+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
K ist Miteigentümer eines Grundstücks, auf dem er einen Carport und eine Überdachung der Haustürfront ohne die erforderliche Genehmigung errichtet. Die zuständige Behörde ordnet K nach Anhörung an, diese Anlagen zu beseitigen.
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Einordnung des Falls
Ermessensfehlerfreie Störerauswahl bei einer baurechtlichen Beseitigungsverfügung (OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.02.2022 – 1 LA 153/20)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Gegen die Beseitigungsanordnung ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft.
Ja, in der Tat!
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (vgl. § 88 VwGO). Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist die statthafte Klageart, wenn der Kläger die Aufhebung eines gegen ihn gerichteten belastenden Verwaltungsakts (§ 35 Abs. 1 VwVfG) begehrt.
Die Beseitigungsanordnung, die die Behörde gegenüber K erlassen hat, ist ein (belastender) Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG. Somit ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO) die statthafte Klageart.
Ist die Verwaltungsakt-Qualität der streitgegenständlichen Maßnahme so unproblematisch zu bejahen wie hier, solltest Du Dich kurzfassen.
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2. Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn die Beseitigungsanordnung rechtswidrig und K dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Ja!
So sollte immer der Obersatz im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage lauten. Anschließt prüfst Du die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme in dem gewohnten Dreischritt: (1) Rechtsgrundlage, (2) Formelle Rechtmäßigkeit und (3) Materielle Rechtmäßigkeit. Im Falle der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ist zudem die Verletzung des Klägers in eigenen Rechten zu prüfen.
Gerade der letzte Prüfungspunkt, der Bestandteil des gerichtlichen Prüfungsprogramms des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ist, wird in Klausuren oft vergessen. Achte deswegen besonders darauf, dass Dir dieser Fehler nicht passiert!
3. Kommt hier als Rechtsgrundlage die bauordnungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Beseitigungsanordnung (hier: § 79 Abs. 1 S. 1 NBauO) in Betracht?
Genau, so ist das!
Nach § 79 Abs. 1 S. 1 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde, sofern bauliche Anlagen, Grundstücke, Bauprodukte oder Baumaßnahmen dem öffentlichen Baurecht widersprechen, nach pflichtgemäßen Ermessen die Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind. Dazu gehört nach § 79 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 NBauO auch die Anordnung, Anlagen oder Teile von Anlagen zu beseitigen (Beseitigungsanordnung). Die Bauordnungen aller Bundesländer enthalten entsprechende Ermächtigungsgrundlagen (z.B. § 80 S. 1 BauO Bln, § 76 Abs. 1 S. 1 HBauO, § 81 LBauO Rh-Pf).
Rechtsgrundlage für die Maßnahme der zuständigen Behörde ist § 79 Abs. 1 S. 2 NBauO, denn hier finden sich die tatbestandlichen Voraussetzungen. Liegen diese vor, so kann die Behörde insbesondere eine Besitigungsanordnung nach § 79 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 NBauO erlassen (Rechtsfolge).
An der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung bestanden im Ausgangsfall keine Zweifel. Insbesondere wurde K vorher angehört (§ 28 Abs. 1 VwVfG). 4. Ein Widerspruch zum öffentliche Baurecht ergibt sich hier daraus, dass die baulichen Anlagen ohne die erforderliche Genehmigung errichtet wurden.
Ja, in der Tat!
Anlagen, die nach der einschlägigen Bauordnung oder anderen Vorschriften einer Genehmigung bedürfen, dürfen ohne diese nicht errichtet werden. Ansonsten ist die Anlage formell illegal und verstößt gegen das öffentliche Bauordnungsrecht, konkret gegen die Vorschriften, die die Genehmigungsbedürftigkeit festsetzen (hier §§ 59ff. NBauO).
