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Erklärungsirrtum bei fünffachen Verklicken auf einer Website? (AG München, Urt. v. 18.04.2024, Az. 275 C 20050/23)

Erklärungsirrtum bei fünffachen Verklicken auf einer Website? (AG München, Urt. v. 18.04.2024, Az. 275 C 20050/23)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A bucht über Bs Homepage eine Pauschalreise für € 4.500. Später storniert A die Reise. Hierbei muss A einen Stornierungsgrund auswählen und die – als solche bezeichnete – Stornierung mit vier weiteren Klicks bestätigen. B verlangt 3.800 € Stornierungsgebühren von A. A teilt B mit, er habe sich „verklickt“ und mache die Stornierung rückgängig. ‌

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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B könnte gegen A einen Anspruch auf Zahlung der Stornierungsgebühren i.H.v. 3.800 € gemäß § 651h Abs. 1 S. 3 BGB haben.

Ja, in der Tat!

Nach § 651h Abs. 1 S. 1 BGB kann der Reisenden vor Reisebeginn vom Pauschalreisevertrag (§ 651a BGB) zurücktreten (= Stornierung). Dieses Rücktrittsrecht kann der Reisende ohne Begründung und ohne Form ausüben. Der Rücktritt löst allerdings einen Anspruch des Reiseveranstalters auf eine „angemessene Entschädigung“ aus (§ 651h Abs. 1 S. 3 BGB). Der Entschädigungsanspruch (§ 651h Abs. 1 S. 3 BGB) setzt Folgendes voraus: (1) Wirksamer Pauschalreisevertrag (§ 651a Abs. 1 BGB) (2) Rücktritt des Reisenden vor Reisebeginn. B könnte gegen A einen Entschädigungsanspruch haben, wenn A nach § 651h Abs. 1 S. 1 BGB von einem zuvor mit B geschlossenen Reisvertrag zurückgetreten wäre.
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2. Für einen Vertragsschluss im Internet gibt es spezialgesetzliche Vorschriften, weswegen die Anwendung der §§ 145ff. BGB ausgeschlossen ist.

Nein!

Nein. Für einen Vertragsschluss im Internet finden die allgemeinen Regeln der §§ 145ff. BGB Anwendung. Reiseleiter und Reisender müssen zwei übereinstimmende Willenserklärungen – Antrag und Annahme (§§ 145ff. BGB) mit dem Inhalt des § 651a Abs. 1 BGB abgeben. Das Einstellen eines (Reise-)Angebots im Internet ist meistens zunächst nur die Aufforderung, zur Abgabe eines Antrags (= invitatio ad offerendum). An einem wirksamen Vertragsschluss zwischen A und B bestehen nach dem Sachverhalt keine Zweifel. Der Vertragsschluss war im Originalfall zwischen den Parteien unstreitig. Bestehen nach dem Sachverhalt keine Zweifel an einem wirksamen Vertragsschluss, kannst und solltest Du die Prüfung knapp halten. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt dann an einer anderen Stelle.

3. A hat nach Vertragsschluss zunächst den Rücktritt vom Reisevertrag erklärt.

Genau, so ist das!

Der Rücktritt des Reisenden nach § 651 h Abs. 1 S. 1 BGB bedarf einer entsprechenden Willenserklärung. Hierbei ist nicht erforderlich, dass dieser das korrekte Wort des „Rücktritts“ gebraucht. Es genügt, dass der Reisende hinreichend deutlich macht, dass er das Vertragsverhältnis beenden wolle (vgl. §§ 133, 157 BGB). A hat hier einen Stornogrund ausgewählt und mit vier Klicks bestätigt, dass er seine Reise stornieren möchte. Dadurch hat er hinreichend zum Ausdruck gebracht, nicht mehr an dem Reisevertrag festhalten zu wollen.

4. A ist zunächst vom Reisevertrag zurückgetreten. Wäre As Rücktritt auch wirksam, wenn A seine Rücktrittserklärung erfolgreich angefochten hätte?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Rücktritt vom Reisevertrag (§ 651 h Abs. 1 S. 1 BGB) erfolgt durch Abgabe einer Willenserklärung. Willenserklärungen sind nach den Regeln der §§ 119ff. BGB anfechtbar. Eine wirksame Anfechtung hat zur Folge, dass die angefochtene Willenserklärung (und damit das betroffene Rechtsgeschäft) als von Anfang an nichtig (= ex tunc) gilt (§ 142 Abs. 1 BGB). Wenn A seine Rücktrittserklärung wirksam angefochten hätte, so läge kein wirksamer Rücktritt vor. Der Reisvertrag zwischen A und B bestünde damit weiterhin fort. Mache Dir hier nochmal klar, welche Willenserklärung Gegenstand der Anfechtung ist: A ficht den Rücktritt vom Reisevertrag, nicht den Reisevertrag selbst, an.

