1. Ist die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) vor dem BVerfG statthaft?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist statthaft, wenn sich jemand durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen verletzt sieht.
Hier rügen die Gemeinden eine Verletzung ihres Rechts auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG). Dieses Recht ist aber weder ein Grundrecht noch ein grundrechtsgleiches Recht. Vielmehr sind die Gemeinden als Teil der Staatsgewalt primär selbst an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG) und grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt. Die Individualverfassungsbeschwerde ist nicht statthaft.
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2. Ist die Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG, § 91 Satz 1 BVerfGG) vor dem BVerfG der statthafte Rechtsbehelf?
Ja!
Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist statthaft, wenn sich Gemeinden oder Gemeindeverbände durch ein Gesetz in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) verletzt sehen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG)
Hier sehen sich die beiden beschwerdeführenden Gemeinden durch § 1 Abs. 1 und 2 Nds. AG AbfG in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) verletzt. Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist der statthafte Rechtsbehelf.
Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und die Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) sind unbedingt zu unterscheiden. Dennoch ähneln sich beide Verfahrensarten in ihren Voraussetzungen.
3. Die Kommunalverfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ist subsidiär zu einer landesverfassungsrechtlichen Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b a.E.).
Genau, so ist das!
Das BVerfG entscheidet über Kommunalverfassungsbeschwerden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung bei Landesgesetzen nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann (Subsidiaritätsklausel(Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b a.E.).
In Niedersachsen war nicht vorgesehen, dass eine Beschwerde wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung beim Staatsgerichtshof erhoben werden kann. Demnach war die Kommunalverfassungsbeschwerde hier nicht deswegen unzulässig (RdNr. 38).
Heute ist die Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde vor dem Niedersächsischen Verfassungsgerichtshof möglich (s. Art. 54 Nr. 5 der NV, §§ 8 Nr. 10, 36 NStGHG).
4. Die Gemeinden müssten beschwerdebefugt sein, das heißt durch das Gesetz selbst, unmittelbar und gegenwärtig in ihrem Recht auf Selbstverwaltung verletzt sein.
Ja, in der Tat!
Die Gemeinden sind beschwerdebefugt, wenn sie behaupten können, durch das angegriffene Gesetz in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) verletzt zu sein. Das heißt die eigene, unmittelbare, gegenwärtige und Betroffenheit muss nach dem Vorbringen jedenfalls als möglich erscheinen.
Hier haben die Gemeinden unmittelbar durch § 1 Abs. 1 Nds. AG AbfG ihre Zuständigkeit für die Aufgaben der Abfallbeseitigung in ihrem Gebiet verloren. Zudem machen sie mit dem Recht auf Selbstverwaltung ein eigenes Recht geltend, dessen Verletzung nach dem Vorbringen auch möglich erscheint. Die Gemeinden sind beschwerdebefugt.
Hier siehst Du wieder die Ähnlichkeit der Kommunal- zur Individualverfassungsbeschwerde. Du musst also nicht neue Definitionen oder Schemata lernen.
5. Für die Kommunalverfassungsbeschwerde gilt keine Frist.
Nein!
Die Kommunalverfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz muss innerhalb eines Jahres nach dessen Inkrafttreten erhoben werden (§ 93 Abs. 3 BVerfGG>).
Da der Rechtsweg gegen formelle Gesetze nicht offensteht, gilt der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung hier nicht. Doch kann der Grundsatz der Subsidiarität relevant werden.
In diesem Fall war eine der Verfassungsbeschwerden verfristet erhoben worden und deswegen unzulässig (RdNr. 39f.).
6. Die Verfassungsbeschwerde der Gemeinden ist begründet, wenn die angegriffene Norm sie in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) verletzt.
Genau, so ist das!
Diesen Obersatz solltest Du am Anfang in der Begründetheitsprüfung in deiner Klausur schreiben. Daran siehst Du auch schon, dass auch die Prüfung der Begründetheit große Ähnlichkeiten zur Individualverfassungsbeschwerde aufweist. Du gehst wie bei der Prüfung einer Grundrechtsverletzung in drei Schritten vor: (1) Schutzbereich, (2) Eingriff, (3) Rechtfertigung.
7. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.
Ja, in der Tat!
Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind „diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen“ (RdNr. 63).
Die Abfallbeseitigung gehört grundsätzlich zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft.
Diese Angelegenheiten bilden keinen feststehenden Aufgabenkreis und sind nicht für jede Gemeinde gleich. Es verbietet sich aber eine Auslegung, die ein sog. kommunales Leistungsniveau zu ihrem Ausgangspunkt wählt, das im kreisfreien Raum von den Städten, im kreisangehörigen Raum dagegen von Gemeinden und Kreisen gemeinsam zu erreichen sei. (RdNr. 63f.). Die Prüfung, ob und inwieweit die fragliche Aufgabe sich als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft darstellt, muss dabei differenziert nach der Größe der betroffenen Gemeinden vorgenommen werden (RdNr. 66f.).
8. Bei der Einschätzung der örtlichen Bezüge einer Aufgabe und ihres Gewichts steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu.
Ja!
Das Gericht hat somit im Streitfall zu prüfen, ob die gesetzgeberische Einschätzung von Maß und Gewicht der örtlichen Bezüge einer Aufgabe in Ansehung des unbestimmten Verfassungsbegriffs „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ vertretbar ist. Dabei ist die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist umso enger und die gerichtliche Kontrolle umso intensiver, je mehr als Folge der gesetzlichen Regelung die Selbstverwaltung der Gemeinden an Substanz verliert (RdNr. 68).
