1. A könnte sich wegen Beihilfe zum Suizid strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Medikament gab.
Nein, das ist nicht der Fall!
Beihilfe kann nur zu einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat geleistet werden (§ 27 Abs. 1 StGB). Der Suizid ist aber nicht strafbar!. Eine strafbare Beihilfe zum Suizid ist damit unmöglich.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.
2. A könnte sich (auch im Jahr 2024) wegen geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Mittel übergab (§ 217 Abs. 1 StGB).
Nein, das trifft nicht zu!
Das BVerfG hat im Jahr 2020 den damals noch bestehenden § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Dabei hat das Gericht ausgeführt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) „als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben [umfasst]. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. [...] Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“ (BVerfG, 2 BvR 2347/15). Da eine Strafbarkeit wegen § 217 StGB ganz evident nicht in Betracht kommt – denn diese Norm ist nichtig! – solltest Du sie in der Klausur nicht anprüfen! Die Überlegungen des BVerfG können dir aber bei deiner späteren Argumentation in der Klausur helfen. Die Entscheidung des BVerfG zu § 217 StGB haben wir hier für Dich aufbereitet. 3. A könnte sich wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Medikament gab (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB).
Ja!
Objektive Voraussetzungen dafür sind:
(1) Erfolgseintritt: Tod eines Menschen
(2) Verursachungsbeitrag
(3) Zurechnung der Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen durch den Tatmittler
A müsste zudem vorsätzlich bezüglich der Tatbestandsverwirklichung und der die Tatherrschaft begründenden Umstände, sowie rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.
4. S ist zwar tot, es fehlt allerdings ganz offensichtlich an einem Verursachungsbeitrag des A.
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Verursachungsbeitrag bei der mittelbaren Täterschaft ist die Einwirkungshandlung des Hintermanns auf den Vordermann.A hat S das tödliche Medikament gegeben. Nachdem S es einnahm, starb S daran. In der Übergabe des tödlichen Medikaments liegt ein kausaler Verursachungsbeitrag für S' Tod.
5. Damit A der Tatbestandserfolg zugerechnet wird, müsste der Tatmittler (hier: S) grundsätzlich eine „unterlegene Stellung” und der Hintermann (hier: A) eine „überlegene Stellung” inne haben.
Ja, in der Tat!
Die mittelbare Täterschaft beruht darauf, dass der Hintermann den Vordermann zu seinem „Werkzeug” macht. Das geschieht dadurch, dass der Vordermann eine „unterlegene Stellung” inne hat, also (in der Regel) einen Strafbarkeitsmangel aufweist - etwa, indem er unvorsätzlich oder gerechtfertigt handelt. Der Hintermann hat eine „überlegene Stellung” inne, wenn er die Tatherrschaft über das Geschehen hat.Eine Ausnahme bilden Fälle des sog. „Täters hinter dem Täter”. In diesen Konstellationen ist der Vordermann (auch) strafbar – es liegt gerade kein Strafbarkeitsmangel vor. Allerdings kann der Hintermann aber dennoch Zentralgestalt des Geschehens und deshalb mittelbarer Täter sein. Mehr dazu und zur mittelbaren Täterschaft allgemein findest Du hier in unserem Kurs zum Strafrecht-AT. 6. Bei S liegt ein Strafbarkeitsmangel und damit die nötige „unterlegene Stellung” vor.
Ja!
Beim Tatmittler müsste auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene ein Strafbarkeitsmangel vorliegen, der seine Strafbarkeit ausschließt (sog. deliktisches Minus). Wenn der Tatmittler eine Schädigung an eigenen Rechtsgütern vornimmt (sei es am eigenen Körper oder am eigenen Eigentum), so ist dieses Verhalten strafrechtlich nicht relevant. S tötete sich mit dem Medikament selbst. S hat damit den objektiven Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB nicht erfüllt. Dass bei einer Selbsttötung ein Strafbarkeitsmangel des Tatmittlers besteht, ist ziemlich „klar“ – Du kannst dich an dieser Stelle also auch kürzer fassen. Das LG Berlin I geht in der Originalentscheidung auf diesen Punkt überhaupt nicht ein, sondern befasst sich lediglich intensiv mit As „überlegener Stellung“ als Hintermann.
7. Damit A der Tod des S zugerechnet werden kann, müsste A Tatherrschaft gehabt haben.
Genau, so ist das!
