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Jurastudent will „Sekretärin“ werden - AGG-Hopping 2.0

Jurastudent will „Sekretärin“ werden - AGG-Hopping 2.0

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Kfz-Meisterin M schreibt eine Vollzeitstelle für eine „Sekretärin“ aus. Jurastudent J bewirbt sich ohne ernsthafte Absicht darauf, um an Geld zu kommen. Wie geplant, stellt M stattdessen eine Frau ein und lehnt Js Bewerbung ab. J verlangt nun Entschädigung wegen Geschlechterdiskriminierung.

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Einordnung des Falls

Jurastudent will „Sekretärin“ werden - AGG-Hopping 2.0

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Im Zivilrecht steht es Parteien im Grundsatz frei, ob und mit wem sie Verträge abschließen.

Ja!

Die Vertragsfreiheit ist ein zentrales Prinzip des Zivilrechts. Ausfluss der Vertragsfreiheit ist die sogenannte Abschlussfreiheit. Diese erlaubt es jeder Partei grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, ob und mit wem sie einen Vertrag schließen will.Eine Ausnahme hiervon besteht zB im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, wo ein Abschlusszwang besteht, wenn eine Vertragspartei eine rechtliche oder faktische Monopolstellung innehat. Primär geht es hierbei um die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit essentiellen Gütern und Dienstleistung (zB Energie, Beförderung...).
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2. Wird Ms Vertragsfreiheit unmittelbar durch den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG beschränkt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Grundrechte gebunden. Grundrechte sind ihrem Sinn und Zweck primär Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Die Auffassung, dass Grundrechte über Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 3 GG hinaus unmittelbar zwischen Bürgern wirken (unmittelbare Drittwirkung), wird von BVerfG und ganz hM zu Recht abgelehnt. Bei M handelt es sich um eine private Arbeitgeberin, sodass sie nicht unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden ist.In einem bestehenden Arbeitsverhältnis gilt dagegen zumindest der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, der teilweise aus Art. 3 Abs. 1 GG, teilweise aus § 242 BGB oder der „Fürsorgepflicht“ des Arbeitgebers abgeleitet wird.

3. Allerdings muss M hier im Bewerbungsverfahren die Anforderungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) beachten.

Ja, in der Tat!

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist im August 2006 in Kraft getreten und verbietet Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität sowie rassistische Diskriminierungen (§ 1 AGG). Das Gesetz dient dabei der Umsetzung mehrerer europäischer Gleichbehandlungsrichtlinien.Die Anwendung des AGG setzt voraus, dass der sachliche (§ 2 AGG) und persönliche (§ 6 AGG) Anwendungsbereich eröffnet sind.Als Bewerber zählt J als Beschäftigter im Sinne des AGG (§ 6 Abs. 1 S. 2 Var. 1 AGG) und M ist Arbeitgeberin iSd § 6 Abs. 2 S. 1 AGG. Beide fallen somit in den persönlichen Anwendungsbereich. Das AGG findet sachlich auch Anwendung auf den Zugang zu unselbstständiger Arbeit, also Bewerbungsverfahren (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG).

4. Steht J ein Anspruch auf Einstellung zu, wenn seine Ablehnung einen Verstoß gegen das im AGG geregelte Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 AGG) darstellt?

Nein!

Liegt ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 AGG) vor, hat der Arbeitgeber den aus der Benachteiligung entstandenen Schaden zu ersetzen (§ 15 Abs. 1 AGG). Explizit ausgeschlossen im Gesetz ist dabei die Verpflichtung ein Beschäftigungsverhältnis zu begründen (§ 15 Abs. 6 AGG). In Betracht kommt also zunächst ein Schadensersatz in Geld (§ 15 Abs. 1 AGG). Dieser setzt allerdings den Nachweis voraus, dass der Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl auch tatsächlich eingestellt worden wäre. Nur dann liegt infolge der Diskriminierung auch ein materieller Schaden vor. Daneben kommt zudem auch ein Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Diskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG in Betracht (eine Art „Schmerzensgeld“).Aufgrund der geringeren Anforderungen spielt der Entschädigungsanspruch in der Praxis eine weitaus größere Rolle, als der materielle Schadensersatzanspruch aus § 15 Abs. 1 AGG.

