Strafrecht

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Entscheidungen von 2024

Operation des falschen Patienten (BGH, Beschl. v. 17.04.2024 – 1 StR 403/23)

Operation des falschen Patienten (BGH, Beschl. v. 17.04.2024 – 1 StR 403/23)

10. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Arzt A verwechselt Patienten P mit G. A sterilisiert P. Als A der Irrtum auffällt, offenbart er dem P seinen Fehler und vermittelt ihn an eine Spezialistin. Zwei Wochen später wird Ps Zeugungsfähigkeit in einer OP wiederhergestellt, wobei Unsicherheiten bezüglich des Erfolgs der OP verbleiben.

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Einordnung des Falls

Operation des falschen Patienten (BGH, Beschl. v. 17.04.2024 – 1 StR 403/23)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 25 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A könnte sich wegen Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er P sterilisierte (§ 223 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Dafür müsste A den P körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt haben. Er müsste zudem vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.
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2. Ein ärztlicher Heileingriff erfüllt unstrittig immer den objektiven Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB.

Nein!

„Klar“ ist, dass ärztliche Eingriffe in der Regel nicht zu einer Strafbarkeit des Arztes führen können. Es stellt sich jedoch die Frage, auf welcher „Ebene“ die Straflosigkeit begründet wird. Nach st. Rspr. erfüllen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auch dann den Tatbestand des § 223 StGB, wenn sie als ärztliche Heileingriffe und lege artis durchgeführt werden. Denn nur so würde das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewahrt und eigenmächtige Eingriffe ausgeschlossen. Die Strafbarkeit von Ärzten entfällt (erst) auf der Rechtfertigungsebene, wenn der Patient in den Eingriff einwilligt. Die h.L. sieht bei Eingriffen, die auf Wiederherstellung oder Erhalt des körperlichen Wohls abzielen und dies im Erfolgsfall auch erreichen oder zumindest körperliche Beschwerden linderen keine objektive Körperverletzung. Denn diese Handlung sei ihrem sozialen Sinngehalt nach nicht auf Verletzung ausgerichtet.

3. Die Sterilisation ist nicht auf die Wiederherstellung oder den Erhalt körperlichen Wohls gerichtet und soll auch keine Beschwerden lindern. Ist somit ein Streitentscheid zwischen den Ansichten der Rspr. und der h.Lit. nötig?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach st. Rspr. ist jeder ärztliche Eingriff als tatbestandliche Körperverletzung zu werten. Nach der h.L. kommt es darauf an, ob der Eingriff auf die Wiederherstellung oder den Erhalt körperlichen Wohls abzielt oder körperliche Beschwerden lindern soll. Die Sterilisation ist ein Eingriff, der nicht auf die Wiederherstellung oder den Erhalt körperlichen Wohls abzielt oder körperliche Beschwerden lindern soll. Er ist damit auch nach Ansicht der h.L. eine körperliche Misshandlung. Ein Streitentscheid ist entbehrlich.Wenn du bereits die Tatbestandsmäßigkeit des Eingriffs ablehnst, schneidest Du dir meist wichtige Folgeprobleme ab. Denk deswegen ruhig klausurtaktisch und folge in „Arztfällen” der ständigen Rspr.

4. A dachte, er würde G operieren, der in die Sterilisation eingewilligt hatte. Fehlte A damit der Vorsatz zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands von § 223 Abs. 1 StGB?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands in Kenntnis aller objektiven Tatumstände handelt. Irrt der Täter lediglich über die Identität des Tatobjekts, liegt ein sog. error in persona vor. Wenn die Tatobjekte gleichwertig sind, handelt es sich um einen reinen Motivirrtum, der sich nicht auf den Vorsatz auswirkt. A wollte den vor ihm liegenden Patienten - einen anderen Menschen - sterilisieren und so im Sinne der Norm körperlich misshandeln. Er hielt P lediglich für G und irrte so über die Identität der Person. (= error in persona). Da P – wie G – ein Mensch ist, ist As Irrtum aufgrund der Gleichwertigkeit der Tatobjekte ein unbeachtlicher Motivirrtum.

5. P hatte vor dem Eingriff seine Zustimmung zu einer OP am Arm erteilt. Hat P wirksam in den vorgenommenen Eingriff eingewilligt?

Nein!

