+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
X ist Abgeordneter im Landtag von L und gehört dort der AfD-Fraktion (A) an. Aufgrund regelmäßiger Kontakte ins rechtsextremistische Spektrum, von dem sich A distanzieren möchte, erhält X von A zwei Abmahnungen. Mangels Verhaltensänderung wird X daraufhin aus der Fraktion ausgeschlossen.
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Einordnung des Falls
Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für Ausschluss aus Landtagsfraktion (VerfGH Rh-Pf., 29.01.2019)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. X hält den Fraktionsausschluss für unvereinbar mit Ls Landesverfassung. Kann er als einzelner Abgeordneter ein Organstreitverfahren gegen die A-Fraktion einleiten?
Genau, so ist das!
Ein Organstreitverfahren ist ein kontradiktorisches Verfahren zwischen zwei Verfassungsorganen über ihre verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten. Parteifähig sind die obersten Landesorgane und andere Beteiligte, sofern sie in der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Streitgegenstand ist jede Maßnahme oder Unterlassung des anderen Verfassungsorgans.
Der Antrag eines Abgeordneten gegen die Maßnahme einer Fraktion kann Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein (RdNr. 22). Der Ausschluss aus der Fraktion ist als aktives Tun tauglicher Streitgegenstand. X und A sind beide in der Landesverfassung (LVerf) mit eigenen Rechten ausgestattet und damit als „andere Beteiligte“ parteifähig.
Der Originalfall spielt in Rheinland-Pfalz, die Rechtsfragen sind aber für alle Landesverfassungen und für den Bund relevant und entsprechend zu lösen. Für Rheinland-Pfalz sind für den Organstreit Art. 130 Abs. 1 LVerf, § 2 Nr. 1a VerfGHG entscheidend. Dies entspricht den Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG.
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2. X macht Verletzungen des Rechts auf freies Mandat (Art. 79 Abs. 2 LVerf) sowie seines Recht auf Fraktionszusammenschluss (Art. 85a Abs. 1 S. 1 LVerf) geltend. Ist er antragsbefugt?
Ja, in der Tat!
Der Antragsteller ist antragsbefugt, wenn er geltend machen kann, dass es zumindest möglich erscheint, dass er durch das Handeln oder Unterlassen des anderen Verfassungsorgans in eigenen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt ist.
Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass X durch den Fraktionsausschluss in seinen Rechten auf ein freies Mandat und auf Fraktionszusammenschluss (die in L beide in der Landesverfassung verbrieft sind) verletzt wurde (RdNr. 22). X ist daher antragsbefugt.
In solchen unproblematischen Fällen kannst Du die Zulässigkeit kurz halten. Das LVerfG hat dies auch gemacht und für die Zulässigkeit nur eine Randnummer gebraucht. Der Schwerpunkt liegt in der Begründetheit! Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn der Fraktionsausschluss X in seinen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt hat.
3. Grundsätzlich steht es einer Fraktion frei, eines ihrer Mitglieder gegen dessen Willen auszuschließen.
Ja!
Fraktionen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die durch Meinungsbündelung, Koordinierung und Filterung zur parlamentarischen Funktionsfähigkeit beitragen (RdNr. 24ff). Da die Abgeordneten in ihrer Entscheidung, mit wem sie sich für die politische Arbeit zusammenschließen, frei sind, genießt die Fraktion selbst Autonomie und Personalhoheit als gebündelte Freiheit der Abgeordneten (RdNr. 27). An der grundsätzlichen Berechtigung einer Fraktion, seine Mitglieder auszuschließen, bestehen keine Zweifel (RdNr. 28).
Die Freiheit einer Fraktion, die Zusammenarbeit mit einzelnen Abgeordneten aufzunehmen oder zu beenden, folgt aus dem Recht auf ein freies Mandat. Dieses Recht steht nicht nur dem einzelnen Abgeordneten zu, sondern auch der Fraktion (RdNr. 27). Das freie Mandat des einzelnen Abgeordneten findet seine Grenze im gleichen Recht der übrigen Fraktionsmitglieder.
