Einführungsfall Menschenwürde

24. Januar 2025

7 Kommentare

4,8(33.264 mal geöffnet in Jurafuchs)

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Gastwirt G will einen „Zwergenweitwurf“ veranstalten. Hierfür erklärt sich der kleinwüchsige K bereit, von Gästen durch Gs Lokal geschleudert zu werden. Die Behörde untersagt die Veranstaltung. Sie verletze Ks Menschenwürde und sei daher nach § 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO sittenwidrig.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Einführungsfall Menschenwürde

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Menschenwürde ist in Art. 1 Abs. 1 GG garantiert. Sie ist oberster Wert der Verfassung.

Ja!

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Menschenwürde als „tragendes Konstitutionsprinzip und obersten Verfassungswert“ (BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98). Dies zeigt sich zum einen an der systematischen Stellung als erster Satz des Verfassungstextes nach der Präambel. Zum anderen bilden Art. 1 GG und Art. 20 GG die unabänderlichen Normen der Verfassung. Dies legt die sog. Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG fest. Als insofern unabänderliche Prämisse stellen Art. 1 GG und Art. 20 GG damit die tragenden Grundlagen der Verfassung dar. Klausuren, die die Menschenwürde zum Gegenstand haben, sind eher selten, aber sie kommen vor – teilweise als Grundrechteklausur, teilweise eingebettet in verwaltungsrechtliche Probleme. In mündlichen Prüfungen sind Fragen zu Menschenwürde beliebt. Diesen obersten Verfassungswert solltest Du also nicht nur aus Interesse beherrschen, sondern damit auch in der Prüfung glänzen. Nach h.M. ist die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht, auch wenn die systematische Stellung einen anderen Schluss zulassen könnte. Auch das BVerfG bezeichnet die Menschenwürde als Grundrecht.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Die Menschenwürde schützt den Eigenwert des Menschen.

Genau, so ist das!

Mit der Annahme der Menschenwürde als unabänderliche Prämisse der Verfassung wollte der historische Gesetzgeber den Eigenwert des Menschen vor den Wert des Staates stellen. Der Mensch soll niemals, anders als während des Nationalsozialismus, hinter Staatsbelangen zurücktreten müssen. Vielmehr sei „Der Staat [...] um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee). Zur genauen Konkretisierung des Schutzbereichs der Menschenwürde haben sich unterschiedliche Ansätze herausgebildet. Du wirst sie im weiteren Verlauf des Kurses kennenlernen.

3. K kann selbst entscheiden, ob seine Menschenwürde vorliegend zu achten ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Menschenwürde unantastbar. Unantastbarkeit der Menschenwürde bedeutet, dass die Menschenwürde absolut gilt. Die absolute Geltung umfasst unter anderem, dass die Menschenwürde unverfügbar ist. Der Einzelne kann nicht auf ihre Geltung verzichten. Auch für K ist die Menschenwürde unverfügbar. Er kann damit also nie, auch nicht im vorliegenden Fall, entscheiden, ob seine Menschenwürde durch Dritte zu achten ist.

4. Könnte ein Eingriff in Ks Menschenwürde durch Gs Berufsfreiheit gerechtfertigt sein?

Nein!

Die absolute Geltung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst auch, dass die Menschenwürde abwägungsfest ist. Eine Abwägung der Menschenwürde mit anderen Grundrechten ist damit unzulässig. Eine Abwägung von Ks Menschenwürde mit Gs Berufsfreiheit ist wegen der absoluten Geltung der Menschenwürde unzulässig. Somit kann ein Eingriff in Ks Menschenwürde auch niemals durch Gs Berufsfreiheit gerechtfertigt sein. Eine – umstrittene und seltene – Ausnahme bildet die Abwägung mit der Würde eines anderen Menschen.

5. Grundsätzlich ist G als Privatperson nur mittelbar an die Grundrechte gebunden. Ob dies auch für die Menschenwürde gilt, ist umstritten.

Genau, so ist das!

Die Grundrechte binden grundsätzlich nur den Staat (Art.1 Abs. 3 GG). Nach der wohl überwiegenden Ansicht wird unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG auch hinsichtlich der Menschenwürde allenfalls eine mittelbare Drittwirkung zugelassen (zB Jarass, Schmidt am Busch). Nach ebenfalls vertretener Ansicht beinhalte die absolute Geltung der Menschenwürde dagegen auch, dass die Menschenwürde unmittelbare Geltung gegenüber privaten Dritten entfaltet (zB Herdegen, Hillgruber). Das BVerfG lässt den Streit offen und spricht regelmäßig von „Ausstrahlungswirkung“ des Art. 1 Abs. 1 GG und von „Abwägung“ im Privatrecht (BVerfGE 96, 375 (398 f)).

6. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung ist die Menschenwürde weit auszulegen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Menschenwürde beansprucht in der Verfassung – gerade auch gegenüber den anderen Grundrechten – einen Sonderstatus, der in ihrer Unantastbarkeit zum Ausdruck kommt. Diesen Sonderstatus gilt es zu erhalten. Die Menschenwürde darf nicht zu „kleiner Münze“ verkommen, eine Aushöhlung muss somit vermieden werden. Aus diesem Grund ist die Menschenwürde restriktