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Verwaltungsrecht BT: Polizei- und Ordnungsrecht

Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)

Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)

14. April 2025

17 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der Kreisverband der N-Partei (K) hängte zur Europawahl Wahlplakate mit dem Slogan „Stoppt die Invasion – Migration tötet“ auf. Die zuständige Behörde erließ daraufhin gegen K die Verfügung, die Plakate abzuhängen oder unkenntlich zu machen.

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Einordnung des Falls

Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Verfügung erledigte sich durch Ablauf der zum Aufhängen von Wahlplakaten berechtigten Sondernutzungserlaubnis, nachdem K Klage erhoben hat. Ist die Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft?

Ja, in der Tat!

Die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) ist statthaft, wenn der Kläger die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts begehrt, der sich nach Klageerhebung erledigt hat. In diesem Fall kann der Kläger, sofern ein besonderes Feststellungsinteresse besteht, feststellen lassen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war und ihn in seinen Rechten verletzte. Die Verfügung stellt ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG) dar. Sie hat sich durch Zeitablauf nach Klageerhebung erledigt. Deswegen ist nunmehr nicht mehr die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO), sondern die (echte) Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) statthaft. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO wird analog in den Fällen angewandt, in denen eine Verpflichtungssituation vorliegt, d.h. der begehrte Erlass eines Verwaltungsakts sich erledigt, sowie in der Anfechtungssituation im Falle der Erledigung vor Klageerhebung.
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2. K möchte das Wahlplakat auch in zukünftigen Wahlkämpfen verwenden. Begründet dies eine Wiederholungsgefahr und damit ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse?

Ja!

Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein besonders Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts hat (sog. besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse). Dazu haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet: (1) Schwerwiegender Grundrechtseingriff, (2) Rehabilitationsinteresse, (3) Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses und (4) Wiederholungsgefahr. Die Wiederholungsgefahr setzt die konkrete oder hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird (RdNr. 20). K möchte die Plakate erneut verwenden, sodass eine solche konkrete und hinreichend bestimmte Gefahr besteht. Damit begründet die Wiederholungsgefahr ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Im Übrigen bestanden keine Zulässigkeitsprobleme. Insbesondere war K aufgrund einer möglichen Verletzung seiner Meinungs- (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG) klagebefugt.

3. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, wenn der Verwaltungsakt vor seiner Erledigung rechtswidrig war und den Kläger in seinen subjektiven Rechten verletzte.

Genau, so ist das!

So könnte der Obersatz in deiner Klausur lauten. Der Prüfungsmaßstab folgt direkt aus § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Die Prüfung erfolgt dann, wie bei der Anfechtungsklage: (1) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, (2) Verletzung des Klägers in eigenen Rechten. Zudem ist zu prüfen, ob der Verwaltungsakt, wenn er sich nicht erledigt hätte, vom Gericht hätte aufgehoben werden müssen. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO gibt nämlich nicht mehr Rechtsschutz, als der Kläger bei mangelnder Erledigung des angegriffenen Verwaltungsakts hätte beanspruchen können (RdNr. 22). Das Gericht spielt hiermit insbesondere auf § 46 VwVfG an (lesen!).

4. Als Rechtsgrundlage für die durch die Ordnungsbehörde erlassene Verfügung kommt die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel (im Originalfall § 14 Abs. 1 OBG NRW) in Betracht.

Ja, in der Tat!

Nach § 14 Abs. 1 OBG NRW können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (sog. ordnungsbehördliche Generalklausel). Es kommt somit entscheidend darauf an, ob die Plakate eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründeten. Da der Originalfall in NRW spielte, haben wir den Fall nach den Vorschriften des einschlägigen Landesrechts gelöst. Er lässt sich aber entsprechend nach den landesrechtlichen Normen Deines Bundeslandes lösen. Die im Zentrum stehenden Rechtsfragen sind unabhängig vom Landesrecht.