As Strafbarkeit könnte auf Rechtfertigungsebene entfallen. In Betracht kommt eine rechtfertigende Einwilligung. Voraussetzungen für eine rechtfertigende Einwilligung sind: (1) Disponibles Rechtsgut (2) Einwilligungsfähigkeit (3) Einwilligungserklärung (4) Keine Willensmängel (5) Keine Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB) (6) Subjektives Rechtfertigungselement. Die körperliche Unversehrtheit ist grundsätzlich ein disponibles Rechtsgut. P hat allerdings nie erklärt, dass A ihn sterilisieren dürfte. Vielmehr wollte P den Eingriff überhaupt nicht. Eine Rechtfertigung durch Einwilligung scheidet aus.Achtung! Prüfst Du in der Klausur eine rechtfertigende Einwilligung, solltest du im Obersatz nicht den § 228 StGB zitieren. Denn der bezieht sich nur auf die Sittenwidrigkeit, nicht aber auf die Voraussetzungen der Einwilligung. Diese sind gesetzlich nicht geregelt.

6. G wollte sich von A sterilisieren lassen und hatte dies auch erklärt. Wäre As Eingriff gerechtfertigt gewesen, wenn A tatsächlich den G operiert hätte?

Genau, so ist das!

Ja! Denn G war der „richtige Patient“, welcher wirksam in den Eingriff eingewilligt hatte. In solchen „Verwechslungsfällen“ drängt sich die Frage auf, ob sich der Irrtum des Täters auf seine Strafbarkeit auswirkt. Da wir uns auf der Ebene der Rechtswidrigkeit befinden, könnte man zunächst an einen Erlaubnistatbestandsirrtum denken. Aber Achtung: Überlege dir immer ganz genau, worauf sich dieser beziehen muss und ob das zu deinem konkreten Fall passt! Bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum (ETbI) glaubt der Täter, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gegeben sind, obwohl sie tatsächlich nicht vorliegen. Ein typischer ETbI ist es etwa, wenn der Täter davon ausgeht, angegriffen zu werden und sich deswegen in vermeintlicher Notwehr verteidigt - tatsächlich greift ihn aber niemand an.

7. A dachte, G hätte wirksam in den Eingriff eingewilligt, was auch der Fall war. Unterliegt A deswegen einem Irrtum über die Rechtswidrigkeit (sog. Erlaubnistatbestandsirrtum)?

Nein, das trifft nicht zu!

Bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum (ETbI) glaubt der Täter, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gegeben sind, obwohl sie tatsächlich nicht vorliegen. Ein typischer ETbI ist es etwa, wenn der Täter davon ausgeht, angegriffen zu werden und sich deswegen in vermeintlicher Notwehr verteidigt - tatsächlich greift ihn aber niemand an.A dachte, G hätte wirksam in die Sterilisation eingewilligt. G hat auch tatsächlich wirksam in den Eingriff eingewilligt. A irrte deswegen nicht über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Er irrte allein darüber, wen er gerade operiert. Es handelt sich nur um einen unbeachtlichen error in persona. Wenn Du bereits auf tatbestandlicher Ebene deutlich gemacht hast, um welchen Irrtum es sich handelt, kannst Du dich auf Rechtswidrigkeitsebene auch kürzer halten.

8. Handelte A rechtswidrig und schuldhaft?

Ja!

Es sind keine (anderen) Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe ersichtlich. A handelte rechtswidrig und schuldhaft. Er hat sich nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er P sterilisierte.

9. A könnte sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er P sterilisierte (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2 StGB).

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2 StGB sind: (1) Körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung (2) Durch Beibringung von Gift und/oder (3) Mittels eines gefährlichen Werkzeugs Zudem müsste A vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.In den meisten Fällen wird ein Arzt eine OP auch gemeinsam mit einem Team durchführen. Dann kommt auch die Tatvariante der gemeinschaftlichen Begehung mit einem anderen Beteiligten in Betracht (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB). In diesem knappen Sachverhalt finden sich aber keine Hinweise auf andere Beteiligte, weswegen wir diese Variante hier nicht prüfen.

10. P wurde für die OP narkotisiert. Ist das Narkosemittel ein Gift im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB?

Ja, in der Tat!

