Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Verwaltungsrecht BT: Polizei- und Ordnungsrecht
Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)
Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)
14. Februar 2025
12 Kommentare
4,8 ★ (10.153 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der Kreisverband der N-Partei (K) hängte zur Europawahl Wahlplakate mit dem Slogan „Stoppt die Invasion – Migration tötet“ auf. Die zuständige Behörde erließ daraufhin gegen K die Verfügung, die Plakate abzuhängen oder unkenntlich zu machen.
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Einordnung des Falls
Rechtmäßigkeit einer Anordnung gegen ein Wahlplakat mit dem Slogan „Migration tötet“? (BVerwG, Urt. v. 26.04.2023 – 6 C 8.21)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Verfügung erledigte sich durch Ablauf der zum Aufhängen von Wahlplakaten berechtigten Sondernutzungserlaubnis, nachdem K Klage erhoben hat. Ist die Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. K möchte das Wahlplakat auch in zukünftigen Wahlkämpfen verwenden. Begründet dies eine Wiederholungsgefahr und damit ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse?
Ja!
3. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, wenn der Verwaltungsakt vor seiner Erledigung rechtswidrig war und den Kläger in seinen subjektiven Rechten verletzte.
Genau, so ist das!
4. Als Rechtsgrundlage für die durch die Ordnungsbehörde erlassene Verfügung kommt die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel (im Originalfall § 14 Abs. 1 OBG NRW) in Betracht.
Ja, in der Tat!
5. Die Ordnungsbehörde hat K vor Erlass der Verfügung nicht angehört und die Anhörung auch später nicht nachgeholt. Ist der Verwaltungsakt deswegen zwingend formell rechtswidrig?
Nein!
6. Hätte das Gericht aufgrund der formellen Rechtswidrigkeit der Verfügung den Verwaltungsakt zwingend aufheben müssen?
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Der Tatbestand der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel (hier § 14 Abs. 1 OBG NRW) setzt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus. Liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit u.a. dann vor, wenn das Schutzgut der Unversehrtheit der Rechtsordnung gefährdet ist?
Ja, in der Tat!
8. Ist der Slogan von Ks Wahlplakat vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erfasst?
Ja!
9. Stellt der Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ein allgemeines Gesetz dar, das Eingriffe in die Meinungsfreiheit rechtfertigen kann?
Genau, so ist das!
10. Vor einer rechtlichen Würdigung einer in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) fallenden Äußerung müssen Behörden und Gerichte ihren Sinn zutreffend erfassen.
Ja, in der Tat!
11. Bei der Interpretation der Äußerungen kommt es stets auf das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen an.
Nein!
12. Der Wahlkampf ist ein Begleitumstand, der bei der Interpretation des Slogans zu berücksichtigen ist.
Genau, so ist das!
13. Der Slogan lässt sich einerseits so deuten, als würde behauptet, dass die in Deutschland lebenden Migranten töten, andererseits als würde die Migrationspolitik der Bundesregierung kritisiert.
Ja, in der Tat!
14. Die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) der K ist begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FW
12.2.2025, 09:39:57
Moin, ich finde das Wort „Invasion“ wurde hier viel zu wenig berücksichtigt. Denn eine Invasion führt sofort zu einer negativen Konnotation des Anhangs „Migration tötet“. Eine Invasion stammt nämlich aus dem Militär und meint das Vordringen feindlicher Truppen. Daraus wird m.E. auch die feindliche Gesinnung der NPD gegenüber allen Migranten deutlich, sodass hier nicht nur konstruktive Kritik an der Migrationspolitik geäußert wird, sondern bewusst ein Feindbild geschaffen wird. Ähnlich wie bei der Entscheidung „Soldaten sind Mörder“ wird somit nicht nur die Institution angegriffen, sondern die dahinerstehenden Personen. In diesem Fall alle Migranten.
Müslimanagerin
12.2.2025, 10:16:00
Ich finde das Urteil auch sehr fragwürdig. Selbst bei Berücksichtigung der Situation des Wahlkampfes vermittelt die Aussage zusammen mit der Bezeichnung als Invasion eine klare Botschaft: "Migration ist tödlich, denn Migrant*innen töten" Die Kritik der Bundespolitik steckt da freilich automatisch mit drin, ist aber aus meiner Sicht eine nebenbei, eher unterschwellig mitklingende Aussage und nicht der Kerngehalt.

MenschlicherBriefkasten
12.2.2025, 10:28:36
@[FW](139488) Auch diesbezüglich gilt das Prinzip, zu einer möglichst der Meinungsfreiheit Geltung verschaffenden Deutung zu kommen. Deine Interpretation des Wortes "Invasion" ist eben nur eine Deutungsvariante. "Invasion" ist nicht zwingend in einem militärischen Kontext zu deuten. In der Naturwissenschaft spricht man bspw. von invasiven Arten. Weiter dazu: "Als biologische Invasion bezeichnet man allgemein die durch Menschen verursachte Ausbreitung einer gebietsfremden Art in einem Gebiet, in dem sie ursprünglich nicht heimisch war. " (Ingo Kowarik: Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa, S. 17.) Dass die NPD sich mit ihrer Verwendung des Wortes Invasion auf die tatsächlich stattfindende Einwanderung bezieht, ist jedenfalls nicht völlig abwegig, sodass dieser Deutungsvariante der Vorzug zu gegen ist i.S.d. Art. 5 I GG. @[Müslimanagerin](100047) Dass die Bezeichnung diese klare Botschaft vermittelt, ist wiederum nur eine Deutungsvariante. Wie gesagt, es ist aber jene Variante zu wählen, die unter die Meinungsfreiheit fällt. In der Klausur könntest du wahrscheinlich trotzdem argumentieren, dass es hier offensichtlich sei.
Timurso
12.2.2025, 12:12:15
@[FW](139488) gerade wegen deinem Vergleich mit "Soldaten sind Mörder": auch dort wurden, wie du sagst, die Soldaten (sogar noch viel expliziter) gemeint und dennoch war die Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt. Warum sollte es deiner Meinung nach hier anders sein?