5. Die Ordnungsbehörde hat K vor Erlass der Verfügung nicht angehört und die Anhörung auch später nicht nachgeholt. Ist der Verwaltungsakt deswegen zwingend formell rechtswidrig?

Nein!

Der Verwaltungsakt ist formell rechtmäßig, wenn die (1) zuständige Behörde den Verwaltungsakt ordnungsgemäß, d.h. ohne Verletzung von (2) Verfahrens- und (3) Formvorschriften erlassen hat. Gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG ist der Betroffene vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in seine Rechte eingreift, anzuhören. Von der Anhörung kann nur in den in § 28 Abs. 2 VwVfG genannten Fällen abgesehen werden. Hier hat die Behörde K entgegen § 28 Abs. 1 VwVfG nicht angehört. Die Anhörung war auch nicht entbehrlich gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG. Da der Verfahrensfehler mangels Nachholung der Anhörung vor Erledigung des Verwaltungsakts auch nicht geheilt wurde gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG, ist die Verfügung grundsätzlich formell rechtswidrig.

6. Hätte das Gericht aufgrund der formellen Rechtswidrigkeit der Verfügung den Verwaltungsakt zwingend aufheben müssen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Gemäß § 46 VwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Somit ist für die Maßgeblichkeit der formellen Rechtswidrigkeit entscheidend, ob ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorlag, die Behörde also den Verwaltungsakt mit diesem Inhalt erlassen musste. Dies könnte hier aufgrund einer möglichen Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) der Fall sein.

7. Der Tatbestand der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel (hier § 14 Abs. 1 OBG NRW) setzt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus. Liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit u.a. dann vor, wenn das Schutzgut der Unversehrtheit der Rechtsordnung gefährdet ist?

Ja, in der Tat!

Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz (1) der Unversehrtheit der Rechtsordnung, (2) der Individualrechtsgüter und (3) der Einrichtungen des Staates. Die Unversehrtheit der Rechtsordnung umfasst dabei alle formell und materiell rechtmäßigen Gesetze, sodass jeder (drohende) Gesetzesverstoß eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründet. Hier könnte das Aufhängen der Wahlplakate den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllen und damit die Unversehrtheit der Rechtsordnung verletzten und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit i.S.d. polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel darstellen.

8. Ist der Slogan von Ks Wahlplakat vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst?

Ja!

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Auf dieses Recht können sich auch Parteien (s. Art. 21 GG) berufen. Dabei stellen Aussagen auf Wahlplakaten – ungeachtet ihres möglichen ehrverletzenden Gehalts – ein vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfasstes Werturteil dar (RdNr. 27). Somit sind auch polemische und verletzende Äußerungen, wie der Slogan des Wahlplakats, vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) umfasst.

9. Stellt der Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ein allgemeines Gesetz dar, das Eingriffe in die Meinungsfreiheit rechtfertigen kann?

Genau, so ist das!

Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet die Meinungsfreiheit ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen (qualifizierter Gesetzesvorbehalt). Allgemeine Gesetze sind solche Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten oder sich gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen, das gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Bei § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB handelt es sich um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, das dem Schutz der Menschlichkeit dient. Es findet seinen verfassungsrechtlichen Rückhalt in Art. 1 Abs. 1 GG (RdNr. 28). Die Behörden und Gerichte haben aber bei der Auslegung und Anwendung des § 130 StGB die aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beachten, damit die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts auch auf der Ebene der Normanwendung im konkreten Fall zur Geltung kommt (RdNr. 28).

10. Vor einer rechtlichen Würdigung einer in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) fallenden Äußerung müssen Behörden und Gerichte ihren Sinn zutreffend erfassen.

Ja, in der Tat!

Aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ergeben sich nicht nur spezifische Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern bereits an die ihr vorgelagerte Interpretation umstrittener Äußerungen. Das Ziel ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Es muss somit zunächst der objektive Sinn des Wahlslogans zutreffend erfasst werden.

