Herbeiführung eines negativen Vertrags als Schaden („Thor-Steinar-Fall“)


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V vermietet M ein Bekleidungsgeschäft im Hundertwasserhaus in Magdeburg. M vertreibt dort Kleider der Marke "Thor Steinar", die insbesondere von Anhängern der rechtsextremen Szene gekauft wird. V wusste davon nichts. M wusste, dass V ihm die Räume nicht vermietet hätte, wenn M die Marke erwähnt hätte.

Einordnung des Falls

Herbeiführung eines negativen Vertrags als Schaden („Thor-Steinar-Fall“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. V kann den Mietvertrag außerordentlich kündigen (§ 543 Abs. 1 BGB).

Ja!

V kann das Mietverhältnis nur aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. BGH: Hier werde das Ansehen der historischen Immobilie des V durch das Klientel des M beschädigt. Ein außerordentlicher Kündigungsgrund liegt vor.

2. Zwischen M und V ist ein vorvertragliches Schuldverhältnis entstanden (§ 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Ein vorvertragliches Schuldverhältnis entsteht: durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen (Nr. 1), die Anbahnung eines Vertrags, (Nr. 2) oder ähnliche geschäftliche Kontakte (Nr. 3). Dadurch, dass K und V direkt in Vertragsverhandlungen getreten sind, ist ein vorvertragliches Schuldverhältnis entstanden (§ 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Dass später tatsächlich ein Vertragsschluss zustande kam, schließt die Anwendung der culpa in contrahendo nicht aus.

3. Indem M verschwieg, dass er Kleidung der Marke Thor-Steinar verkaufen wird, hat er eine vorvertragliche Pflicht verletzt (§ 241 Abs. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Die Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB umfassen die Rechte, Rechtgüter und Interessen der anderen Partei, also auch das Interesse des V, einen Vertrag zu schließen, der nicht das Ansehen seiner Immobilie beschädigt. Zwar besteht keine allgemeine Rechtspflicht, den anderen Teil über alle Einzelheiten und Umstände aufzuklären. Allerdings konnte V nicht erkennen, dass M in den Mieträumen Waren verkaufen wird, die nahezu ausschließlich rechtsradikalen Kreisen zugeordnet werden. Hierüber hätte M aufklären müssen. Indem er dies unterließ, hat er seine Schutzpflicht verletzt.

4. V hat gegen M einen Schadenersatzanspruch aus cic gerichtet auf Vertragsaufhebung (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3 S. 2, 241 Abs. 2, 249 Abs. 1 BGB).

Ja!

M hat eine vorvertragliche Pflicht schuldhaft verletzt, indem er es unterließ, V über die zu verkaufende Ware zu informieren. Der Schaden des V besteht in der Belastung mit einem für ihn ungünstigen Mietvertrag. V ist so zu stellen, wie er stünde, hätte M ihn darüber aufgeklärt, welcher Kleidung er verkaufen werde. Entweder wäre dann gar kein Vertrag zustande gekommen oder aber es wäre V bei richtiger Information gelungen, einen für ihn günstigeren Vertrag abzuschließen.

5. V kann seine Willenserklärung gerichtet auf Abschluss des Mietvertrags mit M wegen arglistiger Täuschung anfechten (§ 123 Abs. 1).

Genau, so ist das!

M hätte V über die Kleidermarke, die er verkauft, aufklären müssen. Somit hat er hierüber durch Unterlassen getäuscht. V unterlag infolgedessen einem Irrtum, der ihn zur Abgabe der Willenserklärung veranlasst hat. Da M wusste, welche Kleidermarke er vertreiben würde und ihm bewusst war, dass V den Mietvertrag mit ihm bei Kenntnis nicht geschlossen hätte, handelte er auch arglistig. V kann seine Willenserklärung gerichtet auf Abschluss des Mietvertrages anfechten.

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ALE

Alex1.Sem

11.6.2020, 17:22:51

Warum ist die CIC anwendbar, wenn bereits ein Mietvertrag besteht?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

11.6.2020, 17:39:13

Die Antwort auf deine Frage findest du bei Frage 2. Hier geht es darum, dass M den V bei den Vertragsverhandlungen vor Abschluss des Mietvertrages getäuscht hat. Demzufolge geht es um ein Verschulden bei Vertragsabschluss, also um die culpa in contrahendo. :)

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

18.6.2020, 12:12:20

Korrekt. Dass später ein Vertrag tatsächlich zustande kam, schließt die Anwendung der culpa in contrahendo nicht aus. Wie werden die zivilrechtlichen Konkurrenzen bei Gelegenheit auch einmal zusammenhängend darstellen.

OCrrY

OCrrY

27.8.2020, 11:16:11

Hab ich das richtig verstanden ? Ich kann durch vorvertragliche Pflichtverletzungen entstandene Ansprüche geltend machen selbst, wenn das die Schutzplfichten begründende vorvertragliche Schuldverhältnis bereits zu einem vertraglichen Schuldverhältnis erstarkt ist ?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

24.12.2020, 02:19:29

Genau so ist es OCrrY, es sei denn, es gibt den Vorrang der Nacherfüllung im Kauf oder Werkrecht (insoweit ist die cic nur bei Vorsatz anwendbar).

BGBQU

BGB Quinn

22.9.2021, 23:13:40

Kann M auch nach Par. 324 vom Vertrag zurücktreten? Wenn ja, hat der Weg über c.i.c. irgendwelche Vorteile?

Ferdinand

Ferdinand

21.5.2021, 11:14:56

Woraus ergibt sich eine Aufklärungspflicht des M, den V über seine Tätigkeit aufzuklären in Bezug auf § 123 I ? Kann in diesem Zusammenhang auch auf § 241 II oder auf § 242 abgestellt werden?

