Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Strafrechtliche Sanktion gegenüber Glaubens-geleitetem Verhalten

Strafrechtliche Sanktion gegenüber Glaubens-geleitetem Verhalten

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Eheleute M und F gehören einer radikalen Glaubensgemeinschaft an. Nachdem sie sehen, dass Sohn S Spielzeug der Nachbarin stiehlt, versetzen sie ihm – wie innerhalb ihrer Religion gängig und in ihrem Glaubensdokument vorgeschrieben – eine Tracht Prügel. M und F werden daraufhin wegen Körperverletzung strafrechtlich verurteilt.

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Einordnung des Falls

Strafrechtliche Sanktion gegenüber Glaubens-geleitetem Verhalten

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M und F haben das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln.

Ja, in der Tat!

Die Glaubensfreiheit gewährt in ihrer Ausprägung der religiösen Betätigungsfreiheit die ungestörte Ausübung von Religion in Form von Gebräuchen, Handlungen und Riten. Sie schützt das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten anhand seines Glaubens auszurichten. Das streitgegenständliche Verhalten muss jedoch nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung sein. Dies muss der Grundrechtsträger plausibel machen, die bloße Behauptung reicht nicht aus (Plausibilitätskontrolle). Dabei wird auch das Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft) berücksichtigt. M und F haben das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und gemäß ihrer inneren Glaubensüberzeugung zu handeln. Dies umfasst auch das grundsätzliche Recht, Kinder im Sinne der eigenen Religion zu erziehen.
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2. Die strafrechtliche Verurteilung von M und F stellt einen klassischen Eingriff in deren Glaubensfreiheit dar.

Ja!

Nach dem klassischen Eingriffsbegriff muss das staatliche Handeln, das zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt, final, unmittelbar und durch Rechtsakt geschehen sowie mit Zwang durchsetzbar sein. Die strafrechtliche Verurteilung von M und F wegen der Körperverletzung an Sohn S erfüllt als staatlich-hoheitliches Handeln der Judikative, das final und unmittelbar und im Zweifel mit Zwang durchsetzbar ist, den klassischen Eingriffsbegriff und greift damit in die Glaubensfreiheit von M und F ein. Wie Du sicher intuitiv vermutet hast, findet der Fall hier noch nicht sein Ende. So sind das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie das staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) zu berücksichtigen, die die Religionsfreiheit der Eltern (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) auf Rechtfertigungsebene begrenzen. Weiß man um das einfachgesetzliche Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern (§ 1631 Abs. 2 BGB), liegt das Ergebnis dieser Abwägung natürlich auf der Hand.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FRED

Freddy

13.1.2024, 21:16:25

"M und F haben das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln" wird als "stimmt" bewertet. Das Verhalten wird aber nur geschützt sofern es denn der pmausibilitätskontrolle genügt. Darauf wird in der Lösung auch hingewiesen. Jedoch finde ich die Formulierung "ihr gesamtes Verhalten" irreführend, wenn es Ausnahmen gibt aufgrund derer ein Verhalten nicht geschützt wird. Ich würde diese Aufgabe eher mit "stimmt nicht" beantworten.

TI

Timurso

14.1.2024, 00:54:52

Meines Erachtens nach ist "stimmt" trotz der Plausibilitätskontrolle die richtige Antwort. Diese ist nur eine Nachweishürde, keine inhaltliche Einschränkung. Eine inhaltliche Einschränkung gibt es nämlich nicht. Es ist nicht so, dass gewisse Lebensbereiche ausgeschlossen wären oder ähnliches. Insofern besteht das Recht, das gesamte Leben nach den Glaubenslehren auszurichten.

LELEE

Leo Lee

14.1.2024, 14:05:27

Hallo Freddy, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat könnte man wie du der Meinung sein, dass „gesamtes Verhalten“ hinsichtlich der Plausibilitätskontrolle etwas widersprüchlich scheint. Beachte allerdings, dass das Recht, das gesamte Verhalten nach den Lehren auszurichten zunächst ein Teil des Schutzbereichs ist. Die Plausibilitätskontrolle schränkt diesen Schutzbereich in gewisser Hinsicht ein und fordert, dass das Verhalten eben einen Zusammenhang mit der Religion vorweisen muss und hat die Funktion eines Filters. Insofern stehen Sie sich nicht diametral gegenüber, sondern ergänzen sich vielmehr. Hierzu kann ich die Lektüre von Jarass/Pieroth GG 17. Auflage, Jarass Art. 4 Rn. 12 f. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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