11. Bei der Interpretation der Äußerungen kommt es stets auf das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen an.

Nein!

Bei der Interpretation ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen maßgeblich, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen, wobei dieser aber ihren Sinn nicht abschließend festlegt, da der objektive Sinn auch vom Kontext und den Begleitumständen einer Äußerung bestimmt wird, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind (RdNr. 29). BVerwG: „Bei mehrdeutigen Äußerungen haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung zugrunde legen“ (RdNr. 30).

12. Der Wahlkampf ist ein Begleitumstand, der bei der Interpretation des Slogans zu berücksichtigen ist.

Genau, so ist das!

Der Wahlkampf ist ein maßgeblicher, bei der Interpretation zu berücksichtigender Begleitumstand. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn die Äußerung – wie hier – auf einem Wahlplakat – ersichtlich ein Anliegen nur in Schlagworten zusammenfasst (RdNr. 32). Bei der Interpretation des Slogans ist somit zu berücksichtigen, dass im Wahlkampf konkurrierende Politikentwürfe typischerweise nur verkürzt und zugespitzt einander gegenübergestellt werden (RdNr. 32).

13. Der Slogan lässt sich einerseits so deuten, als würde behauptet, dass die in Deutschland lebenden Migranten töten, andererseits als würde die Migrationspolitik der Bundesregierung kritisiert.

Ja, in der Tat!

BVerwG: Nach dem objektiven Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums sei es weder ausgeschlossen noch fernliegend, den Slogan zu deuten als Kritik an der deutschen Migrationspolitik und nicht lediglich als Aussage, Migranten seien per se gefährlich (RdNr. 33 ff.). Das Berufungsgericht (OVG) durfte somit seiner rechtlichen Beurteilung der Äußerung nicht die Interpretationsvariante zugrunde legen, die den Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt, sondern musste dieser strafrechtlich irrelevanten Interpretationsvariante den Vorzug geben. Auch durfte es zur Bestimmung des Bedeutungsgehalts des Slogans nicht das Parteiprogramm der K hinzuziehen, weil dieses Wissen dem Rezipienten nicht als präsent unterstellt werden kann. Hier liegt der Schwerpunkt Deiner Klausur! Beachte, dass die meinungsfreundliche Auslegung verschiedener Deutungen von Aussagen und Meinungen eine zentrale Errungenschaft des verfassungsrechtlichen Rechtsstaats ist. Diese schützt gleichermaßen alle Grundrechtsträger, ob man ihre Meinungen mag und teilt oder nicht!

14. Die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) der K ist begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg.

Ja!

Der Wahlslogan verstößt nicht gegen das Verbot der Volksverhetzung und ist von der Meinungsfreiheit erfasst. Somit liegt kein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit vor, sodass die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage (§ 14 Abs. 1 OBG NRW) nicht erfüllt waren. Die erledigte Verfügung war rechtswidrig und verletzte K in seinen Rechten. Ks Klage ist begründet. Ob der Anhörungsmangel nun nach § 46 VwVfG unerheblich ist, ließ das BVerwG wegen der materiellen Rechtswidrigkeit der Verfügung offen (RdNr. 37). Allerdings wird man aufgrund des fehlenden Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit eine Ermessensreduzierung auf Null und damit das Vorliegen der Voraussetzungen des § 46 VwVfG verneinen müssen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FW

FW

12.2.2025, 09:39:57

Moin, ich finde das Wort „Invasion“ wurde hier viel zu wenig berücksichtigt. Denn eine Invasion führt sofort zu einer negativen Konnotation des Anhangs „Migration tötet“. Eine Invasion stammt nämlich aus dem Militär und meint das Vordringen feindlicher Truppen. Daraus wird m.E. auch die feindliche G

esi

nnung der NPD gegenüber allen Migranten deutlich, sodass hier nicht nur konstruktive Kritik an der Migrationspolitik geäußert wird, sondern bewusst ein Feindbild geschaffen wird. Ähnlich wie bei der Entscheidung „

Soldaten sind Mörder

“ wird somit nicht nur die Institution angegriffen, sondern die dahinerstehenden Personen. In diesem Fall alle Migranten.

