Chancengleichheit bei Teilnahme am politischen Wettbewerb – Art. 21 Abs. 1 GG


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Die A-Partei meldet eine Versammlung unter dem Motto „Rote Karte für die Bundeskanzlerin – Asyl braucht Grenzen“ an. Daraufhin äußert Bundesministerin W in einer Pressemitteilung auf der Homepage des Ministeriums, man solle lieber der A-Partei – die offen Volksverhetzung betreibe – die Rote Karte zeigen.

Einordnung des Falls

Chancengleichheit bei Teilnahme am politischen Wettbewerb – Art. 21 Abs. 1 GG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die A-Partei will sich gegen die Äußerung wehren. Statthafter Rechtsbehelf vor dem BVerfG ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG).

Ja!

Das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) ist statthaft, wenn oberste Bundesorgane bzw. deren Teile oder andere, ihnen rechtlich gleichgestellte Beteiligte über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten aus der Verfassung streiten. Hier streiten W und die A-Partei darüber, ob die Äußerung der W verfassungsgemäß war. W ist als Mitglied der Bundesregierung Teil eines obersten Bundesorgans und deshalb parteifähig. Die A-Partei ist als anderer Beteiligter parteifähig, soweit sie – wie hier – ihre besonderen Rechte aus Art. 21 GG geltend macht. Das Organstreitverfahren ist statthaft und im Übrigen zulässig.

2. Die A-Partei hat gemäß Art. 21 Abs. 1 GG das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb.

Genau, so ist das!

Gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Damit gewährleistet ist, dass die politische Willensbildung des Volkes offen verläuft, ist es unerlässlich, dass die Parteien gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Art. 21 Abs. 1 GG beinhaltet deshalb unmittelbar ein Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Dies umfasst auch das Recht, durch die Veranstaltung von Kundgebungen und Versammlungen an der politischen Willensbildung mitzuwirken (RdNr. 42f.).

3. Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien beinhaltet als Kehrseite, dass sich Staatsorgane parteipolitisch neutral verhalten müssen (Neutralitätsgebot).

Ja, in der Tat!

Die Chancengleichheit erfordert die parteipolitische Neutralität von Staatsorganen (sog. Neutralitätsgebot). Das bedeutet, dass Staatsorgane sich nicht parteiergreifend für eine bestimmte Partei aussprechen dürfen.

4. Das Gebot parteipolitischer Neutralität von Staatsorganen gilt nur in Wahlkampfzeiten.

Nein!

Einseitige Parteinahmen während des Wahlkampfs beeinträchtigen die Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen und verstoßen gegen das Neutralitätsgebot. Das Gebot staatlicher Neutralität gilt aber auch außerhalb von Wahlkampfzeiten. Denn der Prozess der politischen Willensbildung des Volkes ist nicht auf Wahlkampf oder Wahlvorbereitungen beschränkt, sondern vollzieht sich fortlaufend in vielfältiger und vor allem tagtäglicher Wechselwirkung (RdNr. 46).

5. W ist nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn sie die Äußerung in ihrer amtlichen Funktion als Bundesministerin getätigt hat.

Genau, so ist das!

Nur die Inanspruchnahme amtlicher Autorität oder der Rückgriff auf amtliche Ressourcen können zu einer Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht führen. Außerhalb seiner amtlichen Funktion darf ein Amtsträger am politischen Meinungskampf teilnehmen und sich parteipolitisch äußern. Ein Amtsbezug liegt laut BVerfG vor, wenn die Äußerung der W „entweder unter Einsatz der mit dem Ministeramt verbundenen Ressourcen oder unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine aus der Autorität des Amtes fließende besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen“ (RdNr. 64).

6. W hat sich nur unter ihrem bürgerlichen Namen und nicht ausdrücklich als „Bundesministerin“ geäußert. Damit hat W ihre Äußerung nicht in amtlicher Funktion getätigt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Äußerung der W erfolgte zwar nicht ausdrücklich in amtlicher Eigenschaft als Bundesministerin, der erforderliche Amtsbezug ergebe sich jedoch aus den Umständen und dem objektiven Erscheinungsbild. W veröffentlichte die Pressemitteilung unter Verwendung des Dienstwappens. Zudem beschränke sich der Zweck der Homepage des Bundesministeriums auf Mitteilungen zu Angelegenheiten in dessen Zuständigkeitsbereich (RdNr. 69). Daher handelte W in amtlicher Funktion und war somit an das Neutralitätsgebot (Art. 21 Abs. 1 GG) gebunden.

7. Die Äußerung der W mittels ihrer Pressemitteilung ist ein Eingriff in das Recht der A-Partei auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG).

Ja!

Da das Recht der Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) von den Staatsorganen parteipolitische Neutralität verlangt, liegt ein Eingriff bereits dann vor, wenn sich der Inhaber eines Regierungsamtes parteiergreifend in den politischen Meinungskampf einmischt. BVerfG: Ein Eingriff in diesem Sinne sei jede negative Bewertung der Veranstaltung mit abschreckender Wirkung für potenzielle Teilnehmer und nicht erst der unmittelbare Aufruf zum Boykott einer Partei (RdNr. 48). Die Äußerung der W war darauf gerichtet, die Bürgerinnen und Bürger von der Teilnahme an der Versammlung der A-Partei abzuhalten und stellt somit einen Eingriff dar.

8. Der Eingriff müsste gerechtfertigt sein. W steht als Bundesministerin eine generelle politische Äußerungsbefugnis zu, die grundsätzlich geeignet ist, den Eingriff zu rechtfertigen.

Genau, so ist das!

BVerfG: Der Bundesregierung obliege als oberstes Organ der Exekutive die Aufgabe der Staatsleitung (Art. 65 GG). Integraler Bestandteil dieser Aufgabe sei die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (RdNr. 51). Eine verantwortliche Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung setzt voraus, dass sie über die von Staatsorganen zu treffenden Entscheidungen genügend wissen, um sie bewerten zu können. Es ist W somit nicht per se untersagt, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzunehmen, nur weil sie Bundesministerin ist.

9. Die Äußerungsbefugnis der W (Art. 65 GG) ist schrankenlos gewährleistet. Ein solcher Eingriff ist mithin stets gerechtfertigt.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Neutralitätsgebot aus Art. 21 Abs. 1 GG begrenzt das Recht auf Öffentlichkeitsarbeit. Die Regierung darf sich nicht mit einzelnen Parteien identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel zu deren Gunsten oder Lasten einsetzen (RdNr. 53ff.). Wahlwerbung und zielgerichtete Eingriffe in den politischen Wettbewerb sind unzulässig, da sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen vollziehen muss (Art. 20 Abs. 2 GG). Zudem setzt die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit die Beachtung der bestehenden Kompetenzordnung voraus und unterliegt dem für sämtliches Staatshandeln geltenden Sachlichkeitsgebot (RdNr. 77, 59).

10. Die Äußerung der W verstößt gegen das Sachlichkeitsgebot.

Ja!

Mit der Kritik eines politischen Gegners in keinem Zusammenhang stehende Äußerungen verstoßen gegen das Sachlichkeitsgebot und sind somit unzulässig. BVerfG: Bei der Äußerung der W fehle es an jeglicher sachlicher Aufarbeitung der gegen das Regierungshandeln gerichteten Vorwürfe der A-Partei. Der Pressemitteilung seien keinerlei erläuternde Informationen über das Handeln der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik zu entnehmen. Vielmehr handele es sich um einen „parteiergreifenden Angriff im politischen Wettbewerb aus Anlass der Ankündigung einer politischen Kundgebung“ (RdNr. 79).

11. Das Sachlichkeitsgebot muss nicht beachtet werden, wenn ein unsachlicher Angriff auf die Arbeit und Politik der Bundesregierung vorliegt (sog. „Recht auf Gegenschlag“).

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Die Bundesregierung sei lediglich befugt, im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit über Regierungshandeln aufzuklären, dagegen erhobene Vorwürfe in der Sache aufzuarbeiten und diffamierende Angriffe zurückzuweisen. Darüber hinausgehende wertende Einflussnahmen auf den politischen Wettbewerb, insbesondere reaktive Äußerungen, seien unzulässig (RdNr. 60). W stand vorliegend also kein Recht auf Gegenschlag zu, sodass ihre Äußerung das Sachlichkeitsgebot verletzt. Die Pressemitteilung ist somit nicht von der Befugnis der Bundesregierung zur Öffentlichkeitsarbeit gedeckt und daher verfassungswidrig.