5. A hat die Anfechtung gegenüber B erklärt. Als Anfechtungsgrund kommt § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB in Betracht.

Ja!

Die Anfechtung muss der Anfechtende nach § 143 Abs. 1 BGB gegenüber der anderen Vertragspartei (§ 143 Abs. 2 BGB) erklären. Eine Willenserklärung ist z.B. dann anfechtbar (= Anfechtungsgrund), wenn derjenige, der sie abgegeben hat, einem Erklärungsirrtum (§ 119 BGB) unterlag. Ein Irrtum im Sinne von § 119 BGB ist das unbewusste Auseinanderfallen von Wille und Erklärung. Nach § 119 Abs. 1 Var. 2 BGB liegt ein Irrtum in der Erklärungshandlung vor, wenn schon der äußere Erklärungstatbestand nicht dem Willen des Erklärenden entspricht. Dies ist z.B. beim Versprechen, Verschreiben oder Vergreifen der Fall. A hat gegenüber B erklärt, er mache die Stornierung rückgängig (= Anfechtungserklärung, §§ 133, 157 BGB). Der Anfechtungsgrund könnte sich hier daraus ergeben, dass A sich verklickt hat (§ 119 Abs. 1 Var. 2 BGB).

6. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist es nicht plausibel, dass A sich hier insgesamt fünfmal verklickt hat.

Genau, so ist das!

AG München: Es kann grundsätzlich nach der allgemeinen Lebenserfahrung sein, dass man versehentlich einmalig etwas anklickt, was dem eigentlichen Willen nicht entspricht. Es erscheint jedoch lebensfremd, dass bei der Durchführung eines Vorgangs wie hier der Buchungsstornierung mit insgesamt fünf verschiedenen Schritten jedes Mal ein „Verklicken“, und damit ein Irrtum in der Erklärungshandlung vorgelegen haben soll. (RdNr. 14) Es ist davon auszugehen, dass A bewusst war, dass er den gesamten Reisevorgang stornierte. Mangels Anfechtungsgrund ist As Rücktrittserklärung daher weiterhin wirksam. A ist wirksam vom Reisevertrag zurückgetreten.

7. A und B haben die Entschädigungshöhe nicht vertraglich geregelt. Scheidet Bs Anspruch deswegen aus?

Nein, das trifft nicht zu!

Macht der Reisende von seinem Rücktrittsrecht aus § 651 h Abs. 1 S. 1 BGB Gebrauch, so hat der Reiseveranstalter nach § 651 h Abs. 1 S. 3 BGB einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung. Die Entschädigungshöhe ergibt sich vorrangig aus einer Individualvereinbarung oder wirksamen AGB (§ 651h Abs. 2 S. 1 BGB). Wenn es keine vertraglichen Regelungen zur Entschädigungshöhe gibt, bemisst sie sich nach den Kriterien aus § 651h Abs. 2 S. 2 BGB: Bei der Berechnung geht man vom Reisepreis aus. Von diesem muss man die Aufwendungen abziehen, die sich der Reiseveranstalter dadurch erspart, dass der Reisende die Reise nicht antritt. Mangels einer vereinbarten Rücktrittspauschale wird die Angemessenheit der Stornogebühren in Höhe von € 3.800 nach § 651 h Abs. 2 S. 2 BGB beurteilt. Das AG München hat Bs ersparten Aufwendungen des Reisveranstalters berücksichtigt und die Gebührenhöhe als angemessen bewertet.

8. Aufgrund von As Rücktritt hat B gegen A einen Anspruch auf die Entschädigung in Höhe von € 3.800.

Ja!

Tritt der Reisende nach § 651h Abs. 1 S. 1 BGB vor Reisebeginn vom Pauschalreisevertrag (§ 651a BGB) zurück (= Stornierung), löst dies einen Anspruch des Reiseveranstalters auf eine „angemessene Entschädigung“ aus (§ 651h Abs. 1 S. 3 BGB). A ist wirksam vom Reisevertrag mit B zurückgetreten, insbesondere konnte er seine Rücktrittserklärung nicht anfechten. Die durch B verlangte Entschädigung ist nach den Kriterein des § 651 h Abs. 2 S. 2 BGB angemessen. B hat gegen A einen Anspruch auf Zahlung von € 3.800.
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