Müslimanagerin

12.2.2025, 10:16:00

Ich finde das Urteil auch sehr fragwürdig. Selbst bei Berücksichtigung der Situation des Wahlkampfes vermittelt die Aussage zusammen mit der Bezeichnung als Invasion eine klare Botschaft: "Migration ist tödlich, denn Migrant*innen töten" Die Kritik der Bundespolitik steckt da freilich automatisch mit drin, ist aber aus meiner Sicht eine nebenbei, eher unterschwellig mitklingende Aussage und nicht der Kerngehalt.

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

12.2.2025, 10:28:36

@[FW](139488) Auch diesbezüglich gilt das Prinzip, zu einer möglichst der

Meinungsfreiheit

Geltung verschaffenden Deutung zu kommen. Deine Interpretation des Wortes "Invasion" ist eben nur eine Deutungsvariante. "Invasion" ist nicht zwingend in einem militärischen Kontext zu deuten. In der Naturwissenschaft spricht man bspw. von invasiven Arten. Weiter dazu: "Als biologische Invasion bezeichnet man allgemein die durch Menschen verursachte Ausbreitung einer gebietsfremden Art in einem Gebiet, in dem sie ursprünglich nicht heimisch war. " (Ingo Kowarik: Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa, S. 17.) Dass die NPD sich mit ihrer Verwendung des Wortes Invasion auf die tatsächlich stattfindende Einwanderung bezieht, ist jedenfalls nicht völlig abwegig, sodass dieser Deutungsvariante der Vorzug zu gegen ist i.S.d. Art. 5 I GG. @[Müslimanagerin](100047) Dass die Bezeichnung diese klare Botschaft vermittelt, ist wiederum nur eine Deutungsvariante. Wie gesagt, es ist aber jene Variante zu wählen, die unter die

Meinungsfreiheit

fällt. In der Klausur könntest du wahrscheinlich trotzdem argumentieren, dass es hier offensichtlich sei.

TI

Timurso

12.2.2025, 12:12:15

@[FW](139488) gerade wegen deinem Vergleich mit "

Soldaten sind Mörder

": auch dort wurden, wie du sagst, die Soldaten (sogar noch viel expliziter) gemeint und dennoch war die Aussage von der

Meinungsfreiheit

gedeckt. Warum sollte es deiner Meinung nach hier anders sein?

FW

FW

12.2.2025, 12:28:02

@[MenschlicherBriefkasten](151200) Aber selbst wenn man auch der biologischen Variante folgt, wäre das ja erst recht verwerflich. Dann würde man ja Migranten indirekt als eine gebietsfremde Art bezeichnen. Das wäre ja noch viel schlimmer als nur von einer objektiven Invasion in Form eines

Eindringen

s ins deutsche Staatsgebiet zu sprechen. @[Timurso](197555) Und zu der Entscheidung des BVerfG. Ich hatte die Entscheidung anders im Kopf, vermutlich die Verurteilung des BGH wegen

Beleidigung

, die durch das BVerfG aufgehoben wurde. Deswegen nehme ich das Argument zurück. Trotzdem sehe ich hier eine Strafbarkeit wegen § 130 I Nr. 2 Alt. 3 StGB, da die

Meinungsfreiheit

der NPD nicht die Menschenwürde alle Migranten überwiegt.

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

12.2.2025, 12:33:22

@[FW](139488) Was man "erst recht verwerflich" findet, spielt aber keine Rolle. Die

Meinungsfreiheit

ist sehr weitreichend, auch als "verwerflich" empfundene Aussagen fallen grundsätzlich in den Schutzbereich der

Meinungsfreiheit

. Und auch die Aussage mit der gebietsfremden Art ist mMn noch vom Schutzbereich umfasst.