Ein Gift ist jeder anorganische oder organische Stoff, der durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkung die Gesundheit zu beeinträchtigen vermag. Auf den Aggregatzustand des Stoffes kommt es dabei nicht an.Das Narkosemittel hat P für einen nicht unerheblichen Zeitraum sediert. Es ist zudem generell geeignet die Gesundheit eines Menschen zu beeinträchtigen. Ein Narkosemittel ist ein Gift im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB.

11. Das Skalpell, das A für den Eingriff genutzt hat, könnte grundsätzlich ein gefährliches Werkzeug sein (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB).

Ja!

Ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB ist jeder bewegliche Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und Art seiner Verwendung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.Ein Skalpell bei einer OP ist grundsätzlich geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Allerdings ist es umstritten, ob das von einem Arzt fachgerecht geführte Skalpell ein gefährliches Werkzeug ist.

12. A hat das Skalpell fachgerecht und nicht zum Angriff oder zur Verteidigung verwendet. Könnte dies dafür sprechen, das Skalpell als gefährliches Werkzeug abzulehnen?

Genau, so ist das!

Der BGH hat lange argumentiert, dass das gefährliche Werkzeug nur ein Unterfall der Waffe sei. Es müsse deswegen waffenähnlich eingesetzt werden. Das fachgerecht geführte Skalpell werde aber nicht als Angriffs- oder Verteidigungsmittel eingesetzt und damit nicht von § 224 StGB erfasst.Der BGH hat diese Rspr. geändert (Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23): diese Argumentation sei seit der Neufassung des § 223a a.F. in § 224 StGB nicht mehr tragfähig, da jetzt die Waffe einen Unterfall des gefährlichen Werkzeugs darstelle. Es müsse deswegen kein Angriffs- oder Verteidigungsmittel sein. Dafür spräche auch der Telos der Norm, der gerade auf die konkret gefährliche Verwendungsweise im Einzelfall abziele.

13. P hat in die eigentlich geplante OP eingewilligt. Könnte As Handeln (Narkotisierung und Verwenden des Skalpells) deswegen gerechtfertigt sein?

Ja, in der Tat!

Die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands indiziert die Rechtswidrigkeit. Sie entfällt, wenn das Verhalten ausnahmsweise wegen eines Rechtfertigungsgrundes erlaubt ist. Hier kommt eine Einwilligung des P in Betracht.P hat zwar nicht in die Sterilisation, aber in die eigentlich geplante OP eingewilligt. Er hat damit auch erklärt, mit der Narkose einverstanden zu sein. Zudem hat er darin eingewilligt, dass die OP mit einem Skalpell - wie bei OPs Standard - ausgeführt wird. A handelte damit nicht rechtswidrig. Eine Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2 StGB scheidet damit aus.Allerdings hat P nur eingewilligt, bei der geplanten OP mit einem Skalpell operiert zu werden. A hat für die Sterilisation weitere Schnitte benötigt. Mit entsprechender Argumentation ist auch vertretbar, dass die Sterilisation mit dem Skalpell nicht mehr von der ursprünglichen Einwilligung gedeckt ist. Der BGH hat sich im Originalfall nicht dazu geäußert.

14. A könnte sich aber wegen schwerer Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er P sterilisierte (§§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2 StGB).

Ja!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2 StGB sind: (1) Körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung (1) Kausaler Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit (1) Spezifischer Gefahrzusammenhang A müsste zudem vorsätzlich bezüglich des Grunddelikts und absichtlich oder wissentlich bezüglich der schweren Folge gehandelt haben. Er müsste die Tat auch rechtswidrig und schuldhaft begangen haben. Grundsätzlich reicht es für die Verwirklichung des § 226 StGB aus, dass der Täter die schwere Folge fahrlässig verursacht. Führt er sie aber absichtlich oder wissentlich herbei, führt das gemäß § 226 Abs. 2 StGB zu einer erhöhten Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe.

15. P war lediglich für zwei Wochen zeugungsunfähig. Reicht dieser Zeitraum aus, um die schwere Folge (Fortpflanzungsunfähigkeit) bejahen zu können?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine schwere Folge im Sinne der § 226 Abs. 1 Nr. 1 - 3 StGB muss von „längerer Dauer” sein. Zwar muss die Folge nicht unheilbar sein. Es reicht jedoch, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des krankhaften Zustands nicht absehbar ist (RdNr. 15).Bis zu erneuten OP, die P’s Fortpflanzungsfähigkeit wieder herstellen sollte, vergingen lediglich zwei Wochen. Das genügt nicht, um eine schwere Folge von längerer Dauer anzunehmen.

