Wunsiedel Beschluss - Allgemeines Gesetz

25. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

B meldet eine „Rudolf Heß-Gedenkkundgebung“ in Wunsiedel an. Das Landesratsamt verbietet die Veranstaltung gestützt auf § 15 VersG und § 130 Abs. 4 StGB. B hält § 130 Abs. 4 StGB sowie dessen Auslegung im konkreten Fall für verfassungswidrig.

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Einordnung des Falls

Wunsiedel Beschluss - Allgemeines Gesetz

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. § 130 Abs. 4 StGB greift in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein.

Ja!

Ein Eingriff ist jedes staatlich-zurechenbare Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, welches in den Schutzbereich fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert Gemäß § 130 Abs. 4 wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. Demnach wird das Verbreiten dieser Meinungen unter Strafe gestellt und damit erschwert. Ein Eingriff in Art. 5 Abs. 1 GG liegt vor.
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2. Vorschriften der allgemeinen Gesetze können einen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertigen (Art. 5 Abs. 2 GG).

Genau, so ist das!

Jeder Grundrechtseingriff bedarf einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet die Meinungsfreiheit ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (sog. qualifizierter Gesetzesborbehalt). Nach der sog. Kombinationslehre des BVerfG sind allgemeine Gesetze solche, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann. Die Kombinationslehre des BVerfG ist eine Vereinigung der früher vertretenen Sonderrechts – und der Abwägungslehre.

3. Gesetze, die an den Inhalt einer Meinungsäußerung anknüpfen, stellen nie ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Knüpft die Norm an den Inhalt der Meinungsäußerung an, kommt es darauf an, ob die sie dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts dient. Ist dies der Fall, ist in der Regel zu vermuten, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist, sondern meinungsneutral-allgemein auf die Abwehr von Rechtsgutverletzungen zielt. Allerdings garantiert die Tatsache, dass ein meinungsbeschränkendes Gesetz ein anerkanntes Rechtsgut schützt, dessen Allgemeinheit nicht für jeden Fall, sondern ist lediglich Indiz für die Wahrung rechtsstaatlicher Distanz und die Einhaltung des Gebots der Meinungsneutralität (RdNr. 55f.). Davon ausgehend hat das BVerfG Straftatbestände wie §§ 90a, 185 StGB oder § 130 StGB a.F. als allgemeine Gesetze beurteilt.

4. An der Allgemeinheit eines Gesetzes fehlt es, wenn eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen richtet.

Ja!

Gesetze zum Schutz von Rechtsgütern seien nur allgemein, wenn sie sich bei der gebotenen Gesamtsicht als abstrakt vom Rechtsgut her gedacht erweisen und ohne Ansehung konkret vorfindlicher Auffassungen ausgestaltet sind. Hierzu gehöre eine hinreichend allgemein gefasste Formulierung der Verletzungshandlung und der geschützten Rechtsgüter, die sicherstellt, dass die Norm im politischen Kräftefeld als gegenüber verschiedenen Gruppierungen offen erscheint. Die Allgemeinheit des Gesetzes verbürgt damit entsprechend dem Benachteiligungsverbot wegen politischer Anschauungen (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) für Eingriffe in die Meinungsfreiheit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen(RdNr. 59).

5. Ausgehend von diesem Maßstab ist § 130 Abs. 4 StGB ein allgemeines Gesetz.

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: § 130 Abs. 4 dient zwar dem öffentlichen Friede, einem auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsgut. Jedoch zeigten Wortlaut und Entstehungsgeschichte, dass die Vorschrift diesen Schutz nicht in inhaltsoffener, allgemeiner Art ausgestaltet, sondern allein auf Meinungsäußerungen bezogen ist, die eine bestimmte Haltung zum Nationalsozialismus ausdrücken. Sie sei nicht blind gegenüber vorfindlichen Grundpositionen, sondern normiere bereits im Tatbestand konkret-standpunktbezogene Kriterien. Damit § 130 Abs. 4 StGB kein allgemeines Gesetz, sondern Sonderrecht(RdNr. 62).

6. Art. 5 Abs. 2 sieht als weitere Schranken der Meinungsfreiheit Gesetze zum Schutz der der Jugend und der persönlichen Ehre vor. Solche Gesetze müssen nicht allgemein sein.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Erfordernis der Allgemeinheit verbietet Sonderrecht. Es gewährleistet damit einen Schutz vor Diskriminierung in Anknüpfung an bestimmte Meinungen und politische Anschauungen, und sichert damit rechtsstaatliche Distanz zum Schutz der Meinungsfreiheit. Nach diesem Verständnis muss das Sonderrechtsverbot allgemein gelten und sich auf alle meinungsbeschränkenden Gesetze erstrecken. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Jugend oder der persönlichen Ehre unterliegen dem Gebot der Allgemeinheit deswegen ebenso wie solche zum Schutz anderer Rechtsgüter (RdNr. 63). Nach dieser Auslegung kommen den beiden anderen Schranken, Gesetze zum Schutz der Jugend und Gesetze zum Schutz der persönlichen Ehre kaum eigenständige Bedeutung zu.

7. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG enthalten eine immanente Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes von 1933-1945 Grenzen setzen.

Ja!

BVerfG: Das menschenverachtende Regime, das über die Welt Leid, Tod und Unterdrückung in unermesslichem Ausmaß gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann (RdNr. 65). Somit sei § 130 Abs. 4 StGB deshalb nicht verfassungswidrig, weil er eine Sonderbestimmung ist, die allein die Bewertung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zu ihrem Gegenstand hat (RdNr. 66). Zugleich betont das BVerfG aber auch, dass das GG kein antinationalsozialistisches Grundprinzip kennt, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte (RdNr. 67).Auch wenn ein allgemeines Gesetz vorliegt, so ist der Eingriff dennoch nur gerechtfertigt, wenn dieses auch verhältnismäßig ist. Mehr dazu in der nächsten Session.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Whale

Whale

12.7.2024, 14:35:39

Bei einer Frage steht, dass nach dieser Auslegung (auch Gesetze zum Schutze der Jugend und der persönlichen

Ehre

sind allgemein zu halten) diesen beiden Schranken kaum eigenständige Bedeutung zukommt. Was ist damit gemeint?

Edward Hopper

Edward Hopper

9.9.2024, 21:58:07

Damit ist wohl gemeint, dass auch diese Gesetze (also solche die beispielsweise die Jugend schützen) allgemein sein müssen. Man könnte das ja auch so lesen: "Einschränkende Gesetze dürfen nicht allgemein sein und wenn Sie es doch sind es es ok, wenn diese dem Schutz der Jugend dienen". Dem ist aber nicht so, somit ist der Bereich indem ein Gesetze nicht allgemein ist es aber die Meinungsfreiheit auf Grund von Jugendschutz einschränken kann sehr klein.

Artimes

Artimes

2.9.2024, 15:30:44

So wie ich das sehe überschneiden sich die Kombinationsl

ehre

/

Abwägungslehre

mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung?! Wie gehe ich damit geschickt in der Klausur um, damit ich die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht vorweg nehme (soll ich zB klausurtaktisch lieber der

Sonderrechtstheorie

folgen?)? Oder entspricht diese Vorwegnahme an dieser Stelle der Üblichkeit?

LELEE

Leo Lee

9.9.2024, 14:34:36

Hall Artimes, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man meinen, die Kombinationsl

ehre

sei eine Vhmk-Prüfung. Beachte allerdings, dass es bei dieser Formel nur darum geht, auf Ebene der "Schranke" bei den qualifizierten Anforderungen LEDIGLICH festzustellen, ob das Gesetz eine Meinung als solche (wie bei 130 IV) verbietet oder nicht bzw. GENERELL eine Abwägung vornimmt. Hier sagst du im Grunde "ja" bzw. "nein" mit Begründung. Die eig. Vhmk-Prüfung folgt allerdings erst später. Beachte auch, dass es bei dieser Formel häufig nur auf den ersten Teil ankommen wird, da diese Anforderungen insofern "klarer" ist. Summa summarum: Auf Ebene der qualifizierten Anforderungen an die Schranke prüfst und stellst du also fest, dass dieses Gesetz eine Meinung als solche nicht verbietet. Hier prüfst du also NICHT die Vhmk. Das kommt erst später :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Artimes

Artimes

12.9.2024, 18:30:25

@[Leo Lee](213375) Im Alpmann Schmidt Skript Grundrechte 2021 S. 83 steht: "Das BVerfG kombiniert beide Prüfungen [also Sonderrechts- und

Abwägungslehre

] und vermischt diese. In der Sache nimmt das Bundesverfassungsgericht damit die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i.e.S. vorweg." Du beziehst dich in deiner Antwort offenbar nur auf das erste Element der Kombinationsl

ehre

("Sonderrechtsteil") und nicht auf das zweite Element ("Abwägungsteil"), welcher zur Vorwegnahme der Angemessenheitsprüfung führt. Alpmann Schmidt empfiehlt daher ebenfalls in der Klausur der

Sonderrechtslehre

zu folgen, wie meine Frage es auch nahegelegt hat.


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