Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2022
Offene Videoüberwachung eines Bahnhofsvorplatzes durch die Polizei
Offene Videoüberwachung eines Bahnhofsvorplatzes durch die Polizei
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der Polizeipräsident der Stadt K ordnet das Anbringen von Videoüberwachungskameras auf dem Bahnhofsvorplatz an. Er begründet seine Entscheidung damit, dass der Platz ein Kriminalitätsschwerpunkt sei.
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Einordnung des Falls
Offene Videoüberwachung eines Bahnhofsvorplatzes durch die Polizei
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Bürger B meint, die Videoüberwachung sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet, soweit ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht werden (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Ja!
3. B müsste einen (Anordnungs-)Anspruch auf Unterlassung der Videoüberwachung haben. Dieser Unterlassungsanspruch kann sich unmittelbar aus einem Grundrecht ableiten, wenn dessen Verletzung droht.
Genau, so ist das!
4. Ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch könnte sich aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ergeben. Greift die Videoüberwachung in den Schutzbereich dieses Rechts ein?
Ja, in der Tat!
5. Jeder Grundrechtseingriff bedarf einer Rechtfertigung. § 15a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PolG NRW kommt als rechtfertigende Norm in Betracht. Die Norm müsste dafür aber verfassungsgemäß sein.
Ja!
6. § 15a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PolG NRW ist formell verfassungsgemäß, insbesondere ist sie von der Gesetzgebungskompetenz des Landes aus Art. 70 Abs. 1 GG gedeckt.
Genau, so ist das!
7. Um materiell verfassungsgemäß sein, müsste § 15a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PolG NRW insbesondere verhältnismäßig sein.
Ja, in der Tat!
8. Die offene Videoüberwachung verfolgt mit der Verhütung von Straftaten an öffentlich zugänglichen Orten einen legitimen Zweck und ist zu dessen Erreichung auch geeignet.
Ja!
9. Die offene Videoüberwachung des Bahnhofvorplatzes ist zudem zur Zweckerreichung erforderlich.
Genau, so ist das!
10. Ist die offene Videoüberwachung angemessen?
Ja, in der Tat!
11. Die offene Videoüberwachung verletzt Bs Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG).
Nein!
12. Während Versammlungen auf dem Bahnhofsvorplatz sind die Videokameras erkennbar ausgeschaltet, allerdings nicht unmittelbar davor und danach. Ist Bs Versammlungsfreiheit hierdurch verletzt?
Genau, so ist das!
13. Auch ein Anordnungsgrund ist bzgl. Bs Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gegeben.
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Edward Hopper
12.10.2022, 22:08:39
Wieso ist die Anordnung kein VA? Hätte jetzt auf eine allgemeinverfügung getippt. Oder fehlt regelungswirkung? Regelungswirkung kann doch hier die
duldungspflicht sein?
Simon
12.10.2022, 23:24:43
Eine Allgemeinverfügung kann mE schon deshalb nicht vorliegen, weil bei Anordnung der Videoüberwachung kein (zumindest) bestimmbarer Personenkreis vorliegt. Wer sich auf dem Platz aufhalten wird ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Auch eine Regelungswirkung ist mE problematisch, da der Polizeipräsident ja nicht direkt ggü den Bürgern die Überwachung anordnet, sondern nur eine innerdienstliche Weisung erlässt. Die Beamten stellen bringen dann einfach die Kamera an. Eine
Duldungsverfügung nur durch Aufstellen der Kamera anzunehmen, wirkt schon sehr gezwungen. Die
Duldungder Maßnahme ergibt sich v.a. aus der tatsächlichen Situation, ist aber nicht rechtlicher Natur.
Edward Hopper
12.10.2022, 23:57:39
Das mit dem bestimmbaren Personenkreis: doch, alle Personen die sich auf dem Platz X aufhalten (analog wie z. B. Alkoholverbot auf dem Platz Y oder Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Gebiet Z - in den Beispielen liegt zweifelsohne VA vor) Regelungswirkung: naja so argumentiert kann man immer sagen jemand hat es intern angewiesen und die Bau
behörde/OBehohrde hat es "nur ausgeführt". Die Schwierigkeit das zu fassen liegt darin, dass vom Bürger kein
aktives Tungefordert wird, sondern lediglich "Erdulden". Bei der Kombi Erdulden + Allgemeinverfügung schließt man sofort auf keine Regelungswirkung. H.m. sieht das wohl auch so aber das ist nicht zwingend. Früher wurde nämlich beim "Dulden" ein VA fingiert da damals Klage Erfordernis. Sozusagen: "Ich setze die Regelungswirkung dass du die Maßnahme zu dulden hast". In der heutigen VwGO ist VA nicht mehr zwingend Klage Erfordernis dementsprechend m. M. Dogmatisch allerdings ist das nicht falsch sondern ungewohnt und aus der Mode.