12. Die A-Partei kann sich im Organstreitverfahren auch auf eine Verletzung ihrer Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) berufen.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Parteien können im Organstreitverfahren nur Rechte geltend machen, die sich aus ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status ergeben (RdNr. 31). Die Grundrechte der Parteien werden nur berücksichtigt, soweit sie sich verstärkt auf das Recht der Partei aus Art. 21 GG auswirken. Dies ist hier zwar der Fall, denn zum Schutz der parteitypischen Betätigung (Art. 21 Abs. 1 GG) gehört auch die Versammlungstätigkeit einer Partei, z.B. für Zwecke der Wahlwerbung. Für „reine“ Grundrechtsverletzungen wäre jedoch die Verfassungsbeschwerde statthaft und nicht das Organstreitverfahren.

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Schaafrichter Johannes

Schaafrichter Johannes

23.3.2020, 14:00:21

zur Frage nach der Amztlichkeit der Ministerin: im SV ist lediglich von einer Pressemitteilung die Rede. In der Lösung darüber hinaus von einer Homepage und einem Dienstwappen. Zum anderen: bei Einschüben braucht es einen langen Strich: Soiegelstrich —. Der wurde vielfach uneinheitlich verwandt, mal kurz, mal lang, mal kurz und lang in einem Satz.

Schaafrichter Johannes

Schaafrichter Johannes

25.3.2020, 12:32:34

Amtlichkeit und Spiegelstrich natürlich 😧 ich sollte mal mehr meine eigenen Anmerkungen Korrektur lesen!

CLA

chuck lawris

17.10.2021, 12:29:26

Lebensnahe Interpretation des SV -> Pressemitteilungen einer privaten Person in der Funktion als diese, sind nicht lebensnah; bzw in der Realität nicht anzutreffen. Ergo: Pressemitteilung kann nur bedeuten, dass die Mitteilung aus dem Ministerium kam :)

CLA

chuck lawris

17.10.2021, 12:30:47

Wg Dienstsiegel; Die Bilder ergänzen den Sachverhalt :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.11.2021, 09:34:18

Vielen Dank euch beiden. Wir haben uns der Spiegelstriche nun angenommen und auch die Information in den Sachverhalt mit aufgenommen, dass die Mitteilung auf der Homepage des Ministeriums veröffentlicht wurde. Wie chuck schon richtig eingewendet hat, gehört die Illustration zum Sachverhalt. Insofern haben wir darauf verzichtet auch das Dienstsiegel explizit mit aufzunehmen, da sich dieses unserer Meinung nach hinreichend deutlich in der illustration zu sehen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

GEL

gelöscht

6.7.2021, 08:11:29

Wofür stehen die Randnummern in Klammern?

Marilena

Marilena

6.7.2021, 17:55:34

Hi BEY, danke für die Frage! Die Randnummern in Klammern beziehen sich auf die Textstellen im dazugehörigen Urteil, das am Ende dieses Falles verlinkt ist.

GEL

gelöscht

6.7.2021, 17:56:53

Ahhh danke! Ich dachte erst kurz für die Nomos Literatur..

Marilena

Marilena

7.7.2021, 09:45:30

Gerne. Guter Gedanke!😊

LI

lisi99

17.8.2022, 09:17:01

Es ist aber nicht möglich Art. 21 GG in Form der Verfassungsbeschwerde zu rügen? Müsste dann immer eine Aufspaltung der Rechtsbehelfe erfolgen (die gleiche Maßnahme, aber einmal VB und einmal Organstreit)?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

17.8.2022, 16:38:54

Halli lisi99, genauso ist es. In der Verfassungsbeschwerde können nur Grundrechte, grundrechtsgleiche Rechte und Justizgrundrechte geltend gemacht werden. Damit fällt Art. 21 GG als tauglicher Beschwerdegegenstand raus. Im Organstreitverfahren können wiederum nur Streitigkeiten bezüglich der verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten geklärt werden. Eine Rüge der Verletzung eines grundrechts scheidet somit aus, denn die Partei macht dies als Veranstalterin und nicht als am Verfassungsleben beteiligtes Organ geltend. Es müssten vorliegend also zwei Verfahren angestrengt werden. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

29.8.2022, 01:17:58

Kostet ja zum Glück nichts.^


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