16. P wurde zwei Wochen später erneut operiert. Es ist nicht sicher, ob er jetzt wieder zeugungsfähig ist. Reicht es für die Erfolgsqualifikation des § 226 StGB aus, wenn es möglich ist, dass die schwere Folge eingetreten ist?

Nein, das trifft nicht zu!

§ 226 StGB ist eine Erfolgsqualifikation. Sie ist nur verwirklicht, wenn die Tat auch wirklich Erfolg hatte. Ist es nicht sicher, ob die schwere Folge tatsächlich eingetreten ist, gilt der Grundsatz in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten.Bei der zweiten OP wurde versucht Ps Zeugungsfähigkeit wiederherzustellen. Es ist nicht sicher, ob das gelungen ist. Wenn Zweifel bestehen, ob ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht wurde, darf das nicht zulasten des Angeklagten gehen. Insofern ist davon auszugehen, dass P wieder fortpflanzungsfähig ist und A den objektiven Tatbestand nicht verwirklicht hat. A hat sich somit nicht gemäß §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2 StGB strafbar gemacht.

17. A könnte sich wegen versuchter schwerer Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er P sterilisierte (§§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2, 22, 23 StGB).

Ja!

Dafür müsste die Vorprüfung ergeben, dass die Tat nicht vollendet und der Versuch des Delikts strafbar ist. Dann müsste A mit Tatentschluss unmittelbar zur Tat angesetzt haben. Zudem müsste er rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben und dürfte nicht mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten sein.

18. A war entschlossen P zu sterilisieren und ihn so fortpflanzungsunfähig zu machen (Tatentschluss). Hat er auch unmittelbar zur Tat angesetzt?

Genau, so ist das!

Ein unmittelbares Ansetzen liegt vor, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschreitet und objektiv Handlungen vornimmt, die bei ungestörtem Fortgang ohne wesentliche Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung führen oder mit ihr in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen.A hat P im Zuge der OP sterilisiert. Er hat damit unmittelbar zur Tat angesetzt. In den Fällen, in denen die tatbestandliche Handlung – wie hier – bereits abgeschlossen ist, kannst Du ein unmittelbares Ansetzen ohne Weiteres bejahen.

19. A handelte dabei rechtswidrig und schuldhaft. Ist die Prüfung der versuchten schweren Körperverletzung damit abgeschlossen?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Tat ist dann nicht strafbar, wenn der Täter vom Versuch zurückgetreten ist (§ 24 Abs. 1 S. 1 StGB). Voraussetzungen dafür sind: (1) Kein fehlgeschlagener Versuch (2) Erforderliche Rücktrittshandlung (3) Freiwilligkeit

20. Der Täter kann von der Tat nur zurücktreten, wenn diese noch nicht fehlgeschlagen ist.

Ja!

Ein Versuch gilt als fehlgeschlagen, wenn aus Sicht des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung der Erfolg nicht mehr herbeigeführt werden kann, ohne eine völlig neue Kausalkette in Gang zu setzen. Es ist jedoch umstritten, wie sich ein error in persona auf den Fehlschlag der Tat auswirkt.

21. A hat sich in der Identität des Patienten geirrt. Wollte er G jetzt operieren, müsste er einen völlig neuen Kausalverlauf in Gang setzen. Könnte das dafür sprechen, dass der Versuch fehlgeschlagen ist?

Genau, so ist das!

So eine Meinung in der Literatur: Bei einem error in persona schlage der Versuch schon dann fehl, wenn der Täter bemerke, dass er sich im Tatobjekt geirrt habe. Denn dann würde er in der Regel erkennen, dass er die ursprünglich geplante Tat (am „geplanten Opfer”) nicht mehr ohne relevante zeitliche Zäsur herbeiführen könne. Dem halten die Rspr. und eine andere Literaturmeinung entgegen, dass der Opferschutz es gebiete, dass auch bei einem error in persona ein Rücktritt möglich ist. Das stärke die Motivation des Täters, Rettungshandlungen einzuleiten. Zudem meine der Tatbegriff des § 24 StGB die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also Tathandlung und -erfolg. Diese beziehe sich hier auf einen „anderen Menschen” (den P) an dem der Taterfolg noch eintreten könne (RdNr. 18). Wie so oft beim Thema Rücktritt stehen sich hier im Grundsatz zwei Positionen gegenüber: Rücktritt als Privilegierung des Täters vs. Rücktritt zur Förderung des Opferschutzes.