Die Annahme, dass es sich bei der Abfallbeseitigung im engeren Sinne (also die Lagerung der Abfälle) hinsichtlich der kreisangehörigen Gemeinden nunmehr um eine überörtliche Aufgabe handele, sei nach diesem Maßstab vertretbar.
Der gleiche gerichtliche Kontrollmaßstab gilt bei der Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung, der Gemeinde eine Aufgabe mit örtlichem Bezug aus Gemeinwohlgründen zu entziehen (RdNr. 69f.).
9. Der Gesetzesvorbehalt, den Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG ausspricht, umfasst dabei nur die Art und Weise der Erledigung der örtlichen Angelegenheiten, nicht jedoch die gemeindliche Zuständigkeit für diese Angelegenheiten.
Nein, das ist nicht der Fall!
Zwar ließe der Wortlaut der Grundgesetzbestimmung diese Deutung zu. Allerdings zeigte insbesondere die Entstehungsgeschichte der Norm (historische Auslegung) und ihre Zielsetzung, dass die Abgrenzung des Aufgabenkreises der Gemeinden einer Regelung durch den Gesetzgeber stets offenstand und auch nach dem GG offenstehen soll. Somit bezieht sich der Gesetzesvorbehalt des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG auch auf den gegenständlichen Aufgabenbereich der Gemeindetätigkeit.
10. Ein Eingriff in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ist stets unzulässig.
Ja, in der Tat!
Der Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung darf nicht ausgehöhlt werden. Zu diesem gehört kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen („Universalität“ des gemeindlichen Wirkungskreises) (RdNr. 51).
Ein solcher Eingriff in den Kernbereich sei hier durch § 1 Nds. AG AbfG aber nicht gegeben (RdNr. 72f.).
Die Allzuständigkeit ist identitätsbestimmendes Merkmal der gemeindlichen Selbstverwaltung. Im Gegensatz dazu steht die „Spezialität“ als Befugnis nur kraft speziellen Kompetenztitels bei anderen Verwaltungsträgern (RdNr. 52).
11. Auch außerhalb des Kernbereichs enthält Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden.
Ja!
Art. 28 Abs. 2 S. 1GG sichert den Gemeinden somit einen Aufgabenbereich, der grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfasst. Dieses Aufgabenverteilungsprinzip gilt zugunsten kreisangehöriger Gemeinden auch gegenüber den Kreisen.
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 28 Abs. 2 GG, der den Gemeindeverbänden - und damit den Kreisen - anders als den Gemeinden gerade keinen bestimmten Aufgabenbereich zuordnet. Dieses Ergebnis wird ferner durch eine historische und systematische Auslegung belegt.
12. Eine Aufgabe mit relevantem örtlichem Charakter darf der Gesetzgeber den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses entziehen.
Genau, so ist das!
Ein Entzug einer Aufgabe mit relevantem örtlichem Charakter ist vor allem dann möglich, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration kann einen Aufgabenentzug dagegen nicht rechtfertigen. Denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird.
Hier beruhte die Entscheidung für die Hochzonung darauf, dass viele der Mülldeponien in Niedersachsen nicht den neuen Anforderungen des AbfG genügten und deren Anzahl generell reduziert werden sollte. Damit verfolgte der Gesetzgeber Ziele des besseren Umweltschutzes sowie der Seuchenabwehr und der Landschaftspflege und damit Gemeininteressen von hoher Bedeutung (RdNr. 75).
13. Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung stellen Gemeinwohlinteressen dar, die eine „Hochzonung“ von Aufgaben rechtfertigen.
Nein, das trifft nicht zu!
Diese Gründe können nicht schon aus sich heraus, sondern erst dann, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde, eine „Hochzonung“ rechtfertigen. Denn auch wenn eine zentralistisch organisierte Verwaltung effektiver und billiger arbeiten könnte, setzt die Verfassung diesen ökonomischen Erwägungen den politisch-demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung ihrer öffentlichen Aufgaben entgegen und gibt ihm den Vorzug (RdNr. 66).
Mit diesen Gründen hat der Landesgesetzgeber die Übertragung der Aufgabe der Abfallbeseitigung in Form des Einsammelns und der Beförderung auch auf die Kreise übertragen. Diese Aufgabe sei aber örtlich und die angeführten Gründe können ihren Entzug nicht rechtfertigen (RdNr. 78ff.).
14. Als die Aufgabenentziehung rechtfertigender Grund kommt aber hier die Tatsache in Betracht, dass eine Trennung des Einsammelns des Abfalls von der Lagerung letztere erschwere und gefährden kann.
Ja!
Der Schwerpunkt liegt mittlerweile auf der Abfallbeseitigung im engeren Sinne. Die Abtrennung der Phasen des Einsammelns und Beförderns kann aber zu einer Erschwerung und damit möglicherweise Gefährdung der Ordnung der Abfallbeseitigung im engeren Sinne führen. Dies ist ein Grund, der auch die Zuweisung des Einsammelns und der Beförderung der Abfälle an den Kreis rechtfertigen kann (RdNr. 84f.).
Durch eine im Gesetz angelegte Rückübertragungsmöglichkeit habe der Gesetzgeber eine vertretbare Lösung gefunden (RdNr. 83ff.).
15. Die Kommunalverfassungsbeschwerde der Gemeinden ist begründet.
Nein, das ist nicht der Fall!
Das Gesetz greift zwar – zumindest hinsichtlich des Entzugs der Aufgabe des Einsammelns der Abfälle und ihrer Beförderung – in die Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) ein. Dieser Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Somit sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet.