontrolle der Verwaltung – entfällt im Falle der Erledigung.

6. Die Fortsetzungsfeststellungsklage kann nur dann zulässig sein, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse besteht. Hat T ein solches Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme?

Ja, in der Tat!

Weil die Fortsetzungsfeststellungsklage eine Ausnahme davon macht, dass der Rechtsschutz grundsätzlich eine gegenwärtige Beschwer der Klägerin voraussetzt, soll sie nur zulässig sein, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung hat. Ein berechtigtes Interesse besteht vor allem in den folgende Fallgruppen: (1) bei Wiederholungsgefahr, (2) bei Rehabilitationsinteresse, (3) bei der Vorbereitung eines Amtshaftungs- und Entschädigungsprozesses (sog. Präjudizinteresse) sowie (4) bei sich typischerweise schnell erledigenden, schwerwiegenden Grundrechtseingriffen. Die Einkesselung während einer Demonstration ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte der Demonstrierenden, welcher sich auch typischerweise schnell erledigt. T muss daher effektiver Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) dadurch gewährt werden, dass sie die Rechtswidrigkeit der Maßnahme später feststellen lassen kann. Denkbar wäre auch eine Wiederholungsgefahr. Dafür müsste es aber bereits konkrete Anhaltspunkte geben, dass T zeitnah wieder an einer ähnlichen Veranstaltung teilnehmen könnte. Dazu bietet der Sachverhalt zu wenig Anhaltspunkte.

7. Ts zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, wenn die Einkesselung zur Abführung der Teilnehmen rechtswidrig war und T dadurch in ihren Rechten verletzte (§ 113 Abs. 1 S. 1, S. 4 VwGO).

Ja!

In der Anfechtungssituation ist die Fortsetzungsfeststellungsklage begründet, wenn der (erledigte) Verwaltungsakt rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzte. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO nennt die erforderliche subjektive Rechtsverletzung nicht. Sie muss aber dennoch vorliegen, weil die Fortsetzungsfeststellungsklage die ursprünglich statthafte Anfechtungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) ersetzt. Aufgaben zur Begründetheit der Fortsetzungsfeststellungklage findest Du hier.

8. Zunächst müsste die Maßnahme der Polizei aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen sein.

Genau, so ist das!

Im Rahmen der Begründetheit der Fortsetzungsfeststellungsklage kommt es zunächst darauf an, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig war. Ein Verwaltungsakt ist rechtmäßig, wenn er (1) aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage ergangen ist und (2) formell sowie (3) materiell rechtmäßig ist. BVerwG: Die Einkesselung mit dem Ziel, die Demonstrierenden abzuführen, erging auf der Grundlage einer polizeirechtlichen Ingewahrsamnahme (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW). Bei einer polizeilichen Maßnahme solltest Du immer zunächst nach einer passenden, spezielle Standardmaßnahme suchen, bevor Du auf die Generalklausel des jeweiligen Landesrechts zurückgreifst.

9. Das Versammlungsrecht entfaltet eine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des Polizeirechts (sog. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts.

Ja, in der Tat!

Das Versammlungsrecht dient als besonderes Ordnungsrecht zumindest auch der Gefahrenabwehr. Weil das Versammlungsrecht – wegen der hohen Bedeutung des Art. 8 Abs. 1 GG – den Teilnehmenden einer Versammlung höheren Schutz bietet, ist es vorrangig vor dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht anzuwenden. Voraussetzung dafür ist, dass es sich (1) um eine Versammlung handelt und das Versammlungsrecht für den konkreten Sachverhalt (2) eine abschließende Regelung enthält. Das Versammlungsrecht ergibt sich vorrangig aus den jeweiligen landesrechtlichen Versammlungsgesetzen (z.B. VersFG Berlin). In einigen Bundesländer – so auch in Baden-Württemberg, wo der Originalfall spielte – gilt aber das VersG des Bundes über Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG fort.

10. Die Blockade des Parteitags müsste zunächst eine Versammlung (Art. 8 Abs. 1 GG) gewesen sein.

Ja!