22. Nach der Rspr. konnte A grundsätzlich von der versuchten schweren Körperverletzung zurücktreten. Unterscheiden sich die Anforderungen an die erforderliche Rücktrittshandlung danach, ob ein unbeendeter oder ein beendeter Versuch vorliegt (§ 24 Abs. 1 S. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Nach der Rspr. wirkt sich der error in persona nicht auf den Fehlschlag des Versuchs aus. Klausurtaktisch ist diese Ansicht insofern „die bessere“, als dass Du den Rücktritt weiter prüfen kannst. Ein unbeendeter Versuch (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB) liegt vor, wenn der Täter zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung sicher annimmt, dass es weiterer Handlungen bedarf, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Dann genügt für den Rücktritt die bloße Aufgabe der Tat. Ein Versuch ist dann beendet (§ 24 Abs. 1. S. 1 Alt. 2 StGB), wenn der Täter meint, alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Liegt ein beendeter Versuch vor, muss der Täter die Vollendung aktiv verhindern.

23. A hat P erfolgreich sterilisiert. Liegt damit ein beendeter Versuch vor (§ 24 Abs. 1. S. 1 Alt. 2 StGB)?

Ja!

Ein Versuch ist dann beendet (§ 24 Abs. 1. S. 1 Alt. 2 StGB), wenn der Täter meint, alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. A hat P sterilisiert. Würde er jetzt nichts weiter tun, bliebe P für längere Dauer unfruchtbar. A hat damit nach seiner Vorstellung alles getan, damit der tatbestandliche Erfolg eintritt. Es liegt ein beendeter Versuch vor.Um erfolgreich vom Versuch zurückzutreten muss A deswegen die Vollendung der Tat verhindern.

24. Hat A den tatbestandlichen Erfolg des §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 (Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit) verhindert?

Genau, so ist das!

Ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts ist grundsätzlich auch dadurch möglich, dass der Täter das Eintreten der Folge verhindert, nachdem er zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan hatte (RdNr. 22).A klärte P über seinen Fehler auf. Er verwies ihn auch an eine Spezialistin, damit dieser in einer weiteren OP die Sterilisation rückgängig machen könnte. Das setzte eine neue Kausalkette in Gang, die dazu führte, dass P wieder fruchtbar wurde. Damit hat A eine „optimale” Rettungsmaßnahme ergriffen (RdNr. 22).Im Originalfall hatte der Arzt womöglich versucht, seinen Fehler zunächst zu vertuschen. Das sah der BGH aber nicht als schädlich an: Verschleierungshandlungen schlössen einen Rücktritt nicht aus, außer, die Verschleierung sei der alleinige Zweck.

25. A könnte also wirksam von der versuchten schweren Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2, 22, 23 StGB) zurückgetreten sein. Müsste er dafür freiwillig zurückgetreten sein?

Ja, in der Tat!

Ein Rücktritt geschieht freiwillig, wenn er nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlasst wird, sondern der eigenen autonomen Entscheidung des Täters entspringt, der Täter also „Herr seiner Entschlüsse" geblieben ist. Das Landgericht München I argumentierte gegen As Freiwilligkeit: As Tatplan hätte sich auf G bezogen, A wollte G sterilisieren und will das auch weiterhin. Durch seine Handlungen hätte A nicht freiwillig davon Abstand genommen, G zu sterilisieren. Dem widerspricht der BGH: für die Bewertung der Freiwilligkeit sei der Tatplan nicht maßgeblich (RdNr. 24). Es müsste auf den konkreten Rücktrittshorizont nach der letzten Ausführungshandlung geschaut werden. Es muss also bewertet werden, ob der Rücktritt auf die schwere Körperverletzung an P freiwillig war. Weil das LG zur Freiwilligkeit keine Feststellungen getroffen hatte, verwies der BGH den Fall dorthin zurück. „Sicher“ ist bisher also nur eine Strafbarkeit des A gemäß § 223 Abs. 1 StGB. Hinzukommen könnte noch eine Strafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, Abs. 2, 22, 23 StGB.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Johannes Nebe

