Auslieferung bei drohender Todesstrafe

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V ist vietnamesischer Staatsbürger und hält sich in Deutschland auf. Als V straffällig wird, möchten die deutschen Behörden ihn nach Vietnam abschieben. Dort ist V wegen früher begangener Verbrechen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Ihn erwartet dort die Todesstrafe.

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Einordnung des Falls

Auslieferung bei drohender Todesstrafe

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der persönliche Schutzbereich des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) ist eröffnet.

Genau, so ist das!

Jede lebende natürliche Person ist Träger des Grundrechts auf Leben. Es handelt sich um ein Jedermann-Grundrecht. Dies folgt schon aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." V ist eine lebende natürliche Person. Da es sich um ein Jedermann-Grundrecht handelt, ist er auch als vietnamesischer Staatsbürger geschützt. Der persönliche Schutzbereich des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) ist eröffnet. Neben Jedermann-Grundrechten gibt es auch Deutschen-Grundrechte wie z.B. Art. 8 Abs. 1 GG. Auf diese können sich nur Deutsche i.S.v. Art. 116 GG berufen.
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2. Durch die Abschiebung schwebt V in Lebensgefahr.

Ja, in der Tat!

Das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) schützt das Recht zu leben. Leben ist dabei körperliches Dasein, d.h. die biologisch-physische Existenz. V ist in seiner Abwesenheit in Vietnam zum Tode verurteilt worden. Wird er nach Vietnam abgeschoben, erwartet ihn dort die Todesstrafe. Sein Leben schwebt in Gefahr. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) ist eröffnet.

3. Grundrechtseingriffe müssen immer unmittelbar sein, damit man den Schutz der Grundrechte genießt.

Nein!

Man kann dem Staat auch mittelbare Beeinträchtigungen zurechnen. Wichtig ist hierfür, dass die Grundrechtsbeeinträchtigung objektiv zurechenbar, jedenfalls aber objektiv vorhersehbar war. Die Zurechnung einer Beeinträchtigung hängt dabei nicht vom Verschulden des Staates ab. Es muss aber immer ein positives Zurechnungskriterium bestehen.

4. Es liegt ein Eingriff in das Recht auf Leben des V vor.

Genau, so ist das!

Ein Eingriff in das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) ist jede rechtliche oder faktische staatliche Maßnahme, die den Tod eines Menschen bewirkt. Problematisch ist die Abschiebung des V. Ihn erwartet in Vietnam die Vollstreckung der Todesstrafe durch den vietnamesischen Staat. Die Grundrechtsbeeinträchtigung ist somit mittelbar und der Bundesrepublik auch objektiv zurechenbar. Früher nahm das BVerfG an, die Abschiebung von Ausländern greife nicht in das Recht auf Leben ein, auch wenn der Beschwerdeführer im Ausland zum Tode verurteilt und die Todesstrafe vollstreckt werden wird (BVerfG, Beschl. v. 30.06.1964 - 1 BvR 93/64). Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich überholt. Der Staat darf nur ausliefern, wenn der ersuchende Staat zusichert, die Strafe nicht zu vollstrecken (Art. 19 Abs. 2 EU-GrCH i.V.m. § 60 Abs. 3 AufenthG; § 8 IRG; Art. 3 EMRK (non-refoulment), Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 16 UN-AntifolterK).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TR

Tr(u)mpeltier

7.2.2020, 21:36:37

Die Fundstelle könnte noch konkretisiert werden : BVerfG, 22. November 2005 - 2 BvR 1090/05

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

6.9.2020, 19:41:47

Hallo Trumpeltier, zwar ist die von dir zitierte Entscheidung ähnlich, aber in ihr geht es um einen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG). Wir ergänzen ihn dennoch, da unser Fall (neben dem zitierten Urteil, das Frankreich in der Zeit als es dort die Todesstrafe betraf) auch den von dir genannten streift (insb Erwähnung des § 8 IRG).

SARA

sarakw

8.3.2021, 17:49:18

Hier wäre für die deutschen

Behörde

n auch das non refoulement Gebot aus der EMRK sowie der UN Antifolterkonvention zu beachten (vgl. auch den Soering Fall).

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.12.2021, 09:47:43

Vielen Dank für den Hinweis, Sara. Das haben wir nun mit aufgenommen :-)

ri

ri

18.7.2021, 01:10:32

Welchen Wert soll denn eine solche Zusicherung haben? Verbindlich ist sie nicht, könnte also höchstens Sanktionen mach sich ziehen, wenn die Todesstrafe durchgeführt wird. Damit bleibt es bei der Verantwortlichkeit des deutschen Staates. Es ist auch objektiv vorhersehbar, dass ein anderer Staat seinen Strafanspruch durchsetzen will und wird.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.12.2021, 09:40:13