Dem Hintermann wird der Taterfolg nur zugerechnet, wenn er eine „überlegene Stellung” gegenüber dem Vordermann in dem Sinne hat, dass er die Tat beherrscht. Diese Tatherrschaft besteht meist kraft überlegenen Wissens oder Wollens.In Fällen, in denen der Vordermann sich selbst verletzt oder tötet besteht keine Tatherrschaft, wenn der Vordermann freiverantwortlich handelt. Dann ist der Suizid rechtlich als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts anzuerkennen und die reine „Suizidhilfe“ strafrechtlich nicht relevant (siehe hierzu: BGH, Urteil vom 03.07.2019 – 5 StR 393/18, RdNr. 13, 17). In Fällen der Selbsttötung kommt eine mittelbare Täterschaft also grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Tatmittler unfrei handelt und damit gerade nicht als „Werkzeug gegen sich selbst“, sondern als Werkzeug des Hintermanns agiert.
8. S war psychisch erkrankt. Könnte das dagegen sprechen, dass sein Suizid freiverantwortlich war?
Ja, in der Tat!
Voraussetzung für ein freiverantwortliches Handeln ist zunächst die uneingeschränkte Fähigkeit, einen Willen frei bilden zu können. Diese Fähigkeit kann durch eine starke psychische Erkrankung erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben sein. Der Suizid ist im rechtlichen Sinne dann nicht freiverantwortlich.Im Originalfall hatte das LG Berlin I (nach einer umfangreichen Beweisaufnahme) angenommen, dass S durch die Depression erheblich in der Fähigkeit zur Bildung eines freien Willens eingeschränkt war und bereits aus diesem Grund die Freiverantwortlichkeit von S' Suizid angezweifelt.Achtung! Nicht jede psychische Erkrankung führt dazu, dass die Fähigkeit einen Willen zu bilden eingeschränkt oder aufgehoben ist. Wenn es im Sachverhalt keine weiteren Anhaltspunkte dafür gibt, darfst Du von dem schlichten Vorliegen einer psychischen Krankheit nicht auf die Unfähigkeit zur Willensbildung schließen!
9. S hatte Sorge, sein Suizidversuch werde erneut scheitern. Er war sich deswegen unsicher, ob er es erneut versuchen sollte. Spricht dieser Umstand für eine Freiverantwortlichkeit des Suizids?
Nein!
Neben der bloßen Fähigkeit zur Bildung eines freien Willens muss der Sterbewunsch auch von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen sein.
S war sich unsicher, ob er den Suizid begehen sollte. Er tat es erst, nachdem A ihr versichert hatte, zur Not „nachzuhelfen”. S Sterbewunsch war damit nicht dauerhaft und von innerer Festigkeit getragen.
10. A versicherte S, der Angst vor einem erneuten Fehlschlag des Suizidversuchs hatte, dass er zur Not „nachhelfen” würde. Tatsächlich hatte er das nicht vor. Kann dieses Versprechen bei der Frage, ob S' Suizid freiverantwortlich war, berücksichtigt werden?
Genau, so ist das!
A hat versprochen, zur Not „nachzuhelfen”. Er hat S so die Sorge vor einem Fehlschlag des Suizids genommen. A hat Einfluss auf ihre Entscheidung ausgeübt. Das spricht nach Ansicht des LG Berlin I gegen eine Freiverantwortlichkeit des Suizids.In der Rspr. gibt es bisher keine absolut trennscharfen Kriterien, wann ein Suizid als freiverantwortlich anzusehen ist. Auch hat der Gesetzgeber nach der BVerfG-Entscheidung von 2020 kein neues Sterbehilfegesetz erlassen und somit keine Leitlinien aufgestellt, nach denen die Freiverantwortlichkeit bemessen werden könnte. Das vom BVerfG betonte Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben wird damit erschwert, da sich Sterbehelfer einem teils undefinierten Strafbarkeitsrisiko aussetzen.In der Klausur ist es wichtig, dass Du mit den Angaben des Sachverhalts arbeitest und argumentierst, was für oder gegen die Freiverantwortlichkeit sprechen könnte.
11. A wusste, dass S in seiner Entscheidung schwankte. Handelte A vorsätzlich?
Ja, in der Tat!
A wusste, dass er mit der Übergabe der Medikamente einen Verursachungsbeitrag für S' Tod leistete. Er wusste auch, dass S Angst vor einem Fehlschlag hatte und versprach ihm bewusst, S notfalls zu helfen. Nach Ansicht des LG Berlin I handelte er damit vorsätzlich bezüglich der die Tatherrschaft begründenden Umstände.