Hier waren beide Anlagen – sowohl der Carport als auch die Überdachung der Haustürfront – nach den einschlägigen Vorschriften genehmigungsbedürftig. Da sie ohne die erforderliche Genehmigung errichtet wurden, waren sie formell illegal (RdNr. 8).
Achtung: Die Frage, ob bauliche Anlagen genehmigungspflichtig oder genehmigungsfrei bzw. verfahrensfrei sind, ist eine Frage des jeweiligen Landesrechts und wird gerade bei kleinen baulichen Anlagen – wie hier – je nach Bundesland unterschiedlich geregelt. Subsumier hier sauber unter die entsprechenden Vorschriften zum Genehmigungsverfahren.
5. Ist es für eine Beseitigungsanordnung ausreichend, dass die zu beseitigende bauliche Anlage formell illegal – also ohne die erforderliche Genehmigung – errichtet wurde?
Nein!
Die Beseitigungsanordnung stellt eine besonders eingriffsintensive Maßnahme dar. Deswegen wird überwiegend gefordert, dass die Anlage, deren Beseitigung angeordnet wird, nicht nur formell, sondern auch materiell illegal sein muss. Materiell illegal ist eine Anlage, wenn sie gegen materielles öffentliches Baurecht verstößt. Ein solcher Verstoß kann sich aus einem Verstoß gegen Bauplanungs- oder gegen Bauordnungsrecht ergeben.
Es stellte sich hier insbesondere die Frage, ob die Anlagen, die hier im Bereich eines wirksamen Bebauungsplans liegen, gegen dessen Festsetzungen verstoßen und damit gemäß § 30 Abs. 1 BauBG unzulässig sind.
Die Frage kannst Du auch im Rahmen des Ermessens in der Verhältnismäßigkeit ansprechen. Denn die Beseitigungsanordnung, die nur als ultima ratio in Betracht kommt, ist unverhältnismäßig, wenn die Anlage zwar formell illegal – also ohne Baugenehmigung – errichtet wurde, aber genehmigungsfähig ist, weil sie nicht gegen öffentliches Baurecht verstößt.
Dass eine Beseitigungsanordnung nicht nur die formelle Illegalität der adressierten baulichen Anlage voraussetzt – wie etwa Nutzungsuntersagung oder Einstellungsverfügung –, sondern darüber hinaus auch die materielle Illegalität verlangt, ist eine Erwägung der Verhältnismäßigkeit. Sie lässt sich auch am Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage mancher Bundesländer festmachen. Danach ist die Beseitigungsanordnung zulässig, „wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können“ (z.B. § 65 Abs. 1 S. 1 LBO BW, § 80 S. 1 BauO Bln, § 81 S. 1 LBauO Rh-Pf, nicht jedoch § 79 Abs. 1 NBauO).
6. Carport und Überdachung verstoßen hier gegen die Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans. Kommt es für die Frage, ob die Anlagen im Widerspruch zum öffentlichen Baurecht stehen, auf den Zeitpunkt der Errichtung der Anlagen an?
Nein, das ist nicht der Fall!
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine Anlage im Widerspruch zum öffentlichen Baurecht steht, ist der Zeitpunkt des bauaufsichtlichen Einschreitens nach § 79 NBauO. Ob die Anlage somit zum Zeitpunkt ihrer Errichtung genehmigungsfähig gewesen ist, ist somit unerheblich.
Hier widersprachen die Anlagen im Zeitpunkt des behördlichen Einschreitens den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans und standen somit im Widerspruch zu öffentlichem Baurecht i.S.d. § 79 NBauO. Unabhängig davon waren die Anlagen auch zum Zeitpunkt ihrer Errichtung nicht genehmigungsfähig, sodass sich K auch insofern nicht auf Bestandsschutz berufen konnte (RdNr. 8, 16).