Das BVerfG definiert die Versammlung als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Hiervon abzugrenzen sind sog. reine Verhinderungsblockaden (vgl. BVerfGE 104, 92). BVerfG: Für die Abgrenzung einer demonstrativen Blockade von einer Verhinderungsblockade komme es maßgeblich darauf an, ob die jeweilige Personengruppe sich nach dem anhand der objektiven Umstände zu ermittelnden Gesamtgepräge im Kern kommunikativer Mittel bediene und nicht ausschließlich bezwecke, die Veranstaltung, gegen die sie sich richte, mit physischen Mitteln zu verhindern.

11. Weil es den Teilnehmenden zumindest auch auf die Blockade des AfD-Parteitags ankam, lag eine reine Verhinderungsblockade vor.

Nein, das ist nicht der Fall!

Aufgrund der hohen Bedeutung des Schutzgutes der Versammlungsfreiheit ist der Anwendungsbereich der Rechtsfigur der Verhinderungsblockade sehr eingeschränkt. Sobald eine Veranstaltung auch Elemente der kommunikativen öffentlichen Meinungsbildung enthält, handelt es sich um eine Versammlung und nicht nur um eine reine Verhinderungsblockade. Diese kann nur angenommen werden, wenn die kommunikativen Mittel offensichtlich nur als Vorwand eingesetzt würden. BVerwG: Die Veranstaltung enthielt – z.B. durch die mitgeführten Transparente – auch Elemente der öffentlichen Meinungsbildung. Es handelte sich um eine Versammlung. Der VGH Mannheim hatte in seiner vorangehenden Entscheidung – genau umgekehrt – von den Blockade-Elementen auf eine Verhinderungsblockade geschlossen. Damit hat er laut BVerwG „den Versammlungsbegriff des Art. 8 Abs. 1 GG verkannt“ (RdNr. 44). Wir haben die vorangehende Entscheidung des VGH ebenfalls ausgearbeitet und nach dieser Entscheidung des BVerwG neu eingeordnet. Wir haben sie aber auf unserer Lernplattform belassen, weil dort noch andere Aspekte geprüft wurden, die wir hier aus Darstellungsgründen ausgespart haben. Du findest die Entscheidung des VGH hier.

12. Die Blockade war eine Versammlung. Muss die Polizei Versammlungen grundsätzlich erst nach § 15 Abs. 3 VersG auflösen, bevor sie Teilnehmende in Gewahrsam nehmen kann?

Ja, in der Tat!

Ist der Anwendungsbereich des Versammlungsrechts eröffnet, findet dies vorrangig Anwendung. Relevant ist vor allem § 15 VersG. Diese Norm enthält die Vorgaben für die Erteilung von Auflagen sowie Verbote einer Versammlung vor Beginn der Versammlung (§ 15 Abs. 1, Abs. 2 VersG). § 15 Abs. 3 VersG enthält die Voraussetzungen für die Auflösung einer bereits begonnenen Versammlung. Die Polizei muss eine Versammlung zunächst auflösen, also „offiziell beenden“. Erst, wenn sich Teilnehmende der Auflösung widersetzen, kann die Polizei auf weitergehende (Zwangs)Maßnahmen der Polizeirechts zurückgreifen (vgl. RdNr. 35f.) Die Auflösungsverfügung soll den Teilnehmenden klar machen, dass mit ihrem rechtmäßigen Erlass der Grundrechtsschutz aus Art. 8 GG entfällt. Sie ist also eine Art „Warnung“, bevor polizeirechtliche Maßnahmen – wie z.B. ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme – ergehen.

13. Art. 8 Abs. 1 GG gilt nur für friedliche Versammlungen. Findet das VersG deswegen ebenfalls von vornherein keine Anwendung auf unfriedliche Versammlungen?

Nein!

Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Normen des VersG sollen aber gerade auch die Einschränkung von unfriedlichen Versammlungen ermöglichen. In der (bisherigen) Rechtssprechung hatte das VersG daher auch in den Fällen Vorrang vor den landesrechtlichen Polizeigesetzen, wenn die Versammlung unfriedlich war. Insbesondere musste auch hier der Auflösungsvorbehalt des § 15 Abs. 3 VersG beachtet werden. So auch der VGH in der vorangegangenen Entscheidung, unter anderem mit Verweis auf eine frühere Entscheidung des BVerwG (BVerwG, 14.01.1987 - 1 B 219.86).

14. Nach der „neueren“ Rechtsprechung des BVerwG findet der Auflösungsvorbehalt § 15 Abs. 3 VersG jedenfalls dann keine Anwendung, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich war.