4. Der Ausschluss eines Fraktionsmitglieds steht im Belieben der Fraktion und ist an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft.
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Entscheidung über den Verlust der Fraktionszugehörigkeit hat für den einzelnen Abgeordneten zentrale Bedeutung für seinen politischen Einfluss und die parlamentarische Arbeit (RdNr. 28). Das freie Mandat des einzelnen Abgeordneten und sein verfassungsrechtliches Recht auf Fraktionszugehörigkeit setzen dem Fraktionsausschlussrecht Grenzen. Es stehen sich das Interesse des Abgeordneten an Mitarbeit in der Fraktion und das Interesse der Fraktion an ihrer Mitgliederselbstbestimmung entgegen. Es gelten gegenseitige Loyalitätspflichten zwischen Fraktion und Abgeordneten (RdNr. 38). Für einen Fraktionsausschluss gelten daher rechtsstaatliche Mindestanforderungen: (1) formell: einwandfreies Verfahren, (2) materiell: besonders wichtiger Grund.
Für die Struktur Deiner Klausur kann es hilfreich sein, wenn Du die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen in Rechte von Abgeordneten so aufbaust wie die Prüfung von Grundrechten: Gewährleistungsgehalt (= Schutzbereich), Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen sind – wie wir hier erläutern – andere, aber durch einen entsprechenden Aufbau bekommt Deine Prüfung Struktur und ist für die Prüferin gut nachvollziehbar.
5. X' Fraktionsausschluss erfolgte nach ordnungsgemäßer Einberufung der Fraktionssitzung und nach Anhörung des X aufgrund einer Zweidrittelmehrheit in geheimer Abstimmung. War das Verfahren rechtmäßig?
Ja, in der Tat!
Die Organisation einer Fraktion muss demokratischen Prinzipien entsprechen. Die Verfahrensanforderungen für den Ausschluss eines Abgeordneten aus der Fraktion ergeben sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und aus dem Statusrecht der Abgeordneten: (1) Zuständigkeit und ordnungsgemäße Einberufung der Fraktionsversammlung, (2) angemessene Vorbereitungszeit, (3) Gelegenheit zur Stellungnahme, (4) Abstimmung mit erforderlicher Mehrheit. Die formellen Voraussetzungen sind uneingeschränkt gerichtlich überprüfbar (RdNr. 36).
Aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass die Organisation einer Fraktion demokratischen Prinzipien entsprechen muss, ergibt sich, dass die Fraktionsversammlung die wesentlichen Entscheidungen (z.B. über einen Fraktionsausschluss) treffen muss (RdNr. 30). Das ist hier geschehen. Dem Betroffenen muss die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, damit die Fraktionsangehörigen dies für ihre Entscheidung berücksichtigen können (Rdnr. 31). Für die Stellungnahme bedarf es einer hinreichenden Vorbereitungszeit und ordnungsgemäßen Landung (RdNr. 32), die bei X gegeben waren. Die in der Fraktionssatzung vorgesehene Zweidrittelmehrheit ist verfassungsrechtlich unbedenklich (RdNr. 33) und wurde erreicht.
Aus der Geschäftsordnung des Landtags oder aus der Fraktionssatzung können sich eigenständige Vorgaben oder Besonderheiten ergeben, die – soweit relevant – in Deiner Klausur abgedruckt wären.
6. Der Fraktionsvorstand verwies in seinem Ausschlussantrag nur auf X' rechtsextremistische Kontakte und den Verstoß gegen eine sog. Unvereinbarkeitsliste. Ist der Fraktionsausschluss mangels weitergehender Angabe von Ausschlussgründen formell verfassungswidrig?
Nein!
Die Angabe der maßgeblichen Ausschlussgründe in der Ladung zur Fraktionssitzung ist zwingend, damit das betroffene Ausschussmitglied Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeiten hat und weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird. Außerdem müssen die Fraktionsmitglieder die konkreten Vorwürfe kennen, um eine rechtsstaatlich tragbare Entscheidung zu treffen.
