Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)

Genügt für einen Verstoß gegen § 230 Abs. 1 StPO die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten?

Genügt für einen Verstoß gegen § 230 Abs. 1 StPO die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten?

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Angeklagter R hat eine attestierte Störung der Konzentrationsfähigkeit. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls ging seine Hauptverhandlung ununterbrochen von 09:00 Uhr bis 17:00 Uhr. Der Kammervorsitzende äußerte gegenüber dem Revisionsgericht schriftlich, dass vier kurze zehn Minutenpausen und eine einstündige Mittagspause stattgefunden hätten.

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Einordnung des Falls

Genügt für einen Verstoß gegen § 230 Abs. 1 StPO die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Fortführung der Hauptverhandlung könnte gegen §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO verstoßen haben.

Ja!

Eine Hauptverhandlung darf grundsätzlich ohne den ausgebliebenen Angeklagten nicht stattfinden bzw. nicht ohne ihn fortgesetzt werden (§§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO). In Abwesenheit eines Angeklagten darf nur dann (weiter-) verhandelt werden, wenn ein gesetzlich normierter Ausnahmetatbestand vorliegt.
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2. Die nach § 230 Abs. 1 StPO vorgeschriebene Anwesenheit ist stets gewahrt, wenn der Angeklagte körperlich anwesend ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die körperliche Anwesenheit des Angeklagten allein genügt nicht, vielmehr muss der Angeklagte auch verhandlungsfähig sein.An der Verhandlungsfähigkeit könnte es vorliegend fehlen, wenn ein Angeklagter mit Konzentrationsschwäche gezwungen ist, an einer achtstündigen Hauptverhandlung ohne Pause teilzunehmen.

3. Folgt aus dem Umstand, dass das Hauptverhandlungsprotokoll keine Pausen auswies, dass es keine gab (negative Beweiskraft, § 274 Abs. 1 StPO)?

Nein, das trifft nicht zu!

Die ausschließliche Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls gilt nur für die wesentichen Förmlichkeiten der Verhandlung. Zu den wesentlichen Förmlichkeiten zählen dabei alle Vorgänge, die für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens von Bedeutung sein können. Umfasst sind insbesondere die gesetzlich vorgeschriebenen Verlaufsstrukturen der Hauptverhandlung, die deren Fortgang eine den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens entsprechende Form geben (M-G/S, § 273 RdNr. 6).Die Pausenzeiten sind nicht gesetzlich vorgeschrieben. Hierfür gilt die ausschließliche Beweiskraft des Protokolls nicht. Entsprechend folgt aus dem Fehlen von Pausen im Protokoll nicht, dass es keine gab. Prüfe in der Klausur am besten anhand des Kommentars, ob es sich um eine wesentlichen Förmlichkeiten handelt (M-G/S, § 273 RdNr. 7).

4. Kann die dienstliche Stellungnahme im Revisionsprozess berücksichtigt werden?

Ja!

Soweit dem Protokoll keine ausschließliche Beweiskraft zukommt, gilt der Freibeweis. Es können dann auch Beweismittel verwendet werden, die nicht explizit in der StPO vorgesehen sind bzw. bei denen nicht die strengen Anforderungen des Strengbeweisverfahrens gewahrt sind.Anhand der dienstlichen Äußerung des Kammervorsitzenden kann belegt werden, dass Pausen eingehalten wurden. Damit war die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten gewahrt. Es lag somit kein Verstoß des § 230 Abs. 1 StPO vor.
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