Hallo ri, sehr gute Frage. In der Tat hat man bei internationalen Verträgen immer wieder das Problem, dass es an einem Durchsetzungsmechanismus fehlt. Interessanterweise halten sich trotzdem die meisten Staaten an ihre Verpflichtungen und Zusicherungen, denn letztlich merkt sich die andere Seite ja einen Wortbruch und kann diesen zukünftig bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigten. Das BVerfG hatte sich in seiner Entscheidung 1964 hiermit noch nicht befassen müssen, da das IRG in Deutschland erst 1997 in Kraft getreten ist. In der Tat wird man aber fordern können, dass die Zusicherung sorgfältig geprüft wird und eine Abschiebung nur dann erfolgt, wenn sich die Zusicherung als verlässlich erweist (vgl. Göbel-Zimmermann, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Teil 2. Materielles Asyl- und Flüchtlingsrecht, RdNr. 262). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

13.12.2021, 18:37:04

Hallo ri, als kurzer Nachtrag zu den Ausführungen von Lukas: Die Fachgerichte, die über die Rechtmäßigkeit einer Auslieferung oder einer Abschiebung entscheiden müssen, prüfen detailliert das Vorliegen von Hinderungsgründen (§ 8 IRG) und dort insbesondere die Verlässlichkeit der Zusicherungen, dass die Todesstrafe nicht vollzogen wird. Das Bundesverfassungsgericht überprüft in ständiger Rechtsprechung die Prüfung der Fachgerichte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.11.2005 - 2 BvR 1090/05 - , RdNr. 36ff.). Sollte ein ausländischer Staat entgegen seiner Zusicherung dann doch die Todesstrafe vollziehen - was mir nicht bekannt ist ,- wäre Deutschland trotzdem nicht verantwortlich, weil es im Rahmen der Prüfungsanforderungen eine Todesgefahr ausschließen durfte. Anders wäre es z.B., wenn Deutschland eine Zusicherung hätte, die bereits in anderen Fällen verletzt worden wäre. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Juratiopharm

Juratiopharm

9.12.2021, 22:27:52

Nach Epping, Grundrechte liegt auch dann ein Eingriff vor, wenn eine konkrete Gefährdung des Lebens droht. Hierzu wird grade der Fall vorgebracht, indem bei Abschiebung im Zielland die Todesstrafe droht. Wenn der Staat auch bei dieser Art der Strafverfolung mithelfen darf, dann schiebt et ja wohl wissend diese Mittelbarkeit nur vor. Außerdem kann von einem Mithelfen ja kaum die Rede sein, immerhin wir ja nicht wegen der Verbrechen in Vietnam abgeschoben.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

13.12.2021, 18:54:58

Hallo Juratiopharm, danke für deinen Kommentar. Du hast vollkommen recht, die Abhandlung der Zurechnung und der Eingriffsdimension in diesem Fall war bislang unpräzise. Ist - davon geht der Sachverhalt aus - damit zu rechnen, dass der Beschwerdeführer bei Abschiebung im Ausland zum Tode verurteilt wird und dass die Todesstrafe vollstreckt wird, so lässt sich nach heutigem verfassungsrechtlichen Verständnis davon ausgehen, dass es solche Auslieferung als mittelbarer Eingriff gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstößt. Die anderslautende Entscheidung des BVerfG vom 30.06.1964 - 1 BvR 93/64 - dürfte sich verfassungsrechtlich überholt haben. Auch einfachgesetzlich steht die Annahme der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe einer Auslieferung entgegen (§ 8 IRG). Wir haben die Aufgabe angepasst. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

SCH

Schwanzanwaltschaft

18.1.2024, 08:54:33

Läge hier auch ein Eingriff in die Menschenwürde vor? Sofern die Todesstrafe durch den deutschen Staat selbst verhäng worden wäre, läge ein solcher ja vor.

LELEE

Leo Lee

20.1.2024, 14:18:26

Hallo Schwanzanwaltschaft, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In der Entscheidung selbst wird zwar auf den „Wert des Menschenlebens“ eingegangen, freilich (leider) nicht auf die Frage der Verletzung von Menschenwürde. Da jedoch die Todesstrafe (ungeachtet erstmal dessen, wer diese verhängt) eine Verletzung der Menschenwürde (Mensch wird objektifiziert) und das BVerfG den Eingriff in das Leben (durch die Todesstrafe) durch die Abschiebung bejaht, wäre es mMn mit guten Gründen vertretbar, auch die mittelbare Beeinträchtigung der Menschenwürde zu bejahen. Beachte allerdings, dass aufgrund der Absolutheit bzw. Abwägungsfestigkeit zurückhaltend mit der Menschenwürde umzugehen ist. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Jarass/Pieroth GG 17. Auflage, Jarass Art. 1 Rn. 11 ff. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Sassun

Sassun

17.9.2024, 15:42:03

Wäre in einem Gutachten der Art. 16a I GG nicht auch einschlägig? (von den "Ausnahmen" des Abs. 2 und 3 abgesehen)


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