BGB OK

BGB OK

12.2.2025, 17:11:47

@[FW](139488) ich glaube, dass du ganz schön subjektiv wirst. Gebietsfremd ist quasi der Inbegriff von Migration, es ist ja gerade der Wechsel aus der Heimat in ein neues Gebiet? Jedenfalls sehe ich alle Varianten dieser Äußerung als von Art. 5 I GG als gedeckt an. Ang

esi

chts der tatsächlichen Statistiken stellt sich sogar die Frage, ob hier nicht auch eine

Tatsachen

behauptung vorliegt, die zwar überspitzt ausgedrückt ist, aber doch auf einem erweislich wahren Kern beruht. In der Folge wäre eine Verletzung der Menschenwürde unter Bezug auf

Tatsachen

dann vielleicht sogar besonders dringen abzulehnen.

NATA

Natalie

12.2.2025, 19:08:08

@[Jurafuchs](137809) nicht jede gerichtliche Entscheidung ist zwingend richtig?! Ich finde es hier schwer nachvollziehbar von einer anderen Kernbedeutung auszugehen, als dass Migrant*innen töten und somit noch weiter Hass und Hetze zu schüren. Dass darin auch Kritik an der Migrationspolitik mitschwingt ist doch kein sinnvolles Gegenargument? Man hätte hier zumindest einmal klarstellen können, dass man das auch sehr gut anders sehen kann. Und zu meinem Vorredner @[BGB OK](284560) Was für Statistiken?! Migrant*innen töten nicht mehr oder weniger als Nicht-Migranten*innen. #Nazisraus

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

13.2.2025, 10:16:31

@[Natalie](280642) Du solltest schon Aktivismus von Rechtswissenschaft unterscheiden können.

Simon

Simon

18.2.2025, 11:03:01

Ich halte das Urteil durchaus für juristisch zutreffend. Zunächst sollte man sich klar machen, dass Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gerade dazu dient, auch unliebsame und streitbare Meinungen zu schützen, denn diese sind klassischerweise Gegenstand staatlicher Repression. Unabhängig davon, ob man dem Plakat inhaltlich zustimmt und trotz seiner geschmacklosen Aufmachung soll in einem demokratischen Rechtsstaat der Kampf um die "richtige" Meinung grundsätzlich inhaltlich und nicht mit staatlichen

Eingriff

en geführt werden. Es gilt: "Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen" (Voltaire). Ang

esi

chts dessen ist § 1

30 StGB

m.E. grundsätzlich restriktiv zu interpretieren. Das bedeutet auch, der Meinungsäußerung diejenige Deutung zu Grunde zu legen, die für die äußernde Person möglichst vorteilhaft ist (Ausfluss der Wechselwirkungslehre). Zwar sind die Worte "Invasion" und "tötet" überaus negativ konnotiert und abwertend. Allerdings ist die Aussage aus objektiver Empfängersicht durchaus derart auslegbar, dass damit nicht die migrierenden Menschen selber gemeint sind, sondern die Migration als gesellschaftliches Phänomen. So wurde eben nicht geschrieben "Migranten töten", sondern "Migration tötet". Zudem wird weder zu konkreten Maßnahmen (außer dem Wählen der Partei) aufgerufen, noch werden in anderer Weise Migrant*innen spezifisch adressiert. Des Weiteren finde ich es völlig zutreffend, hier die Umstände des Wahlkampfes mit einzubeziehen und Art. 21 I, 38 I 1 GG zu berücksichtigen: Wahlplakate sind ein wesentliches Mittel der Parteien, um Stimmen der Wähler abzugreifen und sich für ihre jeweilige Zielgruppe attraktiv darzustellen. Dabei kommt es vor allem auf Sprüche an, die prägnant sind, den Menschen ins Auge fallen und einprägsam sind. Insofern ist eine überspitzte Darstellung durchaus üblich und auch notwendig. In diesem Kontext ist m.E. auch das Wort "Invasion" zu sehen, das in eben dieser überspitzten Form den Zuzug von Menschen anspricht. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass das Wahlplakat durchaus auf tatsächliche Umstände Bezug nimmt (auch wenn es diese stark überzeichnet), denn schon allein aufgrund der größeren Anzahl von Personen infolge von Migration nimmt die absolute Anzahl an Straftaten und auch Tötungsdelikten zu. Summa summarum ist das Wahlplakat also durchaus als Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung zu verstehen. Natürlich ist eine andere (nachteiligere) Interpretation ebenso denkbar und vielleicht auch naheliegender. Die hohe Bedeutung, die Art. 5 I 1 Alt. 1, 21 I, 38 I 1 GG aber im Gefüge der verfassungsmäßigen Ordnung einnehmen, zwingt hier aber dazu, die für die Klägerin günstigere Auslegung zu unterstellen.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