Ein Grund für die Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des behördlichen Einschreitens ist die Tatsache, dass der Bauherr die formelle Legalität seines Vorhabens ja selbst in der Hand hatte, indem er eine Baugenehmigung hätte erwirken können. Unterlässt er dies bei einem genehmigungspflichtigen Vorhaben, kann es auch nicht auf die Frage ankommen, ob das Vorhaben möglicherweise zu einem früheren Zeitpunkt genehmigungsfähig gewesen wäre.
7. K kann sich aber auf Bestandsschutz berufen, weil das Haus bei seinem Einzug vor 26 Jahren bereits ein Vordach hatte und er dieses nur erneuert bzw. erweitert hat.
Nein, das trifft nicht zu!
K berief sich hier auf einen aus Art. 14 GG folgenden „überwirkenden“ Bestandsschutz. Einen solchen gibt es aber nur nach Maßgabe einfachgesetzlicher Regelungen, die vorliegend fehlten. Zudem erfasst ein solcher Bestandsschutz nur den vorhandenen Bestand; er endet mit der Beseitigung der Anlage und umfasst insbesondere nicht den Bau einer neuen (erweiterten) Anlage (RdNr. 17) – wie sie hier von K errichtet wurde.
8. Im Falle von formeller und materieller Illegalität ist die Behörde verpflichtet, die Beseitigung der Anlage anzuordnen.
Nein!
Auf der Rechtsfolgenseite gewährt § 79 Abs. 1 NBauO der Behörde Ermessen („kann“). Dieses bezieht sich sowohl auf das „Ob“ das Tätigwerdens (Entschließungsermessen) als auch auf die Auswahl der Mittel (Auswahlermessen). Die Behörde kann also auch andere Maßnahmen als eine Beseitigungsanordnung treffen (s. die Beispiele in § 79 Abs. 1 S. 2 NBauO).
Es ist somit zu prüfen, ob die Behörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (§ 114 S. 1 VwGO).
Die wohl h.M. und überwiegende Rechtsprechung geht – wie das OVG Lüneburg hier im Fall auch – davon aus, dass das Ermessen bei der Entscheidung über das Einschreiten gegen baurechtswidrige Zustände (Entschließungsermessen) „intendiert“ ist. Denn die Behörde soll baurechtswidrige Zustände beseitigen. Ein „Für und Wider“ muss deswegen nur dann abgewogen werden, wenn der Fall so geartet ist, dass ganz bestimmte konkrete Anhaltspunkte für die Angemessenheit einer Ausnahme vorliegen (RdNr. 21). 9. Ein Ermessensfehler kann sich daraus ergeben, dass eine Behörde bei einer Reihe von „Schwarzbauten“ unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ohne Sachgrund nur gegen einen bestimmten einschreitet.
Genau, so ist das!
Ein Verstoß gegen Art. 3 GG und damit eine Ermessensüberschreitung kommt aber nur in Betracht, wenn die Bauten vergleichbar sind. Daran fehlt es jedenfalls, wenn es sich bei dem einen um einen „Schwarzbau“ und bei dem anderen um eine – wenn auch durch Erlass einer Abweichungsentscheidung – genehmigte Anlage handelt (RdNr. 23).
So lag es aber im vorliegenden Fall. Somit ließ sich ein Ermessensfehler nicht auf einen Verstoß gegen Art. 3 GG stützen (RdNr. 23).
Merke Dir: Art. 3 GG fordert nur die Gleichbehandlung von wesentlich Gleichem. Überdies gibt es rechtlich gesehen keine Gleichheit im Unrecht. Besteht eine Vielzahl gleich gelagerter baurechtswidriger Anlagen, so setzt die Rechtmäßigkeit des Vorgehens nicht voraus, dass die Behörde zugleich gegen alle Anlagen vorgeht. Es bedarf aber – um gleichheitswidrige Ungleichbehandlungen zu vermeiden – eines sog. Eingriffskonzepts. 10. Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung erfordert zudem, dass der Behörde auch bei der Störerauswahl keine Ermessensfehler unterlaufen sind.
Ja, in der Tat!