Genau, so ist das!

Die Auflösung der Versammlung (§ 15 Abs. 3 VersG) soll vor allem die Teilnehmenden warnen, dass ihre Versammlung nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts genießt. BVerwG: Diese Warnung sei gerade nicht nötig, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich war. In diesem Fall müssten die Teilnehmenden sowieso davon ausgehen, dass sie nicht den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG genießen. Dem Gesetzgeber könne deshalb „nicht unterstellt werden, er habe darauf bestanden, dass die Polizei eine […] von Beginn an kollektiv unfriedliche Versammlung vor der Anwendung polizeilicher Befugnisnormen erst noch aufzulösen hat“ (RdNr. 67).

15. Eine Versammlung kann nach Ansicht des BVerwG nur dann als unfriedlich eingestuft werden, wenn es bereits zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Versammlung ist erst als unfriedlich zu charakterisieren, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden. BVerwG: Die „Unfriedlichkeit der Versammlung“ setze nicht voraus, „dass es schon zu Gewalttätigkeiten in dem genannten Sinne gekommen ist“. Es reiche vielmehr aus, wenn diese nach einer auf belastbare Feststellungen gestützten Prognose unmittelbar bevorstehe. Dass das BVerwG die reine Prognose der Ausschreitungen ausreichen lässt, um die Versammlung als von Anfang an (!) unfriedlich einzustufen, kann man im Hinblick auf das Schutzgut aus Art. 8 Abs. 1 GG durchaus kritisch sehen.

16. Das BVerwG hat die Versammlung als von Anfang an unfriedlich eingestuft, weil „850 - 1000 gewaltbereite Menschen (...)“ und Ausschreitungen zu erwarten waren. Bedurfte es daher noch einer Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG vor der Ingewahrsamnahme?

Nein!

BVerwG: Der Auflösungsvorbehalt aus § 15 Abs. 3 VersG greife jedenfalls dann nicht, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich war. Dabei käme es nicht darauf an, dass es von Anfang an Ausschreitungen gab, sondern es müsse sich vielmehr um ein einheitliches Geschehen gehandelt haben, welches von Anfang an auf Ausschreitungen ausgerichtet war. BVerwG: Nach den Feststellungen des VGH, habe es sich bei den Teilnehmenden um „850 bis 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum“ gehandelt, die kollektiv in Reisebussen anreisten und sich gemeinsam auf den Weg zum Veranstaltungsort begaben, Blockaden errichteten und Pyrotechnik zündeten. Der VGH habe von diesem Sachverhalt rechtsfehlerfrei auf ein einheitliches, von Anfang an unfriedliches Geschehen geschlossen (RdNr. 58f.). Diese Einschränkung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts erscheint problematisch. In tatsächlicher Hinsicht ist unklar, welche Anforderungen an die Prognose der von Anfang an bestehenden Unfriedlichkeit der Versammlung zu stellen sind. In rechtlicher Hinsicht dürfte damit eine Verkürzung des Schutzes der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG einhergehen.

17. Die Ingewahrsamnahme war formell rechtmäßig. Müsste sie auch materiell rechtmäßig gewesen sein?

Genau, so ist das!

Ein Verwaltungsakt ist materiell rechtmäßig, wenn der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage vorliegt und die Behörde die richtige Rechtsfolge gewählt hat. Der Tatbestand von § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW setzt voraus, dass eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit auf andere Weise nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit beinhaltet (1) die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung (2) den Schutz subjektiver Rechte und Rechtsgüter Einzelner sowie (3) den Bestand des Staates und der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Träger der Hoheitsgewalt. BVerwG: Durch die Blockade des Zugangs zum Parteitag habe eine Verwirklichung der Straftatbestände des § 21 VersG und der §§ 240 Abs. 1, 224 und 125 Abs. 1 StGB und damit eine Verletzung der Rechtsordnung im Raum gestanden. Der Tatbestand von § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW lag damit vor. Im Urteil wird auf § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a.F. abgestellt. Dort war die Ingewahrsamnahme zu dem Zeitpunkt geregelt, als die Einkesselung stattfand. Die Norm hat sich inhaltlich nicht verändert. In den Polizeigesetzen der meisten Bundesländer ist die Gewahrsamnahme unter vergleichbaren Voraussetzungen möglich (z.B. §§ 30 Abs. 1 Nr. 2 ASOG, 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW, Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG).