24.3.2025, 07:49:21

Hallo @[FW](139488), vielen Dank Dir für den Beitrag und @[Müslimanagerin](100047), @[MenschlicherBriefkasten](151200), @[Timurso](197555), @[BGB OK](284560), und @Natalie für die Ergänzungen und die (weitestgehend) faire und vernünftige Diskussion. Du, FW, sprichst hier natürlich einige valide Punkte an, über die man durchaus diskutieren kann. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass wir es mit einer sehr wertungsabhängigen Frage iRd

Meinungsfreiheit

zu tun haben. Erfahrungsgemäß wird dabei die ohnehin schon nicht immer trennscharfe rechtliche Abgrenzung (mitunter stark) von persönlichen und politischen Überzeugungen geprägt, in beide Richtungen des politischen Spektrums. Eine gute rechtliche Argumentation (auch bei Prüfungsaufgaben) zeichnet sich insoweit dadurch aus, dass man seine Ausführungen nicht auf einen "G

esi

nnungsaufsatz" darüber reduziert, was falsch/richtig und vernünftig/unvernünftig ist, sondern die vertretene Auffassung möglichst mit rechtlichen Kriterien unterfüttert. Wie man sich dann entscheidet, ist für die rechtliche (!) Güte der Argumentation in einem Fall wie hier nicht so entscheidend. Wie so etwas aussehen kann, hat vor allem @[Simon](131793) mit seinem Beitrag sehr schön gezeigt. Inhaltlich sind alle, die mit der Entscheidung und Argumentation des BVerwG Probleme haben, in guter Gesellschaft: Das OVG Münster hatte es in der Vorinstanz noch deutlich anders gesehen (Urt v 22.6.2021 - Az 5 A 1386/20, BeckRS 2021, 35199). Der Senat begründete das in erster Linie mit dem Kontext und den Hintergründen der Äußerung. Auch auf den Begriff der Invasion wird explizit eingegangen (BeckRS 2021, 35199, Rn 78). Konkret zu Deinem Beitrag, @Natalie, weil Du uns gezielt taggst: Dass jede gerichtliche Entscheidung "richtig" ist, haben wir nie behauptet, wobei ohnehin zu klären wäre, was "richtig" genau meint. Wir stellen hier lediglich eine (durchaus kontroverse) Entscheidung des BVerwG dar. Dass Du das Urteil auf einer persönlichen Ebene schwer nachvollziehen kannst, kann ich gut verstehen. Wie gesagt ist eine andere Einschätzung sicher gut vertretbar, wobei ein pauschaler Verweis auf die gesellschaftlichen und sozialen Folgen der Entscheidung rein rechtlich (!) ein eher schwaches Argument ist. Dass sich das persönliche Empfinden ohnehin nicht immer mit der rechlichen Bewertung deckt, lernen wir als Juristinnen und Juristen ja sowieso schon recht früh in der Ausbildung. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

TI

Timurso

12.2.2025, 12:05:50

Ist ein besonderes

Fortsetzungsfeststellungsinteresse

nicht nur bei der

Erledigung vor Klageerhebung

erforderlich, während bei der echten Fortsetzungsfeststellungssituation bei

Erledigung

nach Klageerhebung bereits jedes rechtliche oder wirtschaftliche Interesse ausreicht, was in der Regel durch die Gerichtskosten bereits erfüllt ist?