Johannes Nebe

29.10.2024, 07:19:25

Danke für diesen schön aufbereiteten Fall. Der Begriff "elektiver Eingriff" bezieht sich normalerweise nicht auf die Frage, ob Schmerzen oder eine Funktionsstörung behoben werden sollen, sondern auf die Wahl (eligere = auswählen) des Eingriffszeitpunkts. Sie ist bei einem e. E. (relativ) frei, i. Ggs. zu einem Notfalleingriff. Ich kann mir auch bei kaputtem und schmerzendem Knie elektiv ein künstliches Gelenk einsetzen lassen.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

29.10.2024, 17:03:11

Hey @[Johannes Nebe](174311), danke für den Hinweis. Ich habe den Fehler korrigiert. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

NI

Niro95

29.10.2024, 07:52:56

Hallo zusammen, ich bin mir nicht sicher, ob die Frage zum vorliegen bzw. Nichtvorliegen des ETBI hier korrekt aufbereitet ist. Der Fall hier geht ja davon aus, dass ETBI deshalb nicht vorliegt, weil ein error in persona auf RF-Ebene dies nicht begründen können. Ich denke, das ist falsch. Wenn man sich das BGH-Urteil durchliest sieht man, dass sich der BGH zum ETBI nicht geäußert hat. In der NStZ 2024, 611 gibt es eine Entscheidungskommentierung. Dort schreiben Kudlich/Schütz: „I. Wirft man nach der Lektüre des Sachverhalts einen ersten Blick in die Entscheidungsgründe, ist man etwas überrascht, dass der Senat so rasch zur Rücktrittsfrage kommt. Eine Patientenverwechslung, bei der die für Patient X geplante Operation an Patient Y durchgeführt wird, beinhaltet normalerweise zunächst einmal eine Rechtfertigungsfrage oder genauer: einen möglichen Irrtum über das Vorliegen einer Einwilligung, soweit Patient X nach ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hatte. Der Arzt stellt sich hier das Vorliegen einer wirksamen Einwilligung vor und befindet sich demnach in einem Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. auch Ulsenheimer/Gaede/Biermann, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2021, Rn. 501). Unabhängig davon, wie man diesen dogmatisch im Detail behandelt (vgl. statt vieler nur BeckOK StGB/Kudlich, 60. Ed. 2024, StGB § 16 Rn. 22 ff.), wäre er gegenüber dem Rücktritt als

Strafaufhebungsgrund

jedenfalls vorrangig zu prüfen. II. Auch wenn das im Urteil nirgends explizit mitgeteilt wird, hätte aber auch die Operation am anderen Patienten wohl nicht auf der Basis einer wirksamen Einwilligung stattgefunden; so wird für die Operation an diesem Patienten zwei Wochen später geschildert, dass es an einer Genehmigung des Betreuungsgerichts (vgl. § 1905 BGB aF) bzw. an der Einschaltung eines Sterilisationsbetreuers (vgl. § 1899 Abs. 2 BGB aF; vgl. nunmehr auch § 1830 Abs. 2 BGB) gefehlt hatte. Insoweit würde natürlich gelten: Grundsätzlich kann nur dann, wenn die Umstände, die der Täter sich vorstellt, auch tatsächlich zu einem Rechtfertigungsgrund führen, die Vorstellung davon einen Erlaubnistatbestandsirrtum tragen (vgl. auch – im Kontext des Stichworts „Doppelirrtum“ – BeckOK StGB/Kudlich StGB § 16 Rn. 25 f.).“ Ich hoffe, es ist in Ordnung hier einen Teil wörtlich zu zitieren. Danach setzen sich die Autoren mit verschiedenen möglichen Konstellationen auseinander. Ich denke deshalb, dass die Ausführungen hier im Fall falsch sind.

MAWE

Maren Wellnitz

29.10.2024, 07:58:58

Klingt nachvollziehbar, das würde mich auch interessieren!