Tigerwitsch

Tigerwitsch

21.5.2021, 12:01:58

Der BGH (U. v. 11.08.2010 - AZ.: XII ZR 192/08) führt hierzu aus: „Nach der Rechtsprechung] besteht eine Rechtspflicht zur Aufklärung bei Vertragsverhandlungen ohne Nachfrage dann, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise die Mitteilung von Tatsachen erwarten durfte die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind. […] Davon wird insbesondere bei solchen Tatsachen ausgegangen, die den Vertragszweck vereiteln oder erheblich gefährden können. […] eine Tatsache von ausschlaggebender Bedeutung kann auch dann vorliegen, wenn sie geeignet ist, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen.“ Der BGH führt weiter aus, dass es im Rahmen der Gewerbemiete grundsätzlich dem Vermieter obliegt, sich selbst über gefahren und Risiken zu informieren, die allgemein für ihn mit dem Abschluss eines Mietvertrages verbunden sind. Das gilt jedoch nicht für sog. außergewöhnliche Umstände. Insbesondere kommt es nach Ansicht des BGH auf den konkreten Einzelfall an. Im vorliegenden Fall war insbesondere zu berücksichtigen, dass das Mietobjekt sich in dem vom Künstler Hundertwasser entworfenen Gebäude befand. Das Gebäude war aufgrund seiner besonderen Gestaltung eine Attraktion für Touristen und Kunden. Der Verkauf von Waren der Marke „Thor Steinar“ würde diesen Zweck gefährden. Der BGH führt aus: „ denn der Verkauf solcher Waren kann zur Folge haben, dass das Hundertwasserhaus in den Ruf gerät, Anziehungsort für rechtsradikale Käuferschichten zu sein und damit ein Ort, an dem […] gewaltsame Auseinandersetzungen zu erwarten sind. […] Der Verkauf von Waren [dieser] Marke […] kann deshalb der Vermieterin erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen.“

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.5.2021, 12:06:07

Hallo Ferdinand, in der Tat zieht der BGH hier zur Herleitung der Aufklärungspflicht "Treu und Glauben" (§ 242 BGB) heran (Rdnr. 24 ff): "Allerdings besteht nach der Rechtsprechung eine Rechtspflicht zur Aufklärung bei Vertragsverhandlungen auch ohne Nachfrage dann, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise die Mitteilung von Tatsachen erwarten durfte, die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind [Quellen]. [...] Die Aufklärung über eine solche Tatsache kann der Vertragspartner redlicherweise aber nur verlangen, wenn er im Rahmen seiner Eigenverantwortung nicht gehalten ist, sich selbst über diese Tatsache zu informieren." Gemessen an diesen Maßstäben hat der BGH wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles eine Aufklärungspflicht bejaht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Vincent

Vincent

15.9.2021, 12:25:27

Ich finde problematisch worin hier der Schaden zu sehen ist bzgl. der Vertragsaufhebung: Ein anderer Mieter hätte im Zweifel ja dieselbe Miete gezahlt, nur eben nicht mit der Intention, dort Sachen der Marke Thor Steinar zu verkaufen. Oder bedarf es hier gar keinem Schaden sondern nur der Feststellung, dass der Vertrag deshalb aufgehoben werden konnte?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.10.2021, 09:19:35

Hallo Vincent, in der Tat liegt der "Schaden" hier in dem Abschluss des Mietvertrages und den davon ausgehenden potentiellen wirtschaftlichen Schädigungen des V (rufschädigende Wirkung, wodurch Kunden und Touristen, ggfs. Minderung oder Kündigung der anderen Mieter in dem Komplex) . Um diesen Schaden auszugleichen, ist der Zustand herzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestanden hätte. Dies gelingt hier durch Aufhebung des Mietvertrages. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Klima-Kleber

Klima-Kleber

10.4.2023, 13:09:57

Weshalb ist hier § 311 III 2 BGB einschlägig (vgl. Frage 4)?

AN

Anna

24.4.2024, 15:49:26

Dieser Frage schließe ich mich an. In § 311 III wird doch grds. Von einem Schuldverhältnis und daraus begründeten Schutzpflichten ggü. Dritten gesprochen. Müsste der Anspruch nicht aus § 311 II Nr. 1 BGB resultieren?

Natze

Natze

21.2.2024, 15:05:32

Auch wenn ich die Entscheidung anti-rechts absolut begrüße: Was ist denn mit der mittelbaren Drittwirkung der GR? In Art. 3 III GG wird die politische Gesinnung erwähnt?

Dogu

Dogu

17.5.2024, 13:30:51

Als natürliche Person bin ich grundsätzlich (außer bei Monopolstellung wichtiger Güter etc.) nicht zur Gleichbehandlung verpflichtet, sondern kann mir meine Vertragspartner frei aussuchen. Ansonsten wäre ja auch von der Vertragsfreiheit nichts mehr übrig. Ein Vermieter muss ansonsten nur im Rahmen des AGG gleich behandeln (§ 19 AGG). Das AGG umfasst nicht die politische Gesinnung, sondern bis auf die Religion nur Faktoren, die sich der Disposition entziehen. Des Weiteren wäre hier schon der Anwendungsbereich fraglich, wenn der Vermieter nur eine Gewerbeimmobilie vermietet und kein Massengeschäft abwickelt. Dazu gibt es auch einen Fall auf Jurafuchs (NPD-Funktionär wird die Reservierung im Wellness-Hotel verweigert). Vielleicht hilft der auch weiter. :)

Natze

Natze

17.5.2024, 13:35:00

Danke dir für die Antwort ☺️


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