Originalfall: Die Verteidigung des Arztes führte an, er habe bei S eine große seelische Not und die Entschlossenheit gesehen, notfalls einen sog. Gewaltsuizid zu begehen. An S' Urteils- und Entscheidungsfreiheit habe er zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Seine Verurteilung als mittelbarer Täter vernachlässige vielmehr S' ernsthaften Sterbewunsch.A handlte auch rechtswidrig und schuldhaft.
12. In Fällen, in denen die getötete Person sterben möchte, musst Du grundsätzlich auch an den § 216 StGB denken.
Ja!
Der § 216 StGB soll privilegieren, dass der Täter sich durch das suizidähnliche Verlangen hat leiten lassen. Durch den angestrebten Rechtsgutsverzicht ist das Unrecht der Tat gemindert, und wegen der Motivation der Tat (Mitleidskonflikt, Hilfsmotivation) auch die Schuld. Voraussetzung ist aber ein ernstliches und ausdrückliches Bestimmen des Getöteten zur Tat.Nach Ansicht der h.Lit. ist § 216 StGB eine Privilegierung zum Grundtatbestand § 212 StGB, nach der Rspr. ein eigener Tatbestand. Im Ergebnis sind sich aber beide Ansichten einig, dass § 216 StGB eine Sperrwirkung gegenüber § 212 StGB entfaltet. Folgt man der Ansicht der Rspr. müsste man den § 216 StGB konsequenterweise vor dem § 212 StGB prüfen.
13. Hat S die Tötung im Sinne des § 216 Abs. 1 StGB „ernstlich verlangt”?
Nein, das ist nicht der Fall!
Das Tötungsverlangen ist ernstlich, wenn es von freiem Willen getragen und zielbewusst auf Tötung gerichtet ist. Es dürfen keine Willensmängel vorliegen.
Ein Verlangen in depressiver Augenblicksstimmung genügt jedenfalls dann nicht, wenn es nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit, also von einer tieferen Reflexion des Tatopfers über seinen Todeswunsch getragen wird.S' Willensentschluss war erheblich durch ihre Depression und das Versprechen des A beeinflusst. Auch war S schwankend in seinem Entschluss Suizid begehen zu wollen. Seine Entscheidung war damit nicht von hinreichender Festigkeit und Dauer. Die Freiverantwortlichkeit seines Handelns war (wie im Rahmen der Prüfung des § 212 Abs. 1 StGB dargestellt) demnach erheblich eingeschränkt. Es lagen Willensmängel vor. Hier hat es sich angeboten, den § 216 StGB als mögliche Privilegierung (h.Lit.) zu prüfen und damit auf die Willensmängel, die Du bereits ausführlich geprüft hast, zu verweisen.
14. A hat sich nach § 212 Abs. 1 StGB des Totschlags strafbar gemacht. Muss er zwingend mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bestraft werden (§§ 212 Abs. 1, 213 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Ein Totschlag wird gem. § 212 Abs. 1 StGB grundsätzlich mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Der § 213 StGB sieht für einen minder schweren Fall des Totschlags eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren vor. Das LG Berlin hat hier einen minder schweren Fall bejaht: A habe aus dem altruistischen Motiv gehandelt, S von seinem leidvollen Zustand zu erlösen. Zudem habe er verhindern wollen, dass S wegen mangelnder Hilfe einen „Gewaltsuizid” begehe, sich also auf eine riskantere, unter Umständen schmerzhafte und gewaltvolle Suizidmethode verlege. Das LG Berlin I ist deshalb zu einem Strafmaß von drei Jahren Freiheitsstrafe gelangt.
15. Der Fall wurde in erster Instanz vor dem LG Berlin I verhandelt. Stehen A gegen das Urteil Rechtsmittel zur Verfügung?
Ja!
Gegen erstinstanzliche Urteile am Landgericht ist gem. § 333 StPO das Rechtsmittel der Revision zum BGH statthaft.Der verurteilte Arzt hat Revision eingelegt. Was an diesem Fall äußerst ungewöhnlich ist: der Vorsitzende Richter hat das in seiner mündlichen Urteilsbegründung befürwortet! Grund dafür sei, dass die zugrundeliegenden Rechtsfragen - mangels gesetzlicher Regelung - höchstrichterlich geklärt werden sollten.Das Urteil ist also noch nicht rechtskräftig! Es ist durchaus möglich, dass der BGH das Urteil aufhebt, abändert und/oder die relevanten Maßstäbe konkretisiert. Wir halten Dich auf dem Laufenden!