18. Auf Rechtsfolgenseite muss die Polizei die Maßnahme zunächst gegen den richtigen Störer gerichtet haben. Durfte die Polizei T als Störer in Gewahrsam nehmen?

Ja, in der Tat!

Eine gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme muss sich grundsätzlich gegen denjenigen richten, der für die Gefahr verantwortlich ist (= Störer). Wer Störer sein kann, ergibt sich aus dem jeweiligen Landesrecht. Nach § 6 Abs. 1 PolG BW ist die Maßnahme vorrangig gegen denjenigen zu richten, der die Störung kausal verursacht (= Verhaltensstörer) BVerwG: T habe jedenfalls in zurechenbarer Weise den Anschein erweckt, Verhaltensstörer im Sinne des § 6 PolG BW zu sein. Dies sei durch seine Anwesenheit in der Personengruppe der Versammlung und durch sein Auftreten geschehen, welches T jedenfalls nicht offensichtlich von den übrigen in polizeilichen Gewahrsam genommenen Personen unterschieden habe. Die Polizei habe T ermessensfehlerfrei als Störer bewertet. Die Problematik eines sog. „Anscheinsstörers“ ist nicht gleichzusetzen mit der Thematik der Anscheinsgefahr. Bei der Anscheinsgefahr nimmt die Polizei in ex ante vertretbarer Weise eine Gefahr an, die sich aus der ex post Betrachtung als nicht gegeben erweist; der Verantwortliche für diese (Anscheins)Gefahr steht hingegen fest. Erweckt hingegen jemand (wie hier) den Anschein, Störer einer tatsächlich vorhandenen Gefahr zu sein, stellt sich die Frage, ob dem Anscheinsstörer zugerechnet werden kann, den Anschein seiner Verantwortlichkeit für die bestehende Gefahr erweckt zu haben.

19. Die konkrete Ingewahrsamnahme müsste auch ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig, gewesen sein.

Ja!

Neben der richtigen Störerwahl muss der Verwaltungsakt in seiner konkreten Form ermessensfehlerfrei gewesen sein (§ 40 VwVfG). Relevant ist vor allem, ob ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (= Ermessensüberschreitung) vorliegt. BVerwG: Die Ingewahrsamnahme sei erforderlich gewesen, weil mildere Mittel zur Gefahrenabwehr nicht existiert hätten. Angesichts des Ausmaßes der bereits eingetretenen Störungen und der zu erwartenden Gefährdungen von gewichtigen Rechtsgütern sei sie auch angemessen gewesen. Die Maßnahme war daher insgesamt rechtmäßig. Ts Klage ist unbegründet. Im Originalfall wurde eine Vielzahl von polizeilichen Maßnahmen durchgeführt und vor Gericht angegriffen. Einige wurden bereits vom VG und vom VGH für rechtswidrig erklärt, andere erst vom BVerwG. Rechtlich im Vordergrund stand hier jedoch die Frage, ob und warum die Polizei hier mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts gegen die „eingekesselten“ Teilnehmenden der Versammlung vorgehen durften. Die Entscheidung eignet sich hervorragend für eine Examensklausur, weil sie grundlegende Rechtsfragen – den Versammlungsbegriff (Stichwort „Verhinderungsblockade“) und die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts – behandelt und viel Raum für gute Argumentation bietet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Julia

Julia

23.7.2024, 11:17:45

Ich finde die Einordnung der Versammlung als "von Anfang an unfriedlich" zumindest nicht ganz selbstverständlich. Wurde diese allein auf das Zünden von Pyrotechnik gestützt? Oder gar darauf, dass die Teilnehmer:innen "linksradikal" waren?

JUDI

judith

23.7.2024, 12:45:20

In der Falllösung sind die gewonnenen Erkenntnisse der Polizei vor Ort, welche die Unfriedlichkeit begründen sehr verkürzt dargestellt. Im Urteil unter findest Du diese nochmal ausführlicher aufgelistet. Es wurden 850 – 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum erwartet. Es war zu erwarten, dass diese Personen - Zufahrtswege zur Messe als dem Veranstaltungsort des AfD-Bundesparteitags blockieren - Infrastruktur an der Messe zerstören - Inbrandsetzen von Kraftfahrzeugen und Ladengeschäften und ähnliche schwere Ausschreitungen

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

24.7.2024, 08:47:07

Hallo in die Runde, danke für Eure Anmerkungen. Es ist so, wie Judith sagt. Ich habe die entsprechende Frage noch etwas mit Sachverhaltsinformationen angereichert, damit das deutlicher wird. Man kann es hier aber durchaus kritisch sehen, dass diese (m.E. sehr unspezifische) Prognose ausreicht, um die Versammlung als von Anfang an unfriedlich einzustufen. Das BVerwG stellt zwar ausdrücklich klar, dass es für diese Einordnung nicht bereits zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sein muss, sondern eben eine solche Prognose ausreicht (RdNr. 57). Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG könnte man hier aber zumindest dafür argumentieren, dass es für die Prognose noch konkretere Anhaltspunkte gebraucht hätte. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team

JAM

Jan Moritz

25.7.2024, 10:46:43

Hey, an welcher Stelle im Gutachten müsste man das Problem mit der

Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts

erörtern ? Grundsätzlich ist es ja so, dass bei dem Vorliegen einer Versammlung und der damit verbundenen Anwendbarkeit des Versammlungsrechts ein Rückgriff auf das Polizeirecht gesperrt ist, um die Versammlungsteilnehmer vor unverhältnismäßigen Eingriffen ihrer Versammlungsfreiheit zu schützen. (zumindest auf Tatbestandsebene) Hab ich das richtig verstanden , dass die Sperrwirkung allerdings dann nicht eingreift, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich gewesen ist und somit bereits auf Tatbestandsebene die Anwendung des Polizeirechts nicht gesperrt ist? Müsste man also zunächst im Gutachten bereits beim Prüfungspunkt „Ermächtigungsgrundlage“ zunächst darstellen , dass bei Vorliegen einer Versammlung grundsätzlich das Versammlungsrecht anwendbar ist und somit der Rückgriff auf das PolizeiR gesperrt ist . Dann allerdings sagen , dass es einer Versammlungsauflösung nicht bedarf , wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich gewesen ist und somit der Rückgriff auf die

Ermächtigungsgrundlagen

des Polizeirechts zulässig ist und infolgedessen auf die Ingewahrsamnahme abstellen als EGL? Bei der VHMK würde ich dann darauf abstellen , dass sich die Versammlungsteilnehmer nicht auf Art 8 GG Berufen können, weil bereits der Schutzbereich nicht eröffnet ist ? Kann auch sein, dass ich es falsch verstanden habe. Daher die Nachrage. Beste Grüße !

PAT

Patrick4219

31.7.2024, 10:23:58

Hallo @[Jan Moritz](201057) , ich würde es genauso machen wie du und die Diskussion komplett unter dem Prüfungspunkt "Ermächtigungsgrundlage" darstellen. Schematisch etwa so: A. Begründetheit der FFK I. EGL 1. VersG a) Grundsatz = Sperrwirkung b) Ausnahme aa) Auflösung bb) Nichterforderlichkeit der Auflösung wegen anfänglicher Unfriedlichkeit c) Ergebnis = Polizeirecht anwendbar . . .

JAM

Jan Moritz

31.7.2024, 11:07:12

Alles klar ! Vielen Dank !

JAM

Jan Moritz

31.7.2024, 14:36:51

Könnte man es auch folgendermaßen aufbauen : B. Begründetheit I. EGL 1. Ingewahrsamnahme P: Grundsatz der

Polizeifestigkeit

-> Rückgriff auf PolizeiR gesperrt , wenn es sich um eine Versammlung handelt und somit das VersG anwendbar ist. Fraglich , ob es sich um eine Versammlung handelt. a) Anwendbarkeit des VersG aa) Vorliegen einer Versammlung (+) bb) ZE: Grundsätzlich Damit Sperrwirkung, sodass es grundsätzlich vor dem Rückgriff auf das PolizeiR einer Auflösung bedurfte -> war nicht der Fall b) Ausnahme vom Grundsatz der

Polizeifestigkeit

-> Sperrwirkung greift ausnahmsweise nicht, wenn Versammlung von Anfang an unfriedlich -> subsumieren und die Ausnahme bejahen c) ZE : Ingewahrsamnahme somit die EGL (weil Ausnahme eingreift )

CR7

CR7

19.8.2024, 10:04:43

Ich hätte es auch nicht anders gemacht als @[Patrick4219](231635). Man muss ja irgendwo zu einer Ermächtigungsgrundlage für die Einkesselung kommen. Hier ist es ja so, dass das VersG (bei uns ist es das § 15 SächsVersG) nicht die Rechtsfolge "Einkesselung" regelt. Daher passt es nicht ganz. Dann müsste man zu dieser Diskussion kommen mit der vom BVerwG hier erörterten Ausnahme, die eine Auflösung gerade nicht erfordert, wenn die Versammlung von Anfang an unfriedlich ist.

