Wunsiedel-Beschluss - Wechselwirkung

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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B meldet eine „Rudolf Heß-Gedenkkundgebung“ in Wunsiedel an. Das Landesratsamt verbietet die Veranstaltung gestützt auf § 15 VersG und § 130 Abs. 4 StGB. B hält § 130 Abs. 4 StGB sowie dessen Auslegung im konkreten Fall für verfassungswidrig.

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Einordnung des Falls

Wunsiedel-Beschluss - Wechselwirkung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. § 130 Abs. 4 StGB greift in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein.

Genau, so ist das!

Ein Eingriff ist jedes staatlich-zurechenbare Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, welches in den Schutzbereich fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert Gemäß § 130 Abs. 4 wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. Demnach wird das Verbreiten dieser Meinungen unter Strafe gestellt und damit erschwert. Ein Eingriff in Art. 5 Abs. 1 GG liegt vor.
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2. Eine Rechtfertigung des Eingriffs scheitert bereits daran, dass § 130 Abs. 4 StGB kein allgemeines Gesetz ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Grundsätzlich darf die Meinungsfreiheit nur durch ein allgemeines Gesetz eingeschränkt werden (Art. 5 Abs. 2 GG).§ 130 Abs. 4 StGB ist nicht in inhaltsoffener, allgemeiner Art ausgestaltet, sondern allein auf Meinungsäußerungen bezogen ist, die eine bestimmte Haltung zum Nationalsozialismus ausdrücken und damit Sonderrecht. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG enthalten allerdings eine immanente Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes von 1933-1945 Grenzen setzen. BVerfG: Das menschenverachtende Regime, das über die Welt Leid, Tod und Unterdrückung in unermesslichem Ausmaß gebracht habe, habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig sei und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden könne (RdNr. 65). Deshalb sei es ausnahmsweise unschädlich, dass § 130 Abs. 4 StGB nicht die Anforderungen an ein allgemeines Gesetz wahre.

3. Um einen Eingriff in die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, muss § 130 Abs. 4 StGB verhältnismäßig sein.

Ja!

Auch wenn die nach Art. 5 Abs. 1 und 2 GG anzuerkennende Ausnahme von dem Allgemeinheitserfordernis dem Gesetzgeber erlaube für Meinungsäußerungen, die eine positive Bewertung des nationalsozialistischen Regimes in ihrer geschichtlichen Realität zum Gegenstand haben, gesonderte Bestimmungen zu erlassen, müssten diese Bestimmungen verhältnismäßig sein. Hierbei müssten sie strikt an einem veräußerlichten Rechtsgüterschutz, nicht aber einer inhaltlichen Bewertung der betroffenen Meinung orientiert sein (RdNr. 68). § 130 Abs. 4 muss daher einen legitimen Zweck verfolgen, zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.

4. Bei der Beurteilung, ob der mit § 130 Abs. 4 StGB verfolgte Zweck legitim ist und damit einen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertigen kann, ist die Wechselwirkungslehre zu beachten.

Genau, so ist das!

Welche Zwecke legitim sind, hängt vom jeweiligen Grundrecht ab, in das eingegriffen wird. Nicht legitim ist insbesondere eine Aufhebung des in dem jeweiligen Grundrecht enthaltenen Freiheitsprinzips als solchen. Für die Meinungsfreiheit findet dies in der Wechselwirkungslehre seinen spezifischen Ausdruck: Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die allgemeinen Gesetze zwar Schranken setzen, diese aber ihrerseits wieder im Licht dieser Grundrechtsverbürgungen bestimmt werden müssen. Die Schranken der Meinungsfreiheit dürfen deren substantiellen Gehalt nicht in Frage stellen. Dies gilt für die Auslegung ebenso wie für das beschränkende Gesetz und die mit ihm verfolgten Zwecke selbst (RdNr. 71).

5. Der Gesetzgeber darf die Äußerung von Meinungen, die er für gefährlich hält, verbieten.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: „Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim.“ Demnach ist allein die Gefährlichkeit von Meinungen als solche kein Grund, diese zu beschränken. Soweit der Gesetzgeber aber darauf zielt, Meinungsäußerungen insoweit einzuschränken, als mit ihnen die Schwelle zur individualisierbaren, konkret fassbaren Gefahr einer Rechtsverletzung überschritten wird, verfolgt er einen legitimen Zweck (RdNr. 72f.).

6. Der Gesetzgeber hat § 130 Abs. 4 StGB auf den Schutz des öffentlichen Friedens gestützt. Ist dies nach den Maßstäben ein legitimer Zweck für Eingriffe in die Meinungsfreiheit?

Ja!

BVerfG: Wenn man öffentlichen Frieden als Gewährleistung von Friedlichkeit verstehe, sei dieser einlegitimer Zweck für Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Ziel sei hier der Schutz vor Äußerungen, die ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen angelegt sind. Es gehe also um einen vorgelagerten Rechtsgüterschutz, der an sich abzeichnende Gefahren anknüpft. Nicht tragfähig für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit sei dagegen ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen zielt (RdNr. 77f.). Da der Gesetzgeber § 130 Abs. 4 StGB allein auf den Schutz des öffentlichen Friedens gestützt habe, hat das BVerfG die Frage, ob die Norm auch auf den Schutz der Würde der Opfer der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft gestützt werden könnte, offengelassen (RdNr. 79)

7. Die Ausgestaltung des § 130 Abs. 4 StGB ist geeignet, den öffentlichen Frieden in seinem Verständnis als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung zu schützen.

Genau, so ist das!

Geeignet ist ein Mittel, wenn sie die Zweckerreichung wenigstens fördert. § 130 Abs. 4 StGB definiert als unter Strafe gestellte Tathandlungen die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. BVerfG: Damit bestrafe der Gesetzgeber nicht das Gutheißen von Ideen, sondern von realen Verbrechen, die in der Geschichte einmalig und an Menschenverachtung nicht zu überbieten sind. Die Kundgabe einer positiven Bewertung dieses Unrechtsregimes löse regelmäßig Widerstand dagegen aus oder erzeuge Einschüchterung und habe anderseits enthemmende Wirkung bei der angesprochenen Anhängerschaft solcher Auffassungen. Demnach sei § 130 Abs. 4 StGB zum Schutz der Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung geeignet (RdNr. 80ff.).

8. Ist § 130 Abs. 4 StGB für den vom Gesetzgeber erstrebten Schutz des öffentlichen Friedens auch erforderlich und angemessen?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Ein milderes Mittel, das in Bezug auf die in Frage stehenden Rechtsverletzungen den Schutz des öffentlichen Friedens in gleich wirksamer Weise gewährleisten kann, sei nicht ersichtlich. Die Strafandrohung ist auf die Gutheißung der historisch real gewordenen Gewalt- und Willkürherrschaft unter dem Nationalsozialismus begrenzt. Ergänzend verlangt der Straftatbestand, dass diese untersagte Bekräftigung auch tatsächlich in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise erfolgt und zu einer Störung des öffentlichen Friedens führt. Demnach begründe § 130 Abs. 4 StGB bei einer Auslegung, die Art. 5 Abs. 1 GG Rechnung trägt, einen angemessenen Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und dem Schutz des öffentlichen Friedens (RdNr. 84f.). Zu einer vollständigen Prüfung gehört auch noch die Prüfung von Art. 103 Abs. 3 S. 1 GG sowie des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG). Die vollständige Besprechung findest Du bei unseren Klassikern!
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