+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Das Bundesgesundheitsministerium (BGM) erfährt, dass in Deutschland Weine vertrieben werden, die mit Glykol, einem chemischen Lösungsmittel, versetzt sind. Es veröffentlicht daraufhin eine Liste dieser Weine mit Angaben zum Abfüller.
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Einordnung des Falls
Glykol, BVerfG Urt. v. 26.06.2002 - 1 BvR 558/91
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die B1 und B2 sind Abfüller und Vertreiber der in der Liste genannten Weine. Sie sehen sich in ihren Grundrechten verletzt und erheben Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Ist diese statthaft?
Ja, in der Tat!
Die Verfassungsbeschwerde ist die richtige Verfahrensart, wenn sich der Beschwerdeführer durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt sieht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).
Die Beschwerdeführer sehen sich durch die Veröffentlichung der Liste insbesondere in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt, aber auch in Art. 14 Abs. 1 S. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.
Die Verfassungsbeschwerden waren zulässig. Insbesondere habe B1 und B2 vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde erfolglos vor den Fachgerichten versucht, Rechtsschutz über eine Unterlassungs- und eine Feststellungsklage zu erlangen (Grundsatz der Rechtswegerschöpfung, § 90 BVerfGG).
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2. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, wenn die Veröffentlichung der Liste mit den Weinen durch das BGM B1 und B2 in ihren Grundrechten verletzt.
Ja!
So sollte der Obersatz in Deiner Klausur lauten. Dies ist der Fall, wenn die Veröffentlichung der Liste in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Hier kommt insbesondere ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in Betracht.
3. Die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) umfasst einen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb und Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten.
Nein, das ist nicht der Fall!
Erfolgt die unternehmerische Berufstätigkeit am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs, wird die Reichweite des Freiheitsschutzes durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen. Die Berufsfreiheit umfasst daher nicht einen Schutz vor Einflüssen auf die wettbewerbsbestimmenden Faktoren (RdNr. 41).
Die Wettbewerbsposition und damit auch der Umsatz unterliegen dem Risiko laufender Veränderung je nach den Marktverhältnissen. Die Berufsfreiheit vermittelt somit keinen Anspruch auf den Erfolg im Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten.
Die Berufsfreiheit vermittelt auch kein Recht, nur so von anderen dargestellt zu werden, wie das Unternehmen gesehen werden möchte oder wie es sich und seine Produkte selbst sieht (RdNr. 42f.)
4. Es kann die Funktionsweise des Marktes fördern, wenn durch zusätzliche ggf. staatliche Informationen die überlegene Informationsmacht einzelner Marktteilnehmer ausgeglichen wird.
Ja, in der Tat!
Ein hohes Maß an Informationen der Marktteilnehmer über marktrelevante Faktoren ist eine Grundlage der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs. Denn nur dies ermöglicht eine an den eigenen Interessen orientierte Entscheidung über die Bedingungen der Marktteilhabe.
Die am Markt verfügbaren Informationen sind jedoch häufig nicht vollständig oder werden selektiv verbreitet. Hier kann der Staat durch zusätzliche Informationen ein notwendiges Gegengewicht schaffen (RdNr. 44f.).
Die Rechtsordnung zielt an verschiedenen Stellen auf die Ermöglichung eines hohen Maßes an markterheblichen Informationen und damit auf Markttransparenz, etwas durch die rechtlichen Vorkehrungen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, die Festlegung von Werberegeln und Maßnahmen des Verbraucherschutzes (RdNr. 46).
5. Marktbezogene Informationen des Staates verletzen die Berufsfreiheit der Wettbewerber nicht, sofern die rechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln eingehalten werden.
Ja!
Die Zulässigkeit der Verbreitung staatlicher Informationen setzt (1) eine Aufgabe der handelnden Stelle und (2) die Einhaltung der Zuständigkeitsgrenzen voraus. (3) Zudem muss die Informationstätigkeit die Anforderungen an die Richtigkeit und Sachlichkeit beachten (RdNr. 47 f.).
