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Finanzierung und Rechte parlamentarischer Gruppen (Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 06.07.2022 - VerfGH 39/21)

Finanzierung und Rechte parlamentarischer Gruppen (Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 06.07.2022 - VerfGH 39/21)

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der Bundestag beschließt eine Änderung des geltenden Abgeordnetengesetzes (AbgG): Die finanziellen Mittel (Grundbetrag und Personalkostenzuschuss) von parlamentarischen Gruppen sowie deren Teilnahme- und Rederechte in Ausschuss und Plenum werden deutlich reduziert.

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Einordnung des Falls

Finanzierung und Rechte parlamentarischer Gruppen (Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 06.07.2022 - VerfGH 39/21)

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Sachsen 2024

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F ist eine parlamentarische Gruppe unterhalb der Fraktionsstärke. F und die ihr angehörenden Abgeordneten sehen sich durch das neue AbgG in ihren Rechten verletzt. Ist die Verfassungsbeschwerde statthaft?

Nein!

Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) ist statthaft für Individualverfassungsbeschwerden von jeder grundrechtsfähigen Person. Eine parlamentarische Gruppe ist weder eine natürliche Person (die immer grundrechtsfähig ist), noch eine juristische Person, die nach Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsfähig ist. Grund dafür ist das Konfusionsargument: Grundrechtsverpflichtete Personen können in der Regel nicht gleichzeitig grundrechtsberechtigt sein. Die Verfassungsbeschwerde ist unstatthaft. Im Originalfall hat der VerfGH Thüringen über die Streitigkeit im Landtag entschieden. Wir haben den Fall aus didaktischen Gründen auf Bundesebene gehoben. Die Argumentation unterscheidet sich inhaltlich nicht.
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2. Stattdessen ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) statthaft. Ist die parlamentarische Gruppe F als Antragstellerin und der Bundestag als Antragsgegner sind parteifähig?

Genau, so ist das!

Das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) ist statthaft bei Streitigkeiten zwischen obersten Verfassungsorganen über ihre verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten. Laut Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sind beteiligtenfähig: (1) alle obersten Bundesorgane und (2) andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder eine Geschäftsordnung eines Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. § 63 BVerfGG nennt die obersten Bundesorgane und Teile dieser Organe als parteifähig. Eine parlamentarische Gruppe ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Abgeordneten im Bundestag und damit ein Teil dieses Bundesorgans. Durch § 10 Abs. 4 GOBT werden der Gruppe eigene Rechte verliehen. Sie ist damit parteifähig. Da die Gruppe ein Teil des obersten Bundesorgans „Bundestag“ ist, kommt es auf den Klassiker - eine verfassungskonforme Auslegung des § 63 BVerfGG, sodass die Norm auch „andere Beteiligte“ erfasst (vgl. RdNr. 105) - nicht mehr an.

3. Abgeordnet haben eigene Rechte aus dem Grundgesetz. Sind daher auch die einzelnen Abgeordneten, die der F angehören, im Verfahren über Fs Rechtsverletzung parteifähig?

Ja, in der Tat!

Laut Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sind beteiligtenfähig: (1) alle obersten Bundesorgane und (2) andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder eine Geschäftsordnung eines Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dagegen nennt § 63 BVerfGG nur die obersten Bundesorgane und Teile dieser Organe, nicht aber andere Beteiligte. Die einzelnen Abgeordneten des Bundestags sind kein oberstes Bundesorgan oder ein Teil dessen, sie gehören diesem Organ nur an. Sie können nur „andere Beteiligte“ i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sein. Zwar nennt § 63 BVerfGG keine anderen Beteiligten, diese Norm muss aber verfassungskonform ausgelegt werden, da der Wortlaut des Grundgesetzes eindeutig ist. Die Abgeordneten sind in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG mit dem freien Mandat ausgestattet, haben also eigene Rechte aus dem Grundgesetz. Sie sind parteifähig.

4. F und die Abgeordneten wenden sich gegen die Änderung des AbgG. Handelt es sich dabei um einen tauglichen Streitgegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG)?

Ja!

Streitgegenstand des Organstreitverfahrens muss eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners – hier also des Bundestages – sein, die rechtserheblich ist, oder sich zumindest zu einem rechtserheblichen Verhalten verdichten kann. Bei dem Gesetzgebungsverfahren handelt es sich um eine Maßnahme des Bundestages (= oberstes Bundesorgan). Es ist außerdem nicht ausgeschlossen, dass diese Maßnahme die F und ihre Abgeordneten als Antragsteller in ihren Rechten auf freie Opposition, Mitwirkung und Chancengleichheit beeinträchtigt. Ein tauglicher Streitgegenstand ist gegeben. Aufgepasst: F greift ausdrücklich das Gesetzgebungsverfahren an und beitreibt daher ein Organstreitverfahren. Würde sich F gegen das konkrete Gesetz wenden, handelte es sich um ein Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG)!

5. F wäre antragsbefugt, wenn F die mögliche Verletzung von Rechten aus dem Grundgesetz geltend machen könnte. Ergeben sich Fs betroffene Rechte hier nur aus der Geschäftsordnung?

Nein, das ist nicht der Fall!

F ist antragsbefugt, wenn sie möglicherweise durch die Maßnahme in eigenen verfassungsrechtlichen, organschaftlichen Rechten verletzt ist. Anders als im Rahmen der Parteifähigkeit reicht es hier nicht aus, dass Fs Rechte aus der Geschäftsordnung verletzt sind. Bei dem Recht auf ein freies Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) handelt es sich originär um ein Recht jedes einzelnen Abgeordneten. Aus der Garantie des freien Mandats ergibt sich aber auch das Recht, sich mit Abgeordneten desselben politischen Lagers zusammenzuschließen, sodass auch diese Zusammenschlüsse ein Recht auf freies Mandat haben könnten. Auch F macht geltend, in ihrem Recht auf freies Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt zu sein. Eine Verletzung erscheint durch die Benachteiligung von parlamentarischen Gruppen im neuen AbgG zumindest möglich. F ist antragsbefugt. Der Originalfall spielte nicht im Bundestag, sondern im Thüringer Landtag. Hier ergab sich die Antragsbefugnis aus dem Recht auf freies Mandat aus Art. 53 Abs. 1 ThürVerf (RdNr. 113).

6. Die einzelnen Abgeordneten argumentieren, dass F ihre Rechte entzogen werden. Sind die Abgeordneten damit selbst antragsbefugt?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Antragsteller ist nur antragsbefugt, wenn er schlüssig darlegt, dass er an dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis unmittelbar beteiligt ist und dass seine eigenen Rechte durch die beanstandete Maßnahme möglicherweise verletzt sind (RdNr. 108). Die Abgeordneten argumentieren, ihre Abgeordnetenrechte seien dadurch verletzt, dass der parlamentarische Gruppe, der sie angehören, Rechte entzogen werden. Da aber eine parlamentarische Gruppe ihre Oppositions- und Mitwirkungsrechte selbst geltend machen kann (siehe oben), bedarf es keiner Prozessstandschaft durch die einzelnen Abgeordneten (RdNr. 109). Die Abgeordneten sind nicht antragsbefugt. Das Organstreitverfahren der F ist zulässig, das Verfahren der einzelnen Abgeordneten ist unzulässig.

7. Das Organstreitverfahren ist begründet, soweit die F durch das neue AbgG in ihrem Recht auf freies Mandat verletzt ist.

Ja!

Im Organstreitverfahren prüft das BVerfG, ob die angegriffene Maßnahme gegen Verfassungsrecht verstößt. Ist das Verfahren begründet, folgt eine bindende Feststellung, dass eine Rechtsverletzung vorliegt (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Gesetzesänderungsverfahrens ist allein das Recht auf freies Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG): Die Abgeordneten sind allein Vertreter des Volkes, nicht an Aufträge und Weisungen, sondern nur an ihr Gewissen gebunden.