Der Fraktionsvorstand hat nicht substantiiert geäußert, welches Verhalten X konkret vorgeworfen wird (RdNr. 54). Die schriftlichen Ausschlussgründe können aber durch hinreichende Kenntnisse der Beteiligten ergänzt werden, zum Beispiel hier durch Bezugnahme auf vorherige Fraktionssitzungen, in denen X bereits abgemahnt wurde. X' Kontakte zu rechtsextremistischen Personen waren bereits vorher Diskussionsgegenstand, sodass die Fraktionsmitglieder über die Vorgänge hinreichend informiert waren (RdNr. 58). In der Gesamtschau waren die Gründe im Ausschlussantrag für eine substantiierte Darlegung der Sache ausreichend (RdNr. 55ff). In einer Klausur wäre es hier geboten, dass Du mit dem Zweck der Vorbereitungszeit und des Rechts auf Stellungnahme argumentierst und erläuterst, was erforderlich ist, um diese Rechte auszuüben. Ob Du dann zum gleichen Ergebnis kommst wie der VerfGH, ist unerheblich.
7. X war während der Fraktionssitzung anwesend, in der sein Ausschluss beschlossen wurde. Sein Ausschluss aus der A-Fraktion wurde X nachträglich nicht nochmal schriftlich bekannt gemacht. War der Fraktionsausschluss deshalb formell verfassungswidrig?
Nein, das ist nicht der Fall!
Das Fraktionsausschlussverfahren muss den rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Insbesondere muss die betroffene Person hinreichende Kenntnis über die Entscheidung und ihre Gründe haben (RdNr. 61).
X war selbst bei der Fraktionssitzung, in der über seinen Ausschluss entschieden wurde, anwesend gewesen. Er hatte an der Diskussion teilgenommen und sich verteidigt. Er hatte also auch ohne Bekanntgabe des Beschlusses hinreichende Kenntnis von der ergangenen Entscheidung. Ihr Fehlen führt nicht zur formellen Verfassungswidrigkeit.
Das gilt auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, denn die Fraktionssatzung der A sieht vor, dass der Fraktionsausschluss mit Verkündung des Ergebnisses der Abstimmung am Ende der Fraktionssitzung wirksam wird. Damit ist die schriftliche Bekanntmachung nicht konstitutiv für die Wirksamkeit des Ausschlusses.
8. Der Fraktionsausschluss war materiell verfassungswidrig, wenn es für ihn keinen besonders wichtigen Grund gab. Kann das Gericht den Ausschlussgrund umfassend überprüfen und inhaltlich bewerten?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Prüfung eines besonders wichtigen Grundes ist eine politische Entscheidung. Sie richtet sich nach innerfraktionellen Regeln wie Satzungen und Grundsatzprogrammen, also danach, was für die Fraktion nicht hinnehmbar ist. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich daher auf eine Willkürkontrolle, also darauf, ob das Statusrecht des betroffenen Abgeordneten grundlegend verkannt wurde (RdNr. 43). Das ist dann der Fall, wenn es keinen vernünftigen, sachlich einleuchtenden Grund für den Ausschluss gibt, sondern evident sachfremd entschieden wurde (RdNr. 44).
Die inhaltliche Bewertung, ob X' Verhalten einen besonders wichtigen Grund für den Ausschluss darstellt, unterliegt dem Wertungsspielraum der Fraktion und ihrer Einschätzung, ob X' Kontakte mit As politischen Zielsetzungen unvereinbar sind (RdNr. 72).
9. Der Fraktionsausschluss war materiell verfassungswidrig, wenn die Fraktion für die Ermittlung des besonders wichtigen Grundes eine fehlerhafte Tatsachen- und Entscheidungsgrundlage herangezogen hat.
Ja!