Simon
13.10.2022, 00:28:23
Bei Alkoholverbot und Geschwindigkeitsbegrenzung handelt es sich um benutzungsregelnde Allgemeinverfügungen. Auch dort liegt im Übrigen kein bestimmbarer Personenkreis vor. Bei der Videoüberwachung kann man aber wohl nur schwerlich von einer Benutzungsregelung ausgehen. Bzgl. Regelungswirkung stimme ich dir zu, darüber kann man streiten.
Nora Mommsen
29.11.2022, 15:48:00
Danke Edward Hopper und Simon für eure rege Diskussion. In der Tat haben die Gerichte vorliegend die fehlende VA-Qualität einfach angenommen und sich nicht eingehend damit beschäftigt. Dies lässt sich damit begründen, dass sich der Rechtsbehelf des Klägers bzw. Antragsstellers im einstweiligen Verfahren gegen die Anordnung des Polizeipräsidenten richtete. Diese ist in der Tat als innerdienstliche Anordnung ohne Außenwirkung. Der Aufnahme selber wiederum, von der dann durchaus außerhalb der Verwaltung stehende betroffen sind fehlt es an der Regelungswirkung. Den Rechtsschutz beeinträchtigt es seit Einführung der allgemeinen
Leistungsklagein der VwGO nicht, sodass die Konstruktion einer
Duldungspflicht schlichtweg nicht erforderlich ist. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
anto0212
17.12.2022, 11:07:12
Bei der Frage, ob das informationelle Selbstbestimmungsrecht verletzt ist, müsste es doch eigentlich heißen ja, oder? Denn der Eingriff wurde ja bejaht, er ist aber gerechtfertigt. Oder habe ich das falsch verstanden?
BerndStromberg
21.12.2022, 15:26:45
Eine Verletzung wäre bei einem ungerechtfertigten Eingriff zu bejahen. Weil er hier jedoch gerechtfertigt ist, ist das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht verletzt.
nae3
10.2.2023, 22:48:16
Hi, ich verstehe nicht so ganz, wieso wir den Anordnungsgrund bzgl der Versammlungsfreiheit bejaht haben. Ich hätte die Dringlichkeit so ausgelegt, dass eine Veranstaltung unmittelbar bevorstehen muss?
Nora Mommsen
11.2.2023, 12:18:28
Hallo nae3, für den Anordnungsgrund ist erforderlich, dass schwere und unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der Anordnungsgrund ist also gegeben, wenn ein Abwarten der
Hauptsacheentscheidungnicht zumutbar ist. Unter Berücksichtigung der Verfahrenslänge von Verwaltungsverfahren würde das bedeuten, dass der Antragssteller über m
ehrere Jahre mit den Beeinträchtigungen leben müsste. Im Hinblick auf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit ist das Abwarten unzumutbar. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Jeon Jungkook
7.3.2023, 10:51:09
Lukas_Mengestu
7.3.2023, 13:59:30
Hallo Jeon Jungkook, beim Anordnungsanspruch prüfst Du in der Tat, ob ein (
gewohnheitsrechtlich anerkannter)
öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruchvorliegt. Dieser setzt voraus: (1)
hoheitliche Maßnahme, (2)Beeinträchtigung rechtlich geschützter Güter, (3) drohende oder andauernde Beeinträchtigung und (4) Rechtswidrigkeit (=keine
Duldungspflicht). Im Hinblick auf die Beeinträchtigung kommen dann die Grundrechte als geschützte
Rechtsgüterins Spiel. Hier haben wir zwar sowohl eine Beeinträchtigung der inforationellen Selbstbestimmung, als auch der Versammlungsfreiheit. Da die Beeinträchtigung der informationellen aber gerechtfertigt ist, erfolgt sie nicht rechtswidrig. Insoweit liegt nur im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit eine rechtswidrige Beeinträchtigung vor, die einen Anordnungsanspruch begründet. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
jurafuchsles
16.9.2024, 09:39:30
Ich glaube die Frage kommt daher, da ihr in der Aufgabe schreibt, dass der
Abwehranspruchdirekt aus den Grundrechten stammt. Das wäre hier auch möglich, aber der öffentliche-rechtliche Erstattungsanspruch ist als einfach-Gesetzliche Regelung vorrangig?