Letztlich spiegelt sich darin – wenn auch etwas modifiziert – der bekannte Dreischritt, für die Prüfung staatlicher Maßnahmen wider: (1) Ermächtigungsgrundlage, (2) Formelle Rechtmäßigkeit und (3) Materielle Rechtmäßigkeit, bei Grundrechten, insbesondere Verhältnismäßigkeit. Eine Besonderheit und der Kritikpunkt liegt aber darin, dass das BVerfG bei der Befugnis zur Informationstätigkeit eine Aufgabenzuweisung ausreichen lässt und keine spezielle Ermächtigungsgrundlage verlangt.
6. Wenn Aufgaben der Regierung oder der Verwaltung mittels öffentlicher Informationen wahrgenommen werden, liegt in der Aufgabenzuweisung grundsätzlich auch eine Ermächtigung zum Informationshandeln.
Genau, so ist das!
Dies ist bei der Aufgabe Regierung zur Staatsleitung der Fall. Sie zielt auf die in einer Demokratie wichtige Gewinnung politischer Legitimation. Diese Aufgabe wird nicht allein durch Gesetzgebung und Einwirkung auf den Gesetzesvollzug, sondern gerade auch durch die Information der Öffentlichkeit wahrgenommen (RdNr. 50 mit Verweis auf dem Osho-Beschluss).
Dass das BVerfG daraus eine Ermächtigungsgrundlage für den mittelbar-faktischen Grundrechtseingriff herleitet, wird von weiten Teilen der Literatur stark kritisiert.
7. Es gehört aber nicht zur Aufgabe der Regierung, die Öffentlichkeit über wichtige Vorgänge außerhalb oder weit im Vorfeld ihrer eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit zu unterrichten.
Nein, das trifft nicht zu!
BVerfG: „In einer auf ein hohes Maß an Selbstverantwortung der Bürger bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme ausgerichteten politischen Ordnung ist von der Regierungsaufgabe auch die Verbreitung von Informationen erfasst, welche die Bürger zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der Problembewältigung befähigen (RdNr. 51)“.
Von der Aufgabe der Staatsleitung wird somit auch die Aufgabe erfasst, - wie hier - durch rechtzeitige öffentliche Information auf Krisen schnell und sachgerecht zu reagieren sowie den Bürgern zu Orientierungen zu verhelfen (RdNr. 52).
8. Auch bei staatlichem Informationshandeln ist die Kompetenzordnung zu beachten.
Ja!
Bei der Frage, wem die Verbandskompetenz zusteht – Bund oder Land – ist entscheidend, wem die zu erfüllende Informationsaufgabe zukommt. Die Organkompetenz, also die Zuständigkeit im Verhältnis zwischen Bundeskanzler, Bundesministern und der Bundesregierung als Kollegium ergibt sich auf Bundesebene aus Art. 65 GG (RdNr. 53).
Fraglich ist somit, ob dem Bund die vorliegende Informationsaufgabe zukam und das Bundesministerium hierfür zuständig war.
9. Mangels spezieller Ermächtigungsgrundlage im Grundgesetz ist die Bundesregierung nicht zur Staatsleitung und damit einhergehend zur Information der Öffentlichkeit befugt.
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Aufgabe der Staatsleitung und der von ihr umfassten Informationsarbeit der Bundesregierung ist Ausdruck ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung. Auch wenn es an einer ausdrücklichen Bestimmung fehlt, geht das GG stillschweigend von entsprechenden Kompetenzen aus, z.B. in den Normen über die Bildung und Aufgaben der Bundesregierung (Art. 62 ff. GG) oder über ihre Pflicht, den Bundestag und seine Ausschüsse zu unterrichten und den Abgeordneten Rede und Antwort zu stehen (RdNr. 55).
Die Bundesregierung ist somit überall dort zur Informationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung der Staatsleitung zukommt, die mithilfe von Informationen erfüllt werden kann (RdNr. 55).
Der Bund hat die Verbandskompetenz zur Staatsleitung, insbesondere dann, wenn es um Vorgänge geht, die wegen ihres Auslandsbezugs oder ihrer länderübergreifenden Bedeutung überregionalen Charakter haben. Somit gilt für die Ermächtigung der Bundesregierung zum Informationshandeln Art. 30, 83 ff. GG nicht (RdNr. 55).
10. Das BGM wollte mit der Maßnahme die Bevölkerung aufklären und den Weinmarkt stärken, der angesichts des „Glykol-Skandals“ unter massivem Nachfragerückgang litt. Nahm es eine Aufgabe der Staatsleitung wahr?
Ja, in der Tat!
Die Veröffentlichung der Informationen diente im Rahmen der Regierungsverantwortung der Bewältigung einer die Öffentlichkeit beunruhigenden und den überregionalen Weinmarkt gefährdenden Krise, indem sie Transparenz schuf und den Bürgern ermöglichte, ihre Marktentscheidungen unter Nutzung von Erkenntnissen zu treffen, die für sie wichtig, ihnen aber sonst nicht zugänglich waren (RdNr. 64ff.). Es liegt nach obigen Maßstäben eine Aufgabe der Staatsleitung vor.
Auch stand dem Bund für diese überregionale Krise die Verbandskompetenz zu. Damit handelte das Ministerium insgesamt auch im Rahmen seiner Zuständigkeit.
11. Eine Rechtfertigung der Verbreitung von Informationen in der Öffentlichkeit setzt voraus, dass die inhaltliche Richtigkeit der Informationen abschließend geklärt ist.
Nein!
Der Träger der Staatsgewalt kann zur Verbreitung von Informationen auch dann berechtigt sein, wenn ihre Richtigkeit noch nicht abschließend geklärt ist. Dies setzt voraus, dass der Sachverhalt vorher im Rahmen des Möglichen sorgsam und unter Nutzung verfügbarer Informationsquellen sowie in dem Bemühen um die nach den Umständen erreichbare Verlässlichkeit aufgeklärt worden ist (RdNr. 58).
Hier waren die in der Liste enthaltenden Informationen zutreffend. Insbesondere hatte das Ministerium deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass Wein gleicher Bezeichnung und Aufmachung desselben Abfüllers im Verkehr sein konnte, der nicht mit Glykol versetzt ist (RdNr. 69).
12. Staatliche Informationen müssen zudem das Sachlichkeitsgebot beachten.
Genau, so ist das!
Danach dürfen Wertungen nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen. Auch bei zutreffendem Inhalt darf die Information in der Form weder unsachlich noch herabsetzend formuliert sein(RdNr. 59).
Auch diesen Anforderungen hat das Gesundheitsministerium entsprochen (RdNr. 68 ff.).
Zudem ist die Verbreitung von Informationen unter Berücksichtigung möglicher nachteiliger Wirkungen für betroffene Wettbewerber auf das zur Informationsgewährung Erforderliche zu beschränken – was hier ebenfalls der Fall war (RdNr. 59).
13. Sind B1 und B2 durch die Veröffentlichung der Information in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt?
Nein, das trifft nicht zu!
Das Ministerium wahrte die Anforderungen an staatliches Informationshandeln. Somit ist der Eingriff in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführer gerechtfertigt bzw. ein solcher liegt schon gar nicht vor (so das BVerfG, RdNr. 71).
Auch Art. 14 Abs. 1 GG ist nicht verletzt, da dieses Grundrecht nicht in der Zukunft liegende Erwerbsmöglichkeiten, sondern nur den Erwerb schützt. Somit ist der Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG schon nicht beeinträchtigt (RdNr. 73 ff.).