5. J wäre mangels Qualifikation auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden. Könnte ihm aufgrund der unterbliebenen Anstellung gegen M trotzdem ein Anspruch auf Entschädigung aus § 15 Abs. 2 AGG zustehen?

Genau, so ist das!

Anders als für den Schadensersatzanspruch (§ 15 Abs. 1 AGG) bedarf es für den Entschädigungsanspruch keines materiellen Schadens. Allein die erlittene Diskriminierung begründet einen immateriellen Schaden. Der Entschädigungsanspruch aus § 15 Abs. 2 AGG setzt voraus: I. Anwendbarkeit des AGG II. Verstoß gegen Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 AGG) III. Rechtzeitige schriftliche Geltendmachung (§ 15 Abs. 4 AGG) IV. Kein Ausschluss (§ 242 BGB) V. Rechtsfolge: Entschädigung (§ 15 Abs. 2 AGG)Für die diskriminierende Nichteinstellung hat der Gesetzgeber eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern als Entschädigung („Kappungsgrenze“) normiert (§ 15 Abs. 2 S. 2 AGG).

6. Wenn M den J nicht eingestellt hat, weil er ein Mann ist, liegt darin eine unmittelbare Benachteiligung wegen seines Geschlechts (§ 3 Abs. 1, 1 Abs. 1 AGG).

Ja, in der Tat!

Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte wegen eines pönalisierten Merkmals (§ 1 AGG) weder unmittelbar (§ 3 Abs. 1 AGG) noch mittelbar (§ 3 Abs. 2 AGG) benachteiligt werden. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn aufgrund eines pönalisierten Merkmals eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation (§ 3 Abs. 1 AGG).Das Geschlecht stellt ein grundsätzlich unzulässiges Differenzierungsmerkmal dar. Sollte J allein wegen seines Geschlechts nicht eingestellt worden sein, so liegt darin eine unmittelbare Benachteiligung.

7. Die Benachteiligung ist aber gerechtfertigt (§§ 8 ff. AGG), sodass kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vorliegt (§ 7 Abs. 1 AGG).

Nein!

Das AGG sieht eine Reihe von Rechtfertigungsmöglichkeiten vor, zB bei mittelbaren Benachteiligungen (§ 3 Abs. 2 Hs. 2 AGG) bei Benachteiligungen wegen der Religion/Weltanschauung (§ 9 AGG) oder des Alters (§ 10 AGG). Im Übrigen kommt eine Rechtfertigung nur in Betracht, wenn der Grund für die Benachteiligung wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.Für die Aufgaben, die in einem Sekretariat anfallen, ist es grundsätzlich irrelevant, ob sie von einem Mann, einer Frau oder einer diversen Person ausgeübt werden. Die Benachteiligung ließe sich also nicht mit beruflichen Anforderungen rechtfertigen.

8. Muss J beweisen, dass M ihn zumindest auch wegen seines Geschlechts abgelehnt hat (§ 22 AGG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Während im Zivilrecht grundsätzlich der Anspruchssteller sämtliche für ihn günstigen Umstände beweisen muss, enthält § 22 AGG eine Beweislastumkehr zugunsten des potentiell Benachteiligten. Kann er Indizien beweisen, die auf eine Benachteiligung aufgrund eines pönalisierten Merkmals schließen lassen, wird die Beweislast umgekehrt. Dann muss vielmehr die andere Partei beweisen, dass sie ihn nicht benachteiligt hat.Ms Stellenanzeige bezieht sich allein auf eine Sekretärinin, also eine Frau. Männer sowie diverse Personen sind davon ausgeschlossen. Dies genügt bereits als Indiz für die in § 22 AGG vorgesehene Beweislastumkehr. Dafür liegen hier keine Anhaltspunkte vor.Den Beweis zu führen, dass das pönalisierte Merkmal nicht zumindest mitursächlich war, ist in der Praxis sehr schwierig zu führen. Um die Beweislastumkehr deshalb von vorneherein zu vermeiden, findet sich in Stellenausschreibungen normalerweise der Zusatz (m/w/d).