Sambadi
16.4.2023, 01:19:22
Könnte man im Rahmen des
APRnoch darauf eingehen, dass der Eingriff nur oberflächlich ist, da es lediglich die Sozialsphäre betrifft? Wenn ich in einer Shopping-Mall oder anderen Privaten Einrichtungen befinde oder im Flughafen bin, sind da ja auch überall Kameras. Klar, hier wird der öffentliche Bahnhofsplatz gefilmt und nicht ein umschlossenes Gebiet, bei dem ich selbst entscheiden könnte, ob ich reingehe oder nicht, aber sind wir mal ehrlich - einkaufen muss ich früher oder später trotzdem und da ist es normal. Fände in so eine Konstellation eher die Frage spannend, wie lange die
Behördediese Aufnahmen speichern darf und ob sie die auch nach 72 Std oder wie viel das auch sind, wieder löschen muss.
DDoubleYou
7.8.2024, 01:26:02
Hello @[Sambadi](136933), nach § 15 II PolG NRW dürfen die gewonnenen Aufnahmen für höchstens 14 Tage gespeichert werden. Ob das nun zu lang oder angemessen ist, ist eine andere Frage :)
DDoubleYou
7.8.2024, 01:26:37
* § 15a II PolG NRW
SvzW
17.8.2023, 19:54:51
Auch wenn man natürlich klausurtaktisch selten ein großes Problem bei der Geeignetheit macht, finde ich es tatsächlich problematisch ob die Maßnahmen überhaupt geeignet ist. Es gibt genug Studien usw. die zeigen, dass eine Videoüberwachung Straftaten nicht verhindern und damit eben nicht präventiv wirken. Finde es daher merkwürdig das unproblematisch anzunehmen. Das OVG hätte das mM zumindest kurz problematisieren können. Bzgl. der Aufklärung begangener Straftaten hängt es natürlich von der Qualität der Aufnahmen ab,
Dodo
17.9.2023, 02:50:53
Muss den zweck doch nur fördern. Denke das Argument passt eher zur Erforderlichkeit, allerdings wirkt da doch die Einschätzungsprägorative limitierend, Studien reichen da nicht aus denke ich
Hannah B.
8.11.2023, 10:07:16
Am Anfang wird die
formelle und materielle Verfassungsmäßigkeitder Norm geprüft. Bei dem Punkt Erforderlichkeit wird hier plötzlich auf die Einzelmaßnahme abgestellt („Bahnhofsvorplatz“). Müsste man nicht erst mal die
materielle Verfassungsmäßigkeitder Norm komplett durchprüfen, bevor man zur Rechtmäßigkeit der Einzelmaßnahme springt?
Pilea
20.11.2023, 19:54:12
Hier wurde in der Erforderlichkeit unter anderem darauf abgestellt, dass die Bewachung durch Polizeibeamte staatliche Ressourcen binden und den Landeshaushalt belasten würde. Ich dachte immer, damit darf der Staat nicht argumentieren, weil das eben zum Wesen der Finanzen gehört, dass der Staat sie irgendwie verteilen muss. Bringe ich da grad was durcheinander?
An
24.11.2023, 09:54:02
Liebes Team, könntet ihr die POR norm ggf auch noch verlinken, das würde die Beantwortung der Frage insb. für Lernende aus anderen Bundesländern leichter machen. Dankeschön
Nora Mommsen
24.11.2023, 12:21:04
Hallo An, danke dir für die Anregung! Wir bemühen uns redlich stets alle Normen zu verlinken, die in den Aufgaben vorkommen. Leider ist es gerade bei landesrechtlichen Normen so, dass die Websites so veraltet sind, dass die Verlinkung nicht gut funktioniert. Ich bitte um Nachsicht, wenn die Verlinkung mal nicht vorhanden oder fehlerhaft ist! Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
An
25.11.2023, 11:57:42
Danke dir fürs Kümmern!
Charliefux
28.4.2024, 23:13:04
Die Normen sind leider immer noch nicht verlinkt 😬
Dogu
3.10.2024, 14:49:09
Rechtschreibfehler in der Lösung.
Linne_Karlotta_
7.10.2024, 11:32:26
Hallo Dogu, vielen Dank für Deinen Hinweis! Wir haben den Fehler auf unsere Liste gesetzt und werden ihn im nächsten Korrekturgang beheben. Deine Aufmerksamkeit hilft uns, die Qualität unserer Inhalte hochzuhalten. Wir werden diesen Thread als erledigt markieren, sobald wir den Fehler behoben haben. Beste Grüße, Linne_Karlotta_, für das Jurafuchs-Team