CR7

CR7

19.8.2024, 10:05:49

@Jan Moritz, sorry, dein Kommentar wurde mir leider nur abgeschnitten angezeigt. Ich finde deinen Ansatz super gut! Ich würde es genau so machen, dann zeigt man der Korrektorin a), dass man das VersG verstanden hat und b), dass man die Sperrwirkung auch überwinden kann

JAM

Jan Moritz

20.8.2024, 12:23:12

Hey, vielen Dank für dein positives Feedback !

QUAN

QuantumCookie

31.7.2024, 08:31:30

Liebes Jurafuchs-Team, auf einer der "Folien" steht, die FFK sei gem. § 113 I 4 VwGO begründet, *wenn* der VA rechtswidrig gewesen sei. Wäre es nicht sinnvoller, wie bei der AK, zu schreiben, die Klage ist begründet, *soweit* der VA rechtswidrig war? Liebe Grüße!

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

2.8.2024, 14:18:43

Hallo @[QuantumCookie](242513), danke für Deine gute Frage! Beachte hier den Unterschied zwischen der gerichtlichen Entscheidung bei einer begründeten Anfechtungsklage und einer begründeten Fortsetzungs

feststellungsklage

: Bei der Anfechtungsklage hebt das Gericht den angefochtenen (wirksamen) Verwaltungsakt auf, *soweit* dieser rechtswidrig ist. Es kann also sein, dass der Verwaltungsakt zu einem Teil bestehen bleibt (und die Klage damit nur teilweise begründet ist, was sich wiederrum auf die Kostenverteilung nach § 155 Abs. 1 VwGO auswirkt). Deswegen ist in dieser Konstellation die „soweit-Formulierung“ wichtig. Bei der Fortsetzungs

feststellungsklage

liegt ja aber schon gar kein wirksamer Verwaltungsakt mehr vor. Das Gericht hebt damit auch nichts mehr (auch nicht teilweise) auf. Der Rechtsschutz ist nur darauf gerichtet, dass festgestellt wird, dass der ehemalig wirksame Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig war. Aus welchen Gründen und ob der Verwaltungsakt ganz oder nur teilweise rechtswidrig war, spielt hier keine Rolle. Die Formulierung des Obersatzes mit „wenn“ ist daher richtig und üblich (vgl. z.B. Detterbeck, Allgemeines

Verwaltungsrecht

, 17.A. 2019, RdNr. 1435; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 17.A. 2019, RdNr. 933) Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

19.8.2024, 10:09:21

Super aufgearbeitet, großes Lob! Das ist so eine Steilvorlage, das muss doch in den nächsten 1-2 Durchgängen kommen. :D

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

19.8.2024, 22:30:12

Vielen herzlichen Dank lieber @[CR7](145419)! Freut uns, dass die Bearbeitung auf so positives Echo stößt! Finde ich auch super, wie @[Linne_Karlotta_](243622) den Fall herausgearbeitet hat. Wir bleiben dran! Ganz liebe Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Gigachad1

Gigachad1

29.8.2024, 23:40:54

Bei der Frage ,,muss die Polizei die Versammlung nach §15 auflösen um Teilnehmende in Gewahrsam zu nehmen?'' ist die richtige Antwort ja? Also kann in der gesamten Versammlung keiner festgenommen werden, bis die Versammlung aufgelöst wird? Kann doch nicht sein oder?

