Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2020
Sukzessive Mittäterschaft ohne eigenen Tatbeitrag?
Sukzessive Mittäterschaft ohne eigenen Tatbeitrag?
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Nach einem Streit schlägt A mit einem Baseballschläger auf Os Kopf ein. Als O schon lebensgefährlich verletzt ist, fordert A die B auf „auch mal was zu machen“, woraufhin B auf O einsticht. Es kann nicht mehr festgestellt werden, ob O in Folge der Schläge oder der Messerstiche starb.
Diesen Fall lösen 81,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der BGH präzisiert in diesem Beschluss die Anforderungen an die sukzessive Mittäterschaft. Demnach sei eine Zurechnung bereits verwirklichter Tatumstände nur dann möglich, wenn der Hinzutretende selbst einen Beitrag für die Tatbestandsverwirklichung leistet. Ist dies allerdings nicht möglich, wenn der Vortäter bereits alles für die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs getan hat und der Hinzutretende deshalb keinen Einfluss auf die Tatbestandsverwirklichung mehr ausüben kann.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte A sich wegen Totschlags strafbar gemacht haben, indem er mit dem Baseballschläger auf den Kopf des O einschlug (§ 212 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Waren die Schläge auf Os Kopf kausal für dessen Tod?
Ja, in der Tat!
3. Ist der objektive Zurechnungszusammenhang zwischen den Schlägen des A und dem Tod des O ausgeschlossen, wenn O in Folge der Messerstiche starb?
Nein!
4. Hat A sich wegen Totschlags strafbar gemacht, indem er mit dem Baseballschläger auf Os Kopf einschlug (§ 212 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
5. Könnte B sich wegen mittäterschaftlichen Totschlags strafbar gemacht haben, indem er nach As Aufforderung auf O einstach (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB)?
Ja, in der Tat!
6. Hängt die sukzessive Mittäterschaft als Sonderfall der Mittäterschaft von besonderen Kriterien ab (§25 Abs. 2 StGB)?
Ja!
7. Hatten A und B einen gemeinsamen Tatplan?
Genau, so ist das!
8. Hat Bs sukzessive Mitwirkung objektiv zur Tatbestandsverwirklichung beigetragen?
Nein, das trifft nicht zu!
9. Hat B, indem er auf O einstach, sich aber wegen versuchten gemeinschaftlichen Totschlags strafbar gemacht (§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB)?
Ja!
10. Hat B sich auch wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht (§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB)?
Genau, so ist das!
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) von zwei Beteiligten (T+M), wenn T täterschaftlich alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht hat, M aber nicht?
- Strafbarkeit des tatnächsten T (normale Prüfung wie Alleintäter, ohne § 25 Abs. 2 StGB zu erwähnen)
- Strafbarkeit des M
- Tatbestandsmäßigkeit
- Feststellung: M hat den objektiven Tatbestand nicht selbst (vollständig) verwirklicht
- Prüfung: Kann M die Tathandlung des T über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden? (Vss.: Gemeinsame Tatausführung mit wesentlichen Tatbeiträgen + gemeinsamer Tatentschluss)
- Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale (die gegenseitige Zurechnung gem. § 25 Abs. 2 StGB erstreckt sich nur auf obj. TBM; bes. subj. TBM müssen jeweils in der Person des Mittäters vorliegen, getrennt geprüft und festgestellt werden)
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Tatbestandsmäßigkeit
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Dominik
15.10.2022, 16:28:24
Bezüglich § 224 I Nr. 5 gibt der Sachverhalt keine Hinweise die auf eine das Leben gefährdende Behandlung hinweisen. Die konkrete Lebensgefahr bestand bereits nach den Schlägen mit dem Baseballschläger.
Yasmin
16.10.2022, 10:50:32
‘Die Behandlung muss nach den konkreten Umständen geeignet sein, den Tod des Opfers herbeizuführen. Konkrete Eignung ist weniger als konkrete Gefährdung, aber mehr als abstrakte Gefährdung, denn die Möglichkeit der Todesfolge darf nach den konkreten Umständen nicht ausgeschlossen sein. Auch Nr. 5 beschreibt also eine abstrakte Gefährdung unter Ausschluss konkreter Ungefährlichkeit.’MüKoStGB/Hardtung StGB § 224 Rn. 42, 43 Ein Ausschluss liegt durch die Verletzungen des O durch A nicht vor, selbst wenn diese medizinisch tatsächlich kausal für den Todeseintritt waren oder hypothetisch ausgereicht hätten auch ohne weiteres Zutun zum Tod zu führen. Solange O noch lebte, bestand die Möglichkeit, dass sein Tod durch das brutale Verhalten des B früher eintrat (
überholende Kausalität) - soweit sich das Risiko seiner
Tathandlungnicht ohnehin verwirklicht hat.
Rick-energie🦦
22.10.2022, 08:16:46
Müsste man nicht bei der KV konsequent bleiben und diese mangels tauglichen
Tatobjekts ablehnen bzw als untauglichen Versuch ausgestalten, wenn wir oben sagen, dass en dubio pro reo die
objektive Zurechnungscheitert, da O bereits tot und die Tat beendet ist?
GilgameshTG
22.10.2022, 09:42:45
Guter Gedanke, aber Vorsicht: Laut SV verstirbt O erst später, nur woran ist nicht zu klären. Er war also während der Stiche noch am Leben. Der Grund, dass er kein taugliches
Tatobjektfür den Totschlag war, ist der, dass er bereits "am Sterben" war, aber nicht bereits tot. Theoretisch hätten die Stiche ihn überholend noch umbringen können, das wird aber in dubio pro reo ausgeschlossen.