Eine willkürfreie Entscheidung setzt voraus, dass die Fraktion für die Entscheidung die zutreffenden tatsächlichen Umstände zugrunde gelegt hat (RdNr. 45). In welchem Maße die angenommenen Umstände allerdings erwiesen sein müssen, obliegt der Fraktion und ihrer Einschätzung, ob bereits die vorhandene Tatsachendichte das Vertrauensverhältnis in der Fraktion stört (RdNr. 46). Entscheidend ist die Sachlage, die die Fraktion bei ihrer Beschlussfassung zugrunde gelegt hat; das Gericht darf also die Tatsachengrundlage nicht nachträglich besser aufklären als die Fraktion, wenn die Fraktion nicht evidentermaßen von unzutreffenden Umständen ausgegangen ist (RdNr. 47).
10. X' rechtsextremistische Kontakte wurden in der Fraktionssitzung unter anderem mit WhatsApp-Chatprotokollen und Facebook-Beiträgen belegt. Basiert der Fraktionsausschluss auf einer evident fehlerhaften Tatsachen- oder Entscheidungsgrundlage?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Dokumentation von X' rechtsextremistischen Kontakten durch unter anderem WhatsApp-Chatprotokolle und Facebook-Beiträge in der Fraktionssitzung ist ausreichend, um zumindest das Mindestmaß an tatsächlichen Umständen zu belegen, die Grundlage der Entscheidung der Fraktion sein dürfen. Der angenommene Sachverhalt war damit zumindest nicht evident unzutreffend. (RdNr. 68). Im Originalfall war X den Vorwürfen rechtsextremistischer Kontakte auch nicht substantiiert entgegengetreten.
11. Xs Fraktionsausschluss war materiell verfassungswidrig, weil kein besonders wichtiger Grund vorlag und der Ausschluss unverhältnismäßig war.
Nein, das trifft nicht zu!
Ein besonders wichtiger Grund kann dann vorliegen, wenn (1) ein Mindestmaß politischer Übereinstimmung zwischen Abgeordnetem und Fraktion fehlt, (2) das Vertrauensverhältnis zwischen Abgeordnetem und Fraktion nachhaltig gestört ist, (3) die Wirkmöglichkeiten der Fraktion durch das Verhalten eines Abgeordneten beeinträchtigt werden (RdNr. 39) oder (4) durch das Verhalten eines Abgeordneten das Öffentlichkeitsansehen der Fraktion beschädigt wird (RdNr. 40). Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ist dem „besonders wichtigen Grund“ bereits vorgelagert: Wenn mildere Maßnahmen als der Ausschluss in Betracht kommen, liegt kein hinreichend wichtiger Grund vor (RdNr. 76).
Für die A-Fraktion waren X' Kontakte in die rechtsextremistische Szene – jedenfalls nach dem öffentlichen Bekunden der A-Fraktion – mit ihrem politischen Selbstverständnis und Zielsetzungen unvereinbar. Damit war das für eine erfolgreiche Fraktionsarbeit erforderliche Vertrauensverhältnis gestört und das Öffentlichkeitsansehen der Fraktion beschädigt (RdNr. 72). Ausgehend vom politischen Wertungsspielraum der A-Fraktion hätte das Verbleiben von X in der Fraktion dazu geführt, dass A sich nicht mehr glaubwürdig von politischem Extremismus hätte abgrenzen können (RdNr. 73). Der Fraktionsausschluss kommt zwar nur als „ultima ratio“ in Betracht, war aber nicht unverhältnismäßig, da X bereits zweimal abgemahnt wurde (RdNr. 76). Der Fraktionsausschluss war also verfassungsgemäß. Das Organstreitverfahren des X ist erfolglos.
Der Fall eignet sich, komplizierte Rechtsfragen des verfassungsrechtlichen Innenrechts von Fraktionen zu prüfen. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass Du Argumente auswendig lernst! Entscheidend ist, dass Du Strukturverständnis und Dein juristisches Handwerkszeug.