Pflichtexemplarentscheidung

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der Bundestag beschließt, dass jeder Verlag oder Selbstverleger ein Exemplar von allen herauskommenden Werken an die deutsche Nationalbibliothek kostenlos abgeben muss. A, der pro Jahr nur zehn besonders wertvolle Bücher herausbringt, fühlt sich in seiner Eigentumsfreiheit verletzt. ‌

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Einordnung des Falls

Pflichtexemplarentscheidung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) vor?

Genau, so ist das!

Ein Eingriff ist jeder staatliche Akt, der die Ausübung eines grundrechtlich geschützten Verhaltens beeinträchtigt oder unmöglich macht. Bezogen auf die Eigentumsfreiheit liegt also ein Eingriff vor, wenn eine geschützte Rechtsposition durch eine staatliche Maßnahme gar nicht mehr geschützt wird oder die Nutzungsbefugnisse im Vergleich zur alten Rechtslage eingeschränkt werden. Aufgrund des Gesetzes ist A verpflichtet, eins seiner Bücher kostenlos abzugeben, sodass er dieses nicht mehr verkaufen kann. Hierin liegt ein Eingriff in seine Eigentumsfreiheit.
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2. Nach dem Bundesverfassungsgericht stellt die Abgabepflicht eine Enteignung dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Enteignung ist der vollständige oder teilweise Entzug konkreter Eigentumspositionen durch gezielten hoheitlichen Rechtsakt zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind rechtliche Regelungen, mit denen der Gesetzgeber Inhalt und Schranken des Eigentums abstrakt und generell festlegt.Das Gesetz enthält keine Ermächtigung der Exekutive, durch Einzelakt auf ein bestimmtes Exemplar zuzugreifen. Vielmehr wird eine generell-abstrakte Ablieferungspflicht begründet. Diese Pflicht betrifft die Gesamtheit der im Eigentum des Verlegers stehenden Druckstücke. Dieses Eigentum ist schon bei seiner Entstehung mit der Ablieferungsverpflichtung belastet. Die vom Verleger vorzunehmende Auswahl und Ablieferung eines beliebigen Druckstücks der Auflage aktualisiert die allgemein und im Vorhinein diesem obliegende Verpflichtung. Somit liegt eine Inhalts- und Schrankenbestimmung vor.

3. Inhalts- und Schrankenbestimmungen müssen verhältnismäßig sein.

Ja!

Die Eigentumsfreiheit unterliegt einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Das eingreifende Gesetz (die Inhalts- und Schrankenbestimmung) ist die „Schranke“ des Grundrechts der Eigentumsfreiheit. Das Gesetz muss auch formell und materiell verfassungsgemäß sein („Schranken-Schranke“). Die wichtigste Schranken-Schranke ist die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit. Der Eingriff muss einem legitimen Ziel dienen, geeignet und erforderlich sein, dieses zu erreichen und einen angemessenen Ausgleich zwischen Privatnützigkeit und Sozialbindung des Eigentums finden. Das neue Gesetz verfolgt das legitime Ziel, Kulturgüter zu erhalten und den Zugang zu Literatur zu ermöglichen. Die Abgabepflicht fördert dieses Ziel und stellt somit eine geeignete Maßnahme dar. Gleich geeignete, mildere Mittel sind nicht ersichtlich.

4. Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind grundsätzlich ausgleichspflichtig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Grundsätzlich sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen entschädigungslos hinzunehmen. Etwas anderes gilt, wenn die Anwendung der Inhalts- und Schrankenbestimmung in besonders gelagerten Härtefällen mit Blick auf ihre Schwere, Intensität und Dauer zu einer unzumutbaren Belastung des Eigentümers führt und ihm ein Sonderopfer auferlegt. Dabei müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Die Entschädigung bedarf einer gesetzlichen Grundlage, (2) sie ist subsidiär zu anderen Instrumenten, wie Übergangsregelungen, Ausnahme- und Befreiungsvorschriften oder sonstigen Vorkehrungen, (3) bei der Vornahme des Eingriffs muss zugleich über einen gegebenenfalls erforderlichen Ausgleich zumindest dem Grunde nach entschieden werden. Merke: Eine Entschädigung bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die absolute Ausnahme und subsidiär zu anderen Mitteln, um die Regelung verhältnismäßig auszugestalten.

5. Das Gesetz ist unangemessen, da A ein Sonderopfer auferlegt wird und das Gesetz keinen finanziellen Ausgleich vorsieht?

Ja, in der Tat!

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist bei der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) ein angemessener Ausgleich zwischen Privatnützigkeit und Sozialbindung des Eigentums zu erlangen. Ist ein solcher Ausgleich nicht möglich, kann als letztes Mittel zur Erlangung eines fairen Ausgleichs und einer zumutbaren Belastung des Eigentümers ein finanzieller Ausgleich gewährt werden. Dies bedarf aber einer gesetzlichen Grundlage, die beim Eingriff zumindest dem Grunde nach schon angelegt sein muss. Das Gesetz sieht keine Härteregelungen für Verleger wie A mit nur sehr kleinen und kostbaren Auflagen vor. Insoweit wäre grundsätzlich eine Befreiungsvorschrift möglich gewesen. Hält der Gesetzgeber die Ablieferung trotzdem für nötig, um eine vollständige Sammlung zu erhalten, wäre ein finanzieller Ausgleich notwendig gewesen. Das Pflichtexemplar-Gesetz ohne Entschädigung ist deshalb unangemessen und damit verfassungswidrig.Die Pflichtexemplar-Entscheidung ist ein Klassiker, da das BVerfG das Institut der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung hier neu geschaffen hat.
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