8. Das Recht auf freies Mandat steht nur fraktionsangehörigen Abgeordneten und Fraktionen zu.

Nein, das ist nicht der Fall!

Abgeordneten steht es aufgrund des freien Mandats frei, sich mit anderen Abgeordneten zur gemeinsamen Arbeit zusammenzufinden. Daher können sich auch diese Zusammenschlüsse auf das freie Mandat berufen. Auch fraktionslose Abgeordnete können sich mit anderen Abgeordneten desselben politischen Lagers verbinden (parlamentarische Gruppen unterhalb der Fraktionsstärke) (RdNr. 119): Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG erfordert es, allen Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, effektiv an der politischen Willensbildung mitzuwirken und dabei für jeden Abgeordneten denselben Maßstab anzusetzen (RdNr. 120). Das bedeutet allerdings nicht, dass einer parlamentarischen Gruppe alle Befugnisse gewährt werden müssen, die auch an die Fraktionszugehörigkeit geknüpft sind (RdNr. 121). Fraktionen haben aufgrund ihrer Mindestgröße und Integrationsfunktion (RdNr. 123) sowohl im Grundgesetz als auch in der Thüringer Verfassung eine besondere parlamentarische Rolle (vgl. Art. 58 ThürVerf) (GG-Normen mit Fraktionen suchen).

9. Das neue AbgG beschränkt das Recht parlamentarischer Gruppen auf die Beantragung „Aktueller Stunden“ (ein besonderes parlamentarisches Debattenformat). Ist eine solche Beschränkung grundsätzlich zulässig?

Ja, in der Tat!

Die Aktuelle Stunde ist ein Format zur Diskussion einer bestimmten aktuellen politischen Frage ohne Beschlussziel im Plenum. Der Bundestag hat die Geschäftsordnungsautonomie und kann in diesem Rahmen das Rede- und Debattenrecht der Abgeordneten ausgestalten und so zum Beispiel die Aktuelle Stunde vorsehen und regulieren (RdNr. 128). Die Teilnahme an solchen Formaten unterfällt dem freien Mandat und parlamentarischem Rederecht. Zur Ausgestaltung des Rederechts gehört auch die Beschränkung der Rede- und Beratungszeit – auch in der Aktuellen Stunde – zum Zwecke der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments (RdNr. 129). Diese muss mit der Rechtsstellung der Fraktionen und parlamentarischen Gruppen sowie den Rechten der einzelnen Abgeordneten abgewogen werden. Eine Beschränkung der Anzahl von Anträgen auf Aktuelle Stunden ist also grundsätzlich zulässig, bedarf aber einer genauen Abwägung.

10. Das BVerfG hat hinsichtlich der Beschränkung des Rechts auf Beantragung von Aktuellen Stunden einen umfassenden Überprüfungsspielraum.

Nein!

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz und prüft nur Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts. Es kann nur die Entscheidungen anderer staatlicher Organe auf Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und Willkürfreiheit überprüfen, trifft aber keine eigenen sachlichen Entscheidungen. Daher kann das BVerfG nur überprüfen, ob die vom Bundestag gewählte Ausgestaltung von Rede- und Debattenrechten dazu führt, dass dem einzelnen Abgeordneten oder einer Fraktion oder einer parlamentarischen Gruppe ein unerlässlicher Mindestbestand von Mitwirkungsrechten entzogen wird (RdNr. 130).

11. Es ist nachvollziehbar und nicht willkürlich, den parlamentarischen Gruppen nur die Hälfte der den Fraktionen zugebilligten Aktuellen Stunden zu gewähren. Verstößt die Beschränkung also gegen das freie Mandat?

Nein, das ist nicht der Fall!

Entscheidend ist, ob die Gewährung von nur vier Aktuellen Stunden pro Jahr der F den unerlässlichen Mindestbestand von parlamentarischen Mitwirkungsrechten entzieht und damit das freie Mandat beeinträchtigt. RdNr. 133: Die Aktuelle Stunde ermöglicht es den Fraktionen und Gruppen, ein aktuelles Thema im Plenum zu diskutieren und eine zeitnahe parlamentarische Debatte anzustoßen. Gleichzeitig soll vermieden werden, dass in diesem Format ausschließlich Partikularinteressen thematisiert werden. Die Fraktionen repräsentieren eine größere Anzahl an Wählerstimmen, haben also eine stärkere integrierende Wirkung als Gruppen (RdNr. 134). Folglich sei es nachvollziehbar und nicht willkürlich, den parlamentarischen Gruppen nur die Hälfte der den Fraktionen zugebilligten Aktuellen Stunden zu gewähren. Den Gruppen wird nicht gänzlich die Möglichkeit genommen, aktuelle Debatten anzustoßen, sie behalten also ihren Mindestbestand parlamentarischer Mitwirkung. Die Anzahl an möglichen Anträgen verletzt sie nicht in ihrem freien Mandat.

12. Das neue AbgG sieht zudem vor, dass eine parlamentarische Gruppe pro Quartal nur eine Aktuelle Stunde beantragen kann. Für diese Beschränkung ist kein nachvollziehbarer Grund erkennbar. Ist die Regelung mit der Garantie auf das freie Mandat vereinbar?

Nein, das trifft nicht zu!

Entscheidend ist, ob es der F den unerlässlichen Mindestbestand von parlamentarischen Mitwirkungsrechten entzieht, wenn die ihr jährlich zustehenden vier Aktuellen Stunden jeweils nur quartalsweise beantragt werden können. F ist es nicht möglich, ihre Aktuellen Stunden nach ihrem Belieben über das Jahr zu verteilen und gegebenenfalls an aktuellen politisch bedeutsame Ereignissen zu orientieren. Es ist nicht nachvollziehbar, warum es für die Funktionsfähigkeit des Parlaments und die Effektivität der Debatten notwendig ist, dass die Aktuellen Stunden nur jeweils quartalsweise beantragt werden können (RNr. 136). Zwar könne die Beantragung mehrerer Aktueller Stunden in derselben Sitzungswoche praktisch schwierig sein, dies beeinträchtige aber nicht die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Insbesondere da Fraktionen nicht an einen bestimmen Zeitplan gebunden sind ist diese Reglung willkürlich. F als parlamentarischer Gruppe wird hier der Mindestbestand parlamentarischer Mitwirkung entzogen. Diese Reglung verstößt gegen das freie Mandat.

13. Das neue AbgG sieht weiterhin für parlamentarische Gruppen einen verringerten Personalkistenzuschuss und einen Grundbetrag vor, der nur 50% des Grundbetrags von Fraktionen beträgt. Dies ist nach Ansicht des Gerichts nicht willkürlich. Liegt daher ein (weiterer) Verstoß gegen das freie Mandat vor?

Nein!

Fraktionen und parlamentarische Gruppen einen Anspruch auf angemessene Ausstattung mit finanziellen- und Sachmitteln. Entscheidend ist wiederum, ob durch die verringerten Personalzuschüsse und Grundbetrag der F der Mindestbestand parlamentarischer Mitwirkung entzogen wird. Bei der Bemessung von Grundbetrag und des Personalzuschuss darf der Bundestag darauf abstellen, wie hoch der Bedarf ist. Da den Gruppen einzelne Rechte vorenthalten werden, die den Fraktionen zustehen, ergibt eine typisierende Betrachtungsweise, dass die parlamentarischen Aufgaben der Gruppen gegenüber den Aufgaben der Fraktionen geringer sind (RdNr. 140). Daher haben sie einen geringeren Bedarf an finanziellen Mitteln (RdNr. 141). Die Verringerung – aber nicht der vollständige Entzug - ihrer Zuschüsse ist nicht willkürlich und nimmt ihr nicht den Mindestgehalt an Mitwirkungsbefugnissen. Das Organstreitverfahren ist nur für F als Antragstellerin zulässig und nur hinsichtlich der quartalsweisen Aufteilung der Aktuellen Stunden begründet.
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