Öffentliches Recht

Grundrechte

Allgemeine Grundrechtslehren

Abwandlung 2: kein klassischer Eingriff durch Exekutive => moderner Eingriffsbegriff

Abwandlung 2: kein klassischer Eingriff durch Exekutive => moderner Eingriffsbegriff

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Stadt S betreibt eine Kläranlage in unmittelbarer Nähe zum Grundstück von Nachbar N. N kann wegen der erheblichen Lärm- und Geruchsimmissionen seinen Garten nur mit eingeschränktem Genuss nutzen. N fragt sich, ob S durch den Betrieb der Kläranlage in seine Grundrechte eingreift.

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Einordnung des Falls

Abwandlung 2: kein klassischer Eingriff durch Exekutive => moderner Eingriffsbegriff

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Stellt der vom Betrieb der Kläranlage ausgehende Lärm und Gestank einen Eingriff i.S.d. klassischen Eingriffsbegriffs in Ns allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) dar?

Nein, das trifft nicht zu!

Unter dem klassischen Eingriffsbegriff versteht man jede Beeinträchtigung, die final und unmittelbar durch einen staatlichen Rechtsakt mit Befehl und Zwang zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt. Die Beeinträchtigung der Gesundheit des N war von S nicht beabsichtigt oder gezielt (fehlende Finalität). Darüber hinaus steht hier die faktische Beeinträchtigung im Vordergrund und nicht die Grundrechtsverkürzung durch einen staatlichen Rechtsakt.
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2. Können auch hoheitliche Maßnahmen, die lediglich faktische und mittelbare Auswirkungen auf grundrechtliche Gewährleistungen haben, einen Grundrechtseingriff darstellen?

Ja!

Aus Sicht des Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob die Grundrechtsverkürzung von Seiten des Staates gezielt oder beabsichtigt war. Auch macht es für den Betroffenen keinen Unterschied, ob die Grundrechtsverkürzung durch Rechtsakt oder Realakt geschieht. Der klassische Eingriffsbegriff genügt daher nicht, um alle Erscheinungsformen staatlicher Eingriffe zu erfassen. Die moderne Grundrechtdogmatik hat daher den modernen Eingriffsbegriff herausgebildet. Dieser umfasst auch faktische und mittelbare Grundrechtsverkürzungen. Der moderne Eingriffsbegriff wird auch als weiter oder neuer Eingriffsbegriff bezeichnet.

3. Wegen der Unüberschaubarkeit der denkbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen nach dem modernen Eingriffsbegriff, sind nur solche erfasst, die dem Staat zurechenbar sind.

Genau, so ist das!

Wegen der Vielzahl an denkbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen nach dem modernen Eingriffsbegriff ist es erforderlich, dass die Neben- und Folgewirkungen einer staatlichen Maßnahme der Wirkung eines finalen Eingriffs gleichkommen. Hierbei muss auf den Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit abgestellt werden. Demnach liegt ein Eingriff vor, wenn der Staat die Grundrechtsbeeinträchtigung als für ihn vorhersehbare Folge zumindest billigend in Kauf nimmt.

4. Nach dem modernen Eingriffsbegriff liegt durch den vom Betrieb der Kläranlage ausgehenden Lärm und Gestank ein Eingriff in Ns allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) vor.

Ja, in der Tat!

Als Eingriffe kommen auch faktische und mittelbare Beeinträchtigungen in Betracht. Diese müssen dem Staat zurechenbar sein und ähnlich wie imperative Maßnahmen wirken. Aufgrund der Geruchs- und Geräuschemmissionen der Kläranlage wird zumindest Ns allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beeinträchtigt. Da die Stadt die Kläranlage selbst betreibt, sind die davon ausgehenden Beeinträchtigungen auch dem Staat zurechenbar. Hier könntest Du auch an Beeinträchtigungen des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 Abs. 1 GG) denken. Der Sachverhalt gibt für eine Annahme eindeutiger Eingriffe in diese Rechte jedoch nicht genug her.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

tomvali

tomvali

23.7.2023, 23:51:45

Worin liegt jetzt genau der Unterschied vom klassischen und modernen Eingriffsbegriff? Bedarf es bei dem modernen Eingriff dann eine gewisse Intensität der GR Beschränkung ?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.7.2023, 19:14:07

Hallo tomvali, der klassische Eingriffsbegriff ist restriktiv und setzt (1) finales, (2) unmittelbar hoheitliches Handeln mit, (3) Rechtswirkung nach außen und Durchsetzbarkeit mit (4) Zwang (=imperativ) voraus (Furz). Jedes einzelne Merkmal wird durch den modernen Eingriffsbegriff aufgeweicht, sodass auch unbeabsichtigtes, mittelbares, tatsächliches oder Handeln ohne Befehl und Zwang darunter fällt. Aufgrund dieser weiten Ausdehnung wird einschränkend verlangt, dass es zumindest eine Belastung von einiger Intensität vorliegt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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