Nach § 79 Abs. 1 S. 3 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde die Anordnungen nur an die nach den §§ 52 bis 66 NBauO verantwortlichen Personen richten (polizeiliche Verantwortlichkeit) oder Störerhaftung. Sind danach mehrere Personen als Verantwortliche anzusehen, muss die Behörde den Adressaten der Anordnung ermessensfehlerfrei auswählen (sog. Störerauswahlermessen).
K ist als Miteigentümer des Grundstücks nach § 56 Abs. 1 NBauO Zustandsverantwortlicher. Zudem ist er, da er die Anlagen selbst errichtet hat, Verhaltensverantwortlicher.
Die polizeiliche Verantwortlichkeit des Adressaten kannst Du auch schon im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm prüfen. Nur die Frage der Störerauswahl bei zusätzlichen Verantwortlichen – also die Ermessensentscheidung über die Inanspruchnahme eines bestimmten Verantwortlichen anstelle eines anderen Verantwortlichen – ist zwingend auf Rechtsfolgenebene beim Ermessen zu prüfen. 11. Ks Ehefrau, die schon lange nicht mehr mit ihm in dem Haus wohnt, ist Miteigentümerin des Grundstücks. Dies hat die Behörde nicht berücksichtigt. Liegt deshalb ein Ermessensfehler vor?
Nein!
Grundsätzlich können von der Behörde unterlassene Ermessenserwägungen einen Ermessensfehler (sog. Ermessensnichtgebrauch) begründen. Kein Ermessensfehler liegt in einem solchen Fall aber vor, wenn ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Denn für behördliche Ermessenserwägungen besteht in diesem Fall kein Anlass. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt vor, wenn sich bei einer grundsätzlich gegebenen Ermessensentscheidung im Einzelfall nur eine einzige Entscheidung als ermessensfehlerfrei erweist (RdNr. 26 f.).
OVG: Dies sei bei K der Fall. Er ist nicht nur Zustands- und Verhaltensverantwortlicher. Dadurch, dass er das Haus auf dem Grundstück alleine bewohnt, hat er auch die alleinige Verfügungsgewalt über die Anlage inne. Damit erweise sich von vornherein allein ein Einschreiten gegen ihn als ermessensgerecht. Eine an Ks Ehefrau gerichtete Beseitigungsverfügung, die sich nur auf ihre Miteigentümerstellung und damit ihre Eigenschaft als Zustsandsverantwortliche stützen ließe (s. § 56 Abs. 1 NBauO), wäre unter diesen Umständen dagegen offensichtlich ermessensfehlerhaft gewesen (RdNr. 27). Deshalb begründet die fehlende Berücksichtigung von Ks Ehefrau keinen Ermessensfehler.
Führ Dir zudem vor Augen: Kommen mehrere Verantwortliche in Betracht, so wird das Auswahlermessen bei der Störerauswahl von der Effektivität der Gefahrenabwehr und dem Grundsatz des geringstmögliche Eingriffs geleitet. 12. Ist Ks Anfechtungsklage begründet?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Beseitigungsanordnung gegen K war rechtmäßig. Insbesondere war sie nicht ermessensfehlerhaft. Somit liegen die Voraussetzungen des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht vor. Die Klage des K ist unbegründet.
In diesem Fall war der eigentliche Verstoß gegen materielles Baurecht und damit die materielle Illegalität weitgehend unproblematisch, weshalb wir sie verkürzt dargestellt haben. Es ging uns in diesem Fall um die Wiederholung des Erfordernisses von formeller und materieller Illegalität bei einer Beseitigungsanordnung, um den richtigen Aufbau eines solchen Falles und um die Störerauswahl. In Deiner Baurechts-Klausur wird der Schwerpunkt aber immer im materiellen Baurecht – und daneben dann vielleicht wie hier noch bei der Störerauswahl – liegen. Achte deshalb bitte immer auf Deine Schwerpunktsetzung!