BLAC

Blackbird

12.2.2025, 14:40:46

Hallo Timurso, Du darfst die

Fortsetzungsfeststellungsklage

nicht mit der (allgemeinen) Feststellungsklage verwechseln. Bei der Feststellungsklage genügt für das

Feststellungsinteresse

jedes schutzwürdige Interesse wirtschaftlicher, rechtlicher oder ideeller Art. Bei der

Fortsetzungsfeststellungsklage

brauchst du immer ein

Fortsetzungsfeststellungsinteresse

. Bei dieser Klageart geht es ja gerade darum, dass der (möglicherweise

rechtswidrig

e) VA schon erledigt ist ( Anfechtungssituation) oder der Erlass eines VA (

rechtswidrig

) abgelehnt wurde/ unterlassen wurde, sich aber das Begehren erledigt hat (Verpflichtungssituation). Im Prinzip könnte das Gericht dann sagen: "Warum soll hier überhaupt noch etwas geprüft werden?" Eine Prüfung ist aber notwendig wenn eine der besonderen Fallgruppen vorliegt - gerade wenn die Gefahr besteht, dass wieder ein solcher VA erlassen wird (Wiederholungsgefahr) oder z.B bei einem schwerwiegenden Grundrechts

eingriff

.

AS

as.mzkw

12.2.2025, 16:21:02

Hätte man bzgl der Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs nicht auf

Art. 19 III GG

eingehen müssen? Denn Parteien selbst sind ja keine natürlichen Personen.

MI

milatequila

10.3.2025, 11:20:16

ich verstehe nicht ganz, warum "Migration tötet" keine unwahre

Tatsachen

behauptung darstellt und somit warum der Schutzbereich der

Meinungsfreiheit

überhaupt eröffnet ist. Schließlich handelt es sich ja um eine Aussage, die empirisch überprüfbar ist und bei der man von ausgehen kann, dass die "N-Partei" weiß, dass sie falsch ist, oder nicht? Danke!

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

24.3.2025, 10:28:20

Hallo @[Mila0802](292210), das dürfte eine Auslegung sein, die zumindest für unseren Fall hier kaum mehr vertretbar ist. Die von Dir angenommene "

Tatsachen

behauptung" ist doch schon inhaltlich gar nicht klar: Welche (Art von) Migration ist denn gemeint (legale, illegale, jegliche)? Und wen "tötet" sie und wodurch/wie? Wir wissen natürlich, welche Partei diese Aussage getroffen hat und in welche Richtung sie vermutlich gemeint war. Das können wir aber rechtlich nicht ohne Weiteres unterstellen und so aus einer insgesamt recht wertungsoffenen Aussage eine Tatesachenbehauptung konstruieren. Jedenfalls handelt es sich hier nicht um eine "reine"

Tatsachen

behauptung, die unmittelbar dem Beweis zugänglich wäre. Im Anschluss müssten wir dann schauen, ob die Tatsache wirklich unrichtig ist, was sich logischerweise nicht beantworten lässt, ohne eine hinreichend klare

Tatsachen

behauptung zu haben. Aber selbst beim Wahrheitsgehalt müssten wir eher zurückhaltend sein und dürften keine zu hohen Anforderungen stellen, weil wir den Schutzbereich der

Meinungsfreiheit

sonst unzulässig verengen würden (dazu Dreier/Kaiser, GG, 4. Aufl 2023, Art 5 Rn 61 mwN). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

MI

milatequila

27.3.2025, 13:47:40

Hallo Sebastian, das leuchtet ein, Dankeschön!


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