+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die erfahrene A soll Gasrohre bei BASF (B) wechseln. B markiert die inaktiven Rohre farblich. Versehentlich schneidet A ein unmarkiertes, aktives Rohr an. Das austretende Gas entzündet sich. Der zum Löschen geeilte Feuerwehrmann F wird durch die anschließende Gasexplosion getötet.
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Einordnung des Falls
Problematisch bei dem hier vorliegenden Retter-Fall ist die objektive Zurechnung im Rahmen der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung. Konkret geht es um die Frage, ob sich eine fahrlässig herbeigeführte Gefahr im eingetretenen Erfolg objektiv zurechenbar niederschlägt, oder ob es sich um eine bewusste Selbstgefährdung der Berufsretter handelt, welche die objektive Zurechnung ausschließe. Eine objektive Zurechenbarkeit sei hier nach BGH gegeben, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schaffe, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründe und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schaffe.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat A sich hier wegen Totschlags (§ 212 StGB) strafbar gemacht?
Nein!
Neben dem Tod eines anderen Menschen setzt der Totschlag (§ 212 StGB) voraus, dass der Täter den Tod des Opfers vorsätzlich herbeigeführt hat.
A hat hier das aktive Gasrohr versehentlich angeschnitten und damit den Tod des F jedenfalls nicht vorsätzlich herbeigeführt.
In einem solch offensichtlichen Fall solltest Du mutig sein und in der Klausur die Prüfung von § 212 StGB gern auch so knapp abhandeln.
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2. Könnte A sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben, wenn die Voraussetzungen des § 222 StGB vorliegen?
Genau, so ist das!
Nach § 222 StGB macht sich strafbar, wer den Tod eines anderen Menschen fahrlässig herbeiführt. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung setzt im Tatbestand die kausale, objektiv sorgfaltswidrig und zurechenbare Herbeiführung des Todes eines anderen Menschen voraus. Zudem müssen Rechtswidrigkeit und Schuld vorliegen. Im Rahmen der Schuld ist bei Fahrlässigkeitsdelikten zusätzlich zu beachten, dass der Täter auch subjektiv fahrlässig gehandelt haben muss. Bitte vergiss die subjektive Fahrlässigkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten wie § 222 StGB nicht. Das ist ein beliebter Fehler.
3. Hat A durch Anschneiden des unmarkierten Gasrohres Fs Tod kausal verursacht?
Ja, in der Tat!
Eine Handlung ist kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (= conditio-sine-qua-non-Formel).
Hätte A das Gasrohr nicht angeschnitten, so wäre die Explosion ausgeblieben, die F getötet hat.
4. Hat A objektiv ihre Sorgfaltspflicht verletzt, indem sie das unmarkierte Rohr angeschnitten hat?
Ja!
Pflichtwidrig handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient. Dabei bestimmen sich Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind.Mit Blick auf die besondere Gefahr, die von Gasaustritten ausgehen kann, war A verpflichtet, nur inaktive Rohre anzuschneiden, um Gasaustritte zu vermeiden. Da das Rohr nicht markiert war, hätte A auch erkennen können, dass es sich hierbei um ein aktives Gasrohr handelte.
5. Müsste Fs Tod der A auch objektiv zurechenbar sein?
Genau, so ist das!
Eine Zurechnung des Erfolgs setzt zunächst voraus, (1) dass der Kausalverlauf und der Erfolgseintritt objektiv vorhersehbar sind. Eine Zurechnung des Erfolgs ist zudem nur möglich, (2) wenn sich gerade die durch die mangelnde Sorgfalt des Täters gesetzte Gefahr im eingetretenen Erfolg realisiert hat und der Erfolg in den Schutzbereich der Norm (=Schutzzweckzusammenhang) fällt. Ferner werden Erfolge nur dann zugerechnet, (3) wenn sie im Falle eines pflichtgemäßen Verhaltens des Täters nicht eingetreten wären (=Pflichtwidrigkeitszusammenhang).Die objektive Zurechenbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges ist immer ein Klausurschwerpunkt in den Retterfällen. Hier gilt es sauber zu arbeiten, um keine Punkte zu verschenken!
6. War es aus objektiver Sicht überraschend, dass die angeschnittene Gasleitung eine Explosion auslöste, die zum Tod eines Menschen führte?
Nein, das trifft nicht zu!
Kausalverlauf und Erfolg sind objektiv vorhersehbar, wenn die Folgen des Handelns in ihrem Gewicht im Wesentlichen voraussehbar sind. An der objektiven Voraussehbarkeit fehlt es, wenn der Geschensverlauf so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegt, dass niemand mit diesem Erfolg zu rechnen brauchte.Da Gas leicht entflammbar ist, ist es voraussehbar, dass sich das Gas beim Anschneiden einer Gasleitung entzündet. Ebenso ist es voraussehbar, dass eine entzündete Gasleitung Explosionen zur Folge haben kann, durch die Menschen zu Schaden kommen oder sogar getötet werden.
7. Diente As Pflicht, nur markierte Rohre anzuschneiden, (auch) dazu, Gasaustritte zu vermeiden und Explosionen zu verhindern. Somit besteht ein Schutzzweckzusammenhang?
Ja!
Eine Zurechnung des Erfolgs ist nur möglich, wenn sich gerade die durch die mangelnde Sorgfalt des Täters gesetzte Gefahr im eingetretenen Erfolg realisiert hat und der Erfolg in den Schutzbereich der Norm fällt (=Schutzzweckzusammenhang).BGH: Die bei den Arbeiten an Rohrleitungen zu beachtende Aufmerksamkeit diene gerade dazu, Leib und Leben von Personen auf dem Werksgelände zu schützen. Bei pflichtgemäßem Handeln wären der Unfall und damit die Folgen mit Sicherheit verhindert worden (RdNr. 21). Somit besteht ein Schutzzweckzusammenhang.
8. Hätte A eine Explosion ausgelöst, auch wenn sie nur markierte Rohre bearbeitet hätte?
Nein, das ist nicht der Fall!
Der tatbestandsmäßige Erfolg wird nur dann zugerechnet, wenn er im Falle eines pflichtgemäßen Verhaltens des Täters nicht eingetreten wären (=Pflichtwidrigkeitszusammenhang).BGH: Bei pflichtgemäßem Handeln wären der Unfall und damit die Folgen mit Sicherheit verhindert worden (RdNr. 22).
9. Bleibt die Handlung dem Täter immer objektiv zurechenbar, auch wenn sich das Opfer freiwillig der vom Täter geschaffenen Gefahr für Leib und Leben aussetzt?
Nein, das trifft nicht zu!
Gefährdet das Opfer sich in Konstellationen der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte bewusst selbst, kann die Tat dem Täter unter Umständen nicht objektiv zugerechnet werden (Grundsätze der bewussten Selbstgefährdung). Dies ist dann der Fall, wenn der Taterfolg die Folge einer bewussten, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung des Opfers ist und sich die Mitwirkung des Täters in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungsaktes erschöpft hat. Die Zurechnung bleibt hingegen bestehen, wenn sich das Opfer berechtigterweise durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage veranlasst sieht, in das Geschehen rettend einzugreifen und dadurch selbst geschädigt wird.Hier muss man den Sachverhalt genau lesen, denn durch kleine Abwandlungen ergeben sich komplett andere Lösungen.
10. Entfällt As Haftung nach den Grundsätzen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung, da F freiwillig zur Gefahrenstelle eilte?
Nein!
Der Grundsatz der Straffreiheit wegen bewusster Selbstgefährdung ist einzuschränken, wenn sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage berechtigterweise veranlasst sieht, in das Geschehen rettend einzugreifen und dadurch selbst geschädigt wird (Retterfälle). BGH: Dies gelte v.a. für Berufsretter, die rechtlich zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und aufgrund ihrer Fachkompetenz und dem damit einhergehenden geringeren Verletzungsrisiko höhere Risiken eingehen müssen als private Retter (RdNr 27).Da F als Feuerwehrmann zum Einschreiten verpflichtet ist, bleibt As Haftung bestehen.Nach Teilen von Rspr. und Literatur wird die Zurechnung in Retterfällen wiederum unterbrochen, wenn Berufsretter pflichtwidrig oder grob unvernünftig handeln. Dafür gab es hier keine Anhaltspunkte. Die Frage hat der BGH offen gelassen (RdNr. 29 f).
11. Handelte A tatbestandsmäßig und rechtswidrig?
Genau, so ist das!
Eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB setzt im Tatbestand die kausale, objektiv sorgfaltswidrig und zurechenbare Herbeiführung des Todes eines anderen Menschen voraus. Zudem müssen Rechtswidrigkeit und Schuld vorliegen. Im Rahmen der Schuld ist bei Fahrlässigkeitsdelikten zusätzlich zu beachten, dass der Täter auch subjektiv fahrlässig gehandelt haben muss. A hat den Tod des F kausal und objektiv sorgfaltswidrig herbeigeführt. Fs Tod war A auch objektiv zurechenbar. Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich.
12. Handelte A auch subjektiv fahrlässig und damit schuldhaft?
Ja, in der Tat!
Subjektive Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter subjektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt hat und den tatbestandsmäßigen Erfolg subjektiv vorhersehen konnte.A hätte mehr Vorsicht walten lassen und dadurch ihre Sorgfaltspflicht einhalten können. Aufgrund ihrer Erfahrung konnte A vorhersehen, dass es bei unvorsichtiger Arbeit zu einem Gasunfall kommen könnte und hierdurch Menschenleben gefährdet würden. A hat sich somit der fahrlässigen Tötung strafbar gemachtIn der Regel ergeben sich keine Unterschiede zwischen objektiver und subjektiver Fahrlässigkeit. Dennoch ist es sauberer, die subjektive Fahrlässigkeit erst bei der Schuld zu prüfen und nicht bereits im Tatbestand. Erst wenn Du beim BGH angelangt bist, darfst Du Dir das erlauben (vgl. RdNr. 17). Ein Prüfungsschema für § 222 StGB findest Du hier . Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB)?
- Tatbestandsmäßigkeit
- Tod eines anderen Menschen
- Kausale Handlung
- Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
- Objektive Zurechnung
- Objektive Voraussehbarkeit des Kausalverlaufs und Erfolgseintritts)
- Schutzzweckzusammenhang
- Pflichtwidrigkeitszusammenhang
- Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
- Subjektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Schuldfähigkeit
- Subjektive Fahrlässigkeit
- Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
- Subjektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung
- Entschuldigungsgründe