Examensrelevante Rechtsprechung
Rechtsprechung Strafrecht
BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung, u.a.
Ernsthaftigkeit des Suizidwillens - Grenzen der Sterbehilfe (LG Berlin I, Urt. v. 08.04.2024, 540 Ks 2/23)
Ernsthaftigkeit des Suizidwillens - Grenzen der Sterbehilfe (LG Berlin I, Urt. v. 08.04.2024, 540 Ks 2/23)
12. Juli 2025
16 Kommentare
4,7 ★ (29.479 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Content Note: In diesem Fall geht es um Suizid.
S ist depressiv und will sterben. S bittet Arzt A, ihm ein tödliches Medikament zu geben. Weil S Sorge hat, der Suizidversuch werde - wie bereits einmal geschehen - scheitern, ist er unsicher und will, dass A zur Not „nachhelfe“. A verspricht es. S nimmt das Medikament eigenständig ein und stirbt daran.
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Einordnung des Falls
Ernsthaftigkeit des Suizidwillens - Grenzen der Sterbehilfe (LG Berlin I, Urt. v. 08.04.2024, 540 Ks 2/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A könnte sich wegen Beihilfe zum Suizid strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Medikament gab.
Nein, das ist nicht der Fall!
2. A könnte sich (auch im Jahr 2024) wegen geschäftsmäßiger Förderung des Suizids strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Mittel übergab (§ 217 Abs. 1 StGB).
Nein, das trifft nicht zu!
3. A könnte sich wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht haben, indem er S das tödliche Medikament gab (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB).
Ja!
4. S ist zwar tot, es fehlt allerdings ganz offensichtlich an einem Verursachungsbeitrag des A.
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Damit A der Tatbestandserfolg zugerechnet wird, müsste der Tatmittler (hier: S) grundsätzlich eine „unterlegene Stellung“ und der Hintermann (hier: A) eine „überlegene Stellung“ innehaben.
Ja, in der Tat!
6. Bei S liegt ein Strafbarkeitsmangel und damit die nötige „unterlegene Stellung“ vor.
Ja!
7. Damit A der Tod des S zugerechnet werden kann, müsste A Tatherrschaft gehabt haben.
Genau, so ist das!
8. S war psychisch erkrankt. Könnte das dagegen sprechen, dass sein Suizid freiverantwortlich war?
Ja, in der Tat!
9. S hatte Sorge, sein Suizidversuch werde erneut scheitern. Er war sich deswegen unsicher, ob er es erneut versuchen sollte. Spricht dieser Umstand für eine Freiverantwortlichkeit des Suizids?
Nein!
10. A versicherte S, der Angst vor einem erneuten Fehlschlag des Suizidversuchs hatte, dass er zur Not „nachhelfen“ würde. Tatsächlich hatte er das nicht vor. Kann dieses Versprechen bei der Frage, ob S' Suizid freiverantwortlich war, berücksichtigt werden?
Genau, so ist das!
11. A wusste, dass S in seiner Entscheidung schwankte. Handelte A vorsätzlich?
Ja, in der Tat!
12. In Fällen, in denen die getötete Person sterben möchte, musst Du grundsätzlich auch an den § 216 StGB denken.
Ja!
13. Hat S die Tötung im Sinne des § 216 Abs. 1 StGB „ernstlich verlangt“?
Nein, das ist nicht der Fall!
14. A hat sich nach § 212 Abs. 1 StGB des Totschlags strafbar gemacht. Muss er zwingend mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bestraft werden (§§ 212 Abs. 1, 213 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
15. Der Fall wurde in erster Instanz vor dem LG Berlin I verhandelt. Stehen A gegen das Urteil Rechtsmittel zur Verfügung?
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FalkTG
26.1.2025, 19:48:23
Es ist m.E. als nicht juristisch gebildeter Arzt heute nahezu Lotto, ob man ins Gefängnis kommt oder nicht. Nachfrage: Verlangt nicht eine
mittelbare Täterschaftein planvoll lenkendes Ausnutzen des Mangels?

CR7
27.1.2025, 23:06:47
Ja, aber damit hat sich das LG Berlin nicht näher auseinandergesetzt.

bene.sgr
23.2.2025, 11:14:38
Wer nähere Infos zu dem Fall haben möchte sei auf den Podcast „Justitias Wille“ verwiesen, um sich einen besseren Überblick über den Sachverhalt zu verschaffen :)

Linne Hempel
26.2.2025, 17:50:07
Hey @[FalkTG](241044), danke für die – aus meiner Sicht – berechtige kritische Anmerkung. Das Problem liegt hier darin, dass es (immer noch) keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die (Grenzen) der Suizidhilfe gibt. Der Auftrag liegt hier ganz klar beim Gesetzgeber. Aus diesem Grund hat der Richter in diesem Fall auch dazu „geraten“, Revision einzulegen. Wenn die gesetzlichen Grundlagen mangelhaft sind und der Gesetzgeber nicht tätig wird, kann man am Ende nur darauf hoffen, dass einmal ein Fall bis zum BVerfG „eskaliert“. Es bleibt also spannend.. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
ButchCassidy
28.6.2025, 16:05:10
Dass eine gesetzliche Grundlage fehlt, leuchtet mir ein, aber wieso werden die Grundsätze der mittelbaren Täterschaft - eben das planvolle Ausnutzen des Mangels - übergangen? Das erschließt sich mir dogmatisch nicht.

bene.sgr
23.2.2025, 13:16:08
Wer nähere Infos zu dem Fall haben möchte sei auf den Podcast „Justitias Wille“ verwiesen, um sich einen besseren Überblick über den Sachverhalt zu verschaffen :)
tigan
20.4.2025, 12:02:29
Bei der Frage, ob der Umstand, dass S Sorge hatte sein Suizidversuch werde erneut scheitern und sich deswegen unsicher war, ob er es erneut versuchen sollte für eine Freiverantwortlichkeit spricht. Ich kann verstehen, wieso da Nein als richtig Antwort angesehen wird, jedoch finde ich die Argumentation spricht doch eher für die Freiverantwortlichkeit. S hat Sorge, dass der Versuch erneut scheitert und ist sich DESWEGEN unsicher. Für mich klingt das so, als wolle S unbedingt Suizid begehen, aber hat Angst, dass es wieder NICHT funktioniert. Das spricht aus meiner Sicht für die Freiverantwortlichkeit. Auch der Umstand, dass er sich erst nach der Versicherung des Arztes dazu entscheidet, der ihm versichert nachzuhelfen spricht aus meiner Sicht dafür, dass er unbedingt sterben möchte und der Sterbewunsch dauerhaft und von innerer Festigkeit getragen ist, weil er eben keinen weiteren gescheiterten Versuch haben möchte. Die gleichen Argumente werden auch nochmal bei der Frage, ob S die Tötung ernstlich verlangt hat, vorgebracht. Da wird jedoch immerhin noch auf die Depression eingegangen. Mit dem Argument der Depression die Freiverantwortlichkeit und Ernstlichkeit abzulehnen leuchtet mir ein. Alle anderen Argumente sprechen auch meiner Sicht doch deutlich für die Freiverantwortlichkeit und die Ernstlichkeit. Vielleicht sehe ich das aber auch komplett falsch. Über andere Gedanken dazu würde ich mich sehr freuen. LG Tim
julivis
10.6.2025, 13:51:45
Find ich richtig gut, das umzudrehen! Gebe dir Recht

Linne Hempel
23.6.2025, 15:50:09
Hallo @[tigan ](296717), interessanter Gedanke! In diesen Konstellationen kommt es stark auf die Details des Einzelfalls an, die für eine Klausurbearbeitung oft – so wie hier – stark verkürzt dargestellt werden. Für die Freiverantwortlichkeit wird eine gewisse Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit des Suizidwillens verlangt. Das Schlagwort, S war sich „unsicher“, gibt einen Hinweis darauf, dass das hier auf jeden Fall problematisch ist. Im Originalfall kam hinzu, dass S sich innerhalb eines kurzen Zeitraums mehrfach umentschieden und sich zeitweise auch deutlich vom Suizidwunsch entfernt hatte. Einer Freundin sagte S, ohne As Hilfe müsse er am Leben bleiben, weil ein gewaltsamer Suizid nicht in Frage komme. Durch sein Angebot habe A nach Ansicht des BGH damit in unzulässigerweise Einfluss auf S’ Entscheidung genommen, OB er Suizid begehen soll. Mit diesem Kontext ist vielleicht ein bisschen besser nachvollziehbar, warum der BGH zu dem Schluss kommt, dass S sich gerade nicht „sicher genug“ war. Kommt ein solcher Fall einmal in der Klausur dran, wird es wohl entweder Informationen im Sachverhalt geben, die dich mit der Nase auf die (vorliegende oder mangelnde) Freiverantwortlichkeit stoßen, oder Du wirst mit der entsprechenden Begründung beide Ergebnisse gut vertreten können. Viele Grüße, Linne – für das Jurafuchs-Team

1 Leo
11.5.2025, 20:06:19
Interessanter Fall und nett aufgebaut. Chapeau

Linne Hempel
19.5.2025, 17:57:09
Hallo 1 Leo, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Linne_Karlotta_, für das Jurafuchs-Team