JES

jess11O

7.9.2024, 22:18:23

Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht zielte die Frage auf alle Teilnehmer ab? Weil die Ingewahrsamnahme hier ja als Mittel der Auflösung eingesetzt wurde.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

13.9.2024, 14:51:34

Hallo in die Runde, danke für die Nachfrage. Mit der Fallfrage haben wir auf die grundsätzliche

Polizeifestigkeit

des Versammlungsrecht Bezug genommen. Wegen der Sperrwirkung des Versammlungsrecht darf die Polizei grundsätzlich nicht auf

Ermächtigungsgrundlagen

aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht zurück greifen, solange die Versammlung als solche besteht. Diese Sperrwirkung entfällt dann, wenn die Polizei die Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG auflöst. Dies erfüllt eine gewissen Warnfunktion: Die Polizei weist die Teilnehmenden darauf hin, dass ihre Zusammenkunft nicht länger den Schutz der Versammlungsfreiheit genießt. Die „Auflösung“ ist aber nicht so zu verstehen, dass die Polizei die Versammlung in „tatsächlicher“ Hinsicht beendet. Da der (mündliche) Erlass einer Auflösungsverfügung nicht besonders aufwendig ist, ist es also (aus gefahrenabwehrrechtlicher Sicht) durchaus hinzunehmen, dass bis zur Auflösung kein*e Teilnehmer*in in Gewahrsam genommen wird. Erst nach der Auflösung können Maßnahmen aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht ergriffen werden, hier z.B. die Ingewahrsamnahme. (Bitte denkt dran, dass es in dieser Aufgabe nur um den polizeirechtlichen Gewahrsam (präventiv) und nicht um eine Festnahme i.S.d. Strafverfolgung (repressiv) geht.) In dem Urteil wird von dem geschilderten grundsätzlichen Auflösungsvorbehalt für von Anfang an unfriedliche Versammlungen eine Ausnahme gebildet. Das kann man u.a. mit Blick auf die o.g. Warnfunktion und die Bedeutung des VersR kritisch sehen. Ich hoffe, ich konnte Eure Frage beantworten. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

13.9.2024, 15:08:54

Nachtrag: Eine aktuelle Fallbearbeitung mit einer anschaulichen Darstellung des § 15 Abs. 3 VersG findet ihr hier: Hahne, NVwZ 2023, 1793

HockHex

HockHex

23.9.2024, 22:07:32

Ich glaube die Frage zielte eher darauf ab, ob z.B. in einer laufenden Versammlung jemand, der stört (etwa eine Swastika Flaggen trägt o.Ä.) in Gewahrsam genommen werden kann. Das geht vor der Auflösung - wie die Antwort auf die in Bezug genommene Frage richtigerweise sagt - soweit ich das verstehe nicht. Ich denke aber, dass die Polizei z.B. gem 18 Abs. 3 VersG jemanden bei so einer gröblichen Ordnungsstörung von der Versammlung ausschließen kann und dann entfällt auch die

Polizeifestigkeit

, weil der*diejenige nicht mehr Teil der Versammlung ist und kann somit in Gewahrsam genommen werden?

JHMA

JHMaster124

15.10.2024, 20:00:21

Kam heute in Niedersachsen im Assessorexamen als Behörden-Wahlklausur. Der Sachverhalt war insofern abgewandelt, als es sich um einen Platzverweis handelte, dessentwegen sich die Klägerin nicht zu einer im Sterben liegenden Freundin im Platzverweis-Radius begeben konnte und dafür Gerechtigkeit wollte (wo auch immer das hinsollte, hab ich nur beim FFI angesprochen). Ansonsten gleicher Sachverhalt. Zusatzfrage der Behördenleitung: 100 der 250 eingesetzten Polizisten haben bei dem Einsatz verschlafen; wie können wir erreichen, den Verwaltungsvorgang nicht im Verfahren vor den VG offenlegen zu müssen? Es könnten Nachteile für das Land Niedersachsen drohen (wohl § 99 VwGO).

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

17.10.2024, 17:41:06

Hallo JHMaster124, vielen Dank für Deinen Hinweis! Es ist großartig zu hören, dass einer unserer Fälle tatsächlich im Examen dran kam. Wir haben diese Information notiert und werden sie in unserer App entsprechend kennzeichnen, um die Examensrelevanz für die Community sichtbar zu machen. Deine Rückmeldung hilft uns, die Vorbereitung für alle Nutzer zielgerichteter zu gestalten und die Qualität unserer Inhalte stetig zu verbessern. Wir werden diesen Thread als erledigt markieren, sobald die Kennzeichnung in der App sichtbar ist. Beste Grüße, Linne_Karlotta_, für das Jurafuchs-Team


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