9. J verlangt erst einen Monat nach der Ablehnung per Mail die Entschädigung. Hat er damit die Ausschlussfrist für die Geltendmachung des Anspruchs versäumt (§ 15 Abs. 4 S. 1 AGG)?

Nein, das trifft nicht zu!

Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche aus dem AGG müssen innerhalb einer Frist von zwei Monaten geltend gemacht werden (§ 15 Abs. 4 AGG). Die Frist beginnt zu laufen, wenn der Beschäftigte von der behaupteten Diskriminierung Kenntnis erlangt.Erst mit Erhalt der Ablehnung (und nicht bereits dem ersten Lesen der Anzeige) lagen J alle relevanten Tatsachen bezüglich der Diskriminierung vor. Da er bereits nach einem Monat den Anspruch geltend gemacht hat, hat er auch die Ausschlussfrist gewahrt.Achtung Missverständnis: Für die „schriftliche“ Geltendmachung genügt nach der Rechtsprechung des BAG die Textform (§ 126b BGB), auf eine eigenhändige Unterschrift, also die „Schriftform“ nach § 126 Abs. 1 BGB, kommt es nicht an (BAG NZA 2012, 667 Rn. 27).

10. J trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er sich ernsthaft und nicht rechtsmissbräuchlich beworben hat.

Nein!

LAG: Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen, die den Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen, trägt nach den allgemeinen Regelungen der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast derjenige, der diesen Einwand geltend macht (RdNr. 93). Vorliegend ist der Einwand des Rechtsmissbrauch für M vorteilhaft, sodass sie dessen Voraussetzungen darlegen muss.

11. Muss M an J eine Entschädigung zahlen, wenn sie ihm nachweisen kann, dass er im Hinblick auf sein Vollzeitstudium zu keiner Zeit Interesse an der Vollzeitstelle als Sekretärin hatte?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Entschädigungsanspruch ist ausgeschlossen, wenn objektiv und subjektiv ein Rechtsmissbrauch vorliegt. Dabei sind sämtliche objektiven Einzelfallumstände zu berücksichtigen, zB - Entfernung der Stelle zum Wohnort - Inhalt bzw. Art und Weise der Bewerbung - bestehende Beschäftigung - geschäftsmäßiger Bewerbungsbetrieb J ist als Student bereits in Vollzeit tätig (objektiv) und hatte von Anfang an den Plan, sich nur wegen der möglichen Entschädigung auf die Stelle zu bewerben. Damit ist die Geltendmachung des Anspruchs rechtsmissbräuchlich. Bislang galt es angesichts der strengen Vorgaben des BAG in der Praxis als nahezu aussichtslos, dass der Einwand des Rechtsmissbrauchs tatsächlich dargelegt und bewiesen werden kann (vgl. Junker, § 3 RdNr. 160). Das LAG Hamm hat im zugrundeliegenden Fall nun einmal den Rechtsmissbrauch bejaht. J hat hiergegen allerdings Revision eingelegt. In einem parallelen Verfahren hatte das LAG Schleswig-Holstein die Annahme eines Rechtsmissbrauchs noch abgelehnt. Bei unbestimmten Merkmalen wie dem Rechtsmissbrauch kommt es in der Klausur vor allem darauf an, dass Du den Sachverhalt sorgfältig auswertest. Wie Du Dich dann letztlich entscheidest, ist zweitrangig.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

falktghl

falktghl

9.2.2024, 15:15:14

Als ob man nicht neben dem Jurastudium arbeiten gehen könnte.

EFECÖ

Efecan Ö.

9.2.2024, 19:29:38

Zumindest nicht 40h/Woche

Friedrich CarI von Savigny

Friedrich CarI von Savigny

9.2.2024, 23:33:28

Eine Vollzeitstelle als Sekretär neben einem lässt sich kaum mit einem Jurastudium vereinbaren. Man könnte höchstens differenzieren wie weit fortgeschritten der Student ist. Der Anfang des Studiums bis zur Zwischenprüfung erfordert viel Zeit und Durchhaltevermögen, da man sich erstmal auf die juristische Sprache und Methodik einstellen muss. Und bis zu dem Examen wird es auch nicht besser mit der „freien Zeit“ für einen Vollzeitjob. Vor allem wenn man noch das Schwerpunktexamen vor dem Pflichtteil schreibt. Am realistischsten, wäre dann noch möglicherweise ein Jahr, wenn man sich auf einen Verbesserungsversuch (je nach Bundesland möglich) vorbereitet und diesen nicht allzu ernst nimmt. Aber so wie der Sachverhalt hier geschildert wird, lässt sich meiner Ansicht nach für ein ernstgemeintes Interesse nichts anführen. Dieser Fall schreit nahezu nach Rechtsmissbrauch wenn man mich fragt. Daher habe ich an der Subsumtion der Richter nichts auszusetzen.

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

10.2.2024, 04:11:46

"Ich arbeite Vollzeit, studiere Jura, bin selbstständig und hab noch einen Nebenjob..." 🫡

LELEE

Leo Lee

10.2.2024, 11:17:48

Hallo falktg, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat wurde in der Entscheidung selbst auf den Vollzeitcharakters der Sekretärtätigkeit abgestellt. Sprich, Jurastudenten könnten zwar sehr wohl neben dem Vollzeitstudium arbeiten, freilich nicht in „Vollzeit“ (also als Sekretär), selbst wenn man von einem Fernstudium ausginge (so die Richter). Wir haben die Frage nun entsprechend angepasst (statt „Stelle“ nunmehr „Vollzeitstelle) und danken dir vielmals dafür, dass du uns dabei hilfst, die App zu perfektionieren :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

CR7

CR7

10.2.2024, 14:55:23

@DeliktusMaximus und heute zeige ich euch, wie man mithilfe von ChatGPT in nur 2x25 min für das Examen lernt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.2.2024, 13:50:15

@all: Salut zusammen, vielen Dank für die angeregte Diskussion. Angesichts des von uns gestellten Sachverhalts liegt die Annahme eines Rechtsmissbrauchs tatsächlich sehr nahe. In dem von uns gebildeten, vereinfachten Fall hatte J von Anfang an nicht die Intention, als Sekräter zu arbeiten, sondern ihm ging es allein darum, eine Entschädigungszahlung zu erlanen ("wie geplant"). Bei der Bearbeitung ist dies dann als gegeben hinzunehmen. In der Praxis ist dies eine Tatsachenfrage und die Lage somit deutlich schwieriger. Beachtet dabei bitte, dass der Umfang der Beschäftigung (Vollzeitstelle) lediglich eines von vielen weiteren Indizien war, welche das LAG Hamm herangezogen hat, um die von uns im Sachverhalt dargestellte rechtsmissbräuchliche Absicht zu ermitteln. Ein weiteres zentrales Kriterium war der Umstand, dass J es nicht bei einzelnen Bewerbungen beließ, sondern sich systematisch auf diskriminierende Stellenanzeigen bewarb und dabei auch sein Verfahren optimierte. Schaut euch die Ausführungen gerne auch einmal in der verlinkten Entscheidung an. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Natze

Natze

19.2.2024, 14:42:51

@[DeliktusMaximus](178154) @[CR7](145419) herrlich 😂


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