FW
12.2.2025, 12:28:02
@[MenschlicherBriefkasten](151200) Aber selbst wenn man auch der biologischen Variante folgt, wäre das ja erst recht verwerflich. Dann würde man ja Migranten indirekt als eine gebietsfremde Art bezeichnen. Das wäre ja noch viel schlimmer als nur von einer objektiven Invasion in Form eines Eindringens ins deutsche Staatsgebiet zu sprechen. @[Timurso](197555) Und zu der Entscheidung des BVerfG. Ich hatte die Entscheidung anders im Kopf, vermutlich die Verurteilung des BGH wegen Beleidigung, die durch das BVerfG aufgehoben wurde. Deswegen nehme ich das Argument zurück. Trotzdem sehe ich hier eine Strafbarkeit wegen § 130 I Nr. 2 Alt. 3 StGB, da die Meinungsfreiheit der NPD nicht die Menschenwürde alle Migranten überwiegt.

MenschlicherBriefkasten
12.2.2025, 12:33:22
@[FW](139488) Was man "erst recht verwerflich" findet, spielt aber keine Rolle. Die Meinungsfreiheit ist sehr weitreichend, auch als "verwerflich" empfundene Aussagen fallen grundsätzlich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Und auch die Aussage mit der gebietsfremden Art ist mMn noch vom Schutzbereich umfasst.

BGB OK
12.2.2025, 17:11:47
@[FW](139488) ich glaube, dass du ganz schön subjektiv wirst. Gebietsfremd ist quasi der Inbegriff von Migration, es ist ja gerade der Wechsel aus der Heimat in ein neues Gebiet? Jedenfalls sehe ich alle Varianten dieser Äußerung als von Art. 5 I GG als gedeckt an. Angesichts der tatsächlichen Statistiken stellt sich sogar die Frage, ob hier nicht auch eine Tatsachenbehauptung vorliegt, die zwar überspitzt ausgedrückt ist, aber doch auf einem erweislich wahren Kern beruht. In der Folge wäre eine Verletzung der Menschenwürde unter Bezug auf Tatsachen dann vielleicht sogar besonders dringen abzulehnen.
Natalie
12.2.2025, 19:08:08
@[Jurafuchs](137809) nicht jede gerichtliche Entscheidung ist zwingend richtig?! Ich finde es hier schwer nachvollziehbar von einer anderen Kernbedeutung auszugehen, als dass Migrant*innen töten und somit noch weiter Hass und Hetze zu schüren. Dass darin auch Kritik an der Migrationspolitik mitschwingt ist doch kein sinnvolles Gegenargument? Man hätte hier zumindest einmal klarstellen können, dass man das auch sehr gut anders sehen kann. Und zu meinem Vorredner @[BGB OK](284560) Was für Statistiken?! Migrant*innen töten nicht mehr oder weniger als Nicht-Migranten*innen. #Nazisraus

MenschlicherBriefkasten
13.2.2025, 10:16:31
@[Natalie](280642) Du solltest schon Aktivismus von Rechtswissenschaft unterscheiden können.
Timurso
12.2.2025, 12:05:50
Ist ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht nur bei der Erledigung vor Klageerhebung erforderlich, während bei der echten Fortsetzungsfeststellungssituation bei Erledigung nach Klageerhebung bereits jedes rechtliche oder wirtschaftliche Interesse ausreicht, was in der Regel durch die Gerichtskosten bereits erfüllt ist?
Blackbird
12.2.2025, 14:40:46
Hallo Timurso, Du darfst die Fortsetzungsfeststellungsklage nicht mit der (allgemeinen) Feststellungsklage verwechseln. Bei der Feststellungsklage genügt für das Feststellungsinteresse jedes schutzwürdige Interesse wirtschaftlicher, rechtlicher oder ideeller Art. Bei der Fortsetzungsfeststellungsklage brauchst du immer ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Bei dieser Klageart geht es ja gerade darum, dass der (möglicherweise rechtswidrige) VA schon erledigt ist ( Anfechtungssituation) oder der Erlass eines VA (rechtswidrig) abgelehnt wurde/ unterlassen wurde, sich aber das Begehren erledigt hat (Verpflichtungssituation). Im Prinzip könnte das Gericht dann sagen: "Warum soll hier überhaupt noch etwas geprüft werden?" Eine Prüfung ist aber notwendig wenn eine der besonderen Fallgruppen vorliegt - gerade wenn die Gefahr besteht, dass wieder ein solcher VA erlassen wird (Wiederholungsgefahr) oder z.B bei einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff.
as.mzkw
12.2.2025, 16:21:02
Hätte man bzgl der Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs nicht auf Art. 19 III GG eingehen müssen? Denn Parteien selbst sind ja keine natürlichen Personen.