MOEE4

moee44

29.10.2024, 09:11:47

Zumindest wegen deines zweiten Punktes, also der unwirksamen Einwilligung solltest Du beachten, dass sich die Entscheidung des BGH und Fall hier unterscheiden. In der BGH Entscheidung war der sterilisierte Patient nämlich noch 17 Jahre alt, also minderjährig. Bei Minderjährigen ist es so, dass sie selbst nicht in eine Sterilisation einwilligen können (§ 1631c S. 2 BGB) und auch die Eltern dazu nicht berechtigt sind (§ 1631c S. 1 BGB). Für eine Sterilisation am Minderjährigen muss daher das Gericht einen Sterilisationsbetreuer bestellen (§ 1830 Abs. 1 BGB) und das Gericht der Sterilisation auch noch selbst zustimmen (§ 1830 Abs. 2 S. 1 BGB). Von daher war für den BGH die Einwilligung der Eltern unwirksam und der Arzt in keinem Fall gerechtfertigt. Der Fall hier hat diese Problematik offensichtlich ausgeklammert. Zumindest ist die Minderjährigkeit des P nicht im Sachverhalt angesprochen.

NI

Niro95

29.10.2024, 09:13:31

Genau, aber gerade deshalb meine ich, dass der ETBI mit der hier zugrunde gelegten Fallgestaltung - anders als im BGH-Fall - durchginge

MOEE4

moee44

29.10.2024, 09:29:55

Ah oh, ich hatte deinen Kommentar falsch verstanden.

ROBE

Robert

30.10.2024, 10:39:12

Ich sehe es so wie Niro95. Aktuell scheint mir die Lösung hier nicht korrekt. - entweder wird der Sachverhalt so angepasst, dass klargestellt wird, dass die Einwilligung des G in die Sterilisation nicht wirksam ist. - Oder der Sachverhalt geht von einer wirksamen Einwilligung des G aus. Dann würde aber meiner Meinung nach ein ETBI vorliegen.

KI

kithorx

31.10.2024, 15:11:58

Ich teile die Zweifel, hatte beim Durcharbeiten des Falls ähnliche Gedanken.

KIT

KiTo

29.10.2024, 14:34:09

Bei der Strafbarkeit des A wegen Versuch des

§ 226 StGB

wird die Ansicht angeführt, die den Versuch beim error in persona des Täters stehts als fehlgeschlagen ansieht, wenn der Täter bemerkt, dass er sich im

Tatobjekt

geirrt hat. M.E. - und vielleicht habe ich es auch nur falsch verstanden - wirkt sich diese Ansicht im hiesigen Fall jedoch nicht aus. Geprüft wird der Versuch zu Lasten des P und nicht zu Lasten des G. Der Grund dafür den Fehlschlag hinsichtlich des eigentlich vom Tatplan umfassten Opfers anzunehmen, ist, dass bei Herbeiführung des

Taterfolg

s an einem anderen - wenn auch gleichwertigen -

Tatobjekt

, der vom Täter in Gang gesetzte Kausalverlauf mit

Taterfolg

beim getroffenen

Tatobjekt

beendet wird und der Täter wohl glaubt das ursprünglich ausgewählte

Tatobjekt

nicht mehr ohne zeitliche Zäsur angreifen zu können. Aber diesbezüglich wäre eine

versuchte schwere Körperverletzung

zu Lasten des G ohnehin von dessen rechtfertigender Einwilligung gedeckt. Für die Frage der Strafbarkeit wegen Versuchs des § 226 gegenüber P stellt sich indes schon die Frage nicht, ob A möglicherweise den G verletzen wollte - zumindest sehe ich hier keine Ergebnisrelevanz. Mithin käme die angeführte Literaturmeinung hier nicht zum tragen. Wie ist dieser Teil eurer Ausführungen demnach zu verstehen? Oder wo liegt mein Denkfehler?

AM

Api M.

30.10.2024, 16:25:14

Ist es hier nicht gerade so, dass A sich Umstände vorstellt, die ihn bei tatsächlichem Vorliegen rechtfertigen würden? Zwar ist der error in persona auf Tb-Ebene unerheblich, allerdings geht es bei der Einwilligung doch gerade um die Person des Rechtsgutsberechtigten. Hier stellte sich A vor, dass gerade dieser in folgende OP einwilligte, sodass ein ETBI vorliegen müsste. Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bleibt, wenn man der h.M. folgt und § 16 analog anwendet, unberührt.


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