Abwandlung 1: kein klassischer Eingriff durch Exekutive (Bagatelleingriffe)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Polizistin P macht ihren üblichen Streifengang über den Münchner Marienplatz. Tourist T fühlt sich von dieser - wie er meint - „permanenten Polizeiüberwachung“ belästigt und findet, in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht werde eingegriffen.

Einordnung des Falls

Abwandlung 1: kein klassischer Eingriff durch Exekutive (Bagatelleingriffe)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt in Ps üblichem Streifengang ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

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Nein!

Unter dem klassischen Eingriffsbegriff versteht man jede Beeinträchtigung, die final und unmittelbar durch einen staatlichen Rechtsakt mit Befehl und Zwang zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt. P beabsichtigt nicht, die grundrechtlichen Freiheit des T zu verkürzen (fehlende Finalität). Insbesondere wohnt der bloßen Präsenz der Polizei kein Befehls- oder Zwangscharakter inne. Es handelt sich auch nicht um einen Rechtsakt.

2. Bei geringfügigen Eingriffen (Bagatelleingriffen) liegt kein Eingriff im verfassungsrechtlichen Sinne vor.

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Genau, so ist das!

Bei nicht rechtlich wirkenden Maßnahmen des Staates ist eine Wertung vorzunehmen, inwiefern die (geringe) Erheblichkeitsschwelle überschritten ist. Relevanter Gesichtspunkt ist hierbei insbesondere die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und, ob diese dem Staat zurechenbar ist. Bei nur marginalen Eingriffen liegt kein Eingriff im verfassungsrechtlichen Sinn vor. Auch ist ein Eingriff zu verneinen, wenn das staatliche Handeln für die Grundrechtsbeeinträchtigung nicht kausal ist. Bagatelleingriffe sind in Klausuren eher selten, weil danach die Prüfung eigentlich beendet ist. Deshalb ist bei der Annahme eines Bagatelleingriffs Zurückhaltung geboten.

3. Der Streifengang des P stellt lediglich einen Bagatelleingriff dar.

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Ja, in der Tat!

Ein Bagatelleingriff liegt vor, wenn die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten wird, weil das staatliche Verhalten, kaum bis keinerlei Auswirkungen auf die grundrechtlichen Freiheiten ausübt. Die bloße Anwesenheit der P, ohne dass diese gegen T Maßnahme erlässt, berührt das allgemeine Persönlichkeitsrecht des T nur in sehr geringem Maße. Deshalb ist die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten. Für Folgemaßnahmen (bspw. eine polizeiliche Identitätskontrolle) wird die Erheblichkeitsschwelle überschritten und ein Eingriff liegt vor. In Klausuren kann es vorkommen, dass eine Maßnahme einen Eingriff nach dem klassischen Begriff darstellt, eine Maßnahmen einen Eingriff nach dem modernen Eingriffsbegriff beinhaltet und eine weitere Maßnahme unterhalb der Bagatellschwelle liegt. Entscheidend ist, dass Du die Maßnahmen unterscheidest und separat prüfst.

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DO

Dominic

17.8.2023, 17:05:41

Statt mit dem Begriff Bagatelleingriff würde ich hier eher stringent unter die Definitionsmerkmale der Eingriffsbegriffe subsumieren. Der klassische Eingriff verlangt eine Beeinträchtigung des Schutzbereiches. Der moderne verlangt immerhin, dass das staatliche Handeln ein grundrechtlich geschütztes Verhalten erschwert oder unmöglich macht. Hier drin würde ich dann erst eine Erheblichkeitsschwelle ansprechen. Eine Beeinträchtigung erfasst eben nicht bereits jedes "Unwohlsein".


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