Rick-energie🦦
22.10.2022, 09:50:00
Merci Merci
JonasD
3.2.2023, 10:18:25
Ist für die Bejahung des Totschlags/Mords nicht „jedes Verkürzen der Restlebensspanne“ ausreichend? Müsste dann der Totschlag bei B nicht auch bejaht werden? Bzw. wenn nicht, müsste in dubio pro reo nicht auch davon ausgegangen werden, dass A‘s Schläge nicht tödlich waren, sondern erst B‘s Messerstiche? Sprich eine Verurteilung A’s wegen vollendeter Haupttat wird auch abgelehnt. Aber damit eben keine Strafbarkeitslücke entsteht, werden beide aus vollendetem Delikt bestraft (Fall der alternativen Kausalität/
Doppelkausalität). Oder hab ich da einen Denkfehler?
Nora Mommsen
4.2.2023, 10:11:57
Hallo JonasD, danke für deine Frage. Das ist oft die gängige Definition. Im sicher feststehen, muss aber der Tod des Opfers. Sonst wäre jede lebensverkürzene Körperverletzung (auch wenn die Auswirkungen sich erst in Jahren bemerkbar machen) zugleich ein Tötungsdelikt. Zulasten von A wirkt, dass ohne dessen Schläge es erst gar nicht zu B" Messerstichen gekommen wäre. Der
Zurechnungszusammenhangwird nicht unterbrochen. Zugunsten von B wirkt hingegen, dass nicht feststellbar ist ob "erst" die Stiche oder "schon" die Schläge des A Todesverursachend waren. Insofern kann er nur aus versuchtem Delikt bestraft werden, da es an einer zurechenbaren Vollendung fehlt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
karo1337
8.7.2023, 12:40:51
Wie kann die gefährliche Körperverletzung vollendet sein, wenn dann in dubio pro reo nicht feststellbar war, ob das Opfer schon tot war?
paulmadro
4.8.2023, 15:36:58
Der Zweifel bezieht sich hier nicht auf den Todeszeitpunkt des Opfers, sondern auf die Ursächlichkeit der
Verletzungshandlungen. Das Opfer war im Zeitpunkt der Messerstiche sicher noch am Leben (der BGH-Beschluss dazu sehr eindrücklich). Zugunsten des Zweittäters wird in dubio pro reo jedoch angenommen, dass allein die Schläge ursächlich für den Tod waren.
GARFuchs
27.8.2023, 07:49:36
B ist im Fall eine Frau, in den späteren Fragen aber wiederholt ein Mann!
Leo Lee
9.9.2023, 11:58:59
Hallo GARFuchs, vielen Dank für den Hinweis! Wir haben die Erklärungstexte nun entsprechend angepasst :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo
Pilea
16.11.2023, 09:47:45
@[Leo Lee](213375) @[Leo Lee](174538) B wird immer noch in einer Frage und zwei Antworten (glaube ich, also mehrmals) in der Mitte ca. als Mann bezeichnet.
fuchs_
3.7.2024, 14:00:53
Ich bin auch verwirrt. Bei den sog. Gnadenschussfällen wird doch auch der
Zurechnungszusammenhangunterbrochen (vorsätzliches Dazwischentreten eines Dritten) und derjenige, der den Gnadenschuss abgibt, um das ohnehin sterbende Opfer zu erlösen, wird wegen vollendeten Totschlags bestraft. Derjenige hingegen, der dem Opfer die tödliche Wunde zugefügt hatte, die dann aber durch den Gnadenschuss des Dritten sich nicht mehr "verwirklichen" konnte, wird nur wegen versuchten Totschlags bestraft. Ist der entscheidende Unterschied nur, dass es bei Gnadenschussfällen eindeutig ist, welche Handlung letztlich zum konkreten Tod des Opfers führte? Ich finde es seltsam, bei dem Fall hier bzgl der dazukommenden Person in dubio pro reo davon auszugehen, dass das Opfer an den Schlägen gestorben ist, aber diesen Maßstab nicht auch umgekehrt anzuwenden. Womöglich haben ja die Stiche den Kausalverlauf des Ersttäters unterbrochen. Ansonsten könnte ich mir vorstellen, dass die
sukzessive Mittäterschaftdie Bewertung hier ändert, aber das scheint ja auch nicht der Fall zu sein.
Juliaaaaaaaaaaaa
4.9.2024, 13:32:52
Leo Lee
9.9.2024, 15:48:25
Hallo Juliaaaaaaaaaaaa, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In der Tat könnte man sich diese Frage stellen! Beachte allerdings, dass die
sukzessive Beihilfe- wie auch die sukz. Mittäterschaft - nur solange möglich ist, wie die Tat noch NICHT beendet ist. D.h., die Probleme hierzu finden sich i.d.R. bei den Vermögensdelikte - etwa beim Diebstahl - wo eben die Vollendung (Wegnahme) früher eintritt als die Beendigung (endgültige Beutesicherung). Bei sog. Zustandsdelikten/Erfolgsdelikten, wo eben mit der Vollendung (Tod) auch die Beendigung (Tod) eintritt (wie beim Totschlag), gibt es keinen hinreichenden Zeitabstand für eine
sukzessive Beihilfezw. dem Vollendungsstadium und der Beendigung, weil die beiden zeitlich immer zusammenfallen. Folglich kannst du dir merken: Bei Erfolgsdelikten kommt das Problem der sukzessiven Beihilfe generell nicht in Betracht. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom Schönke/Schröder 30. Auflage, Heine/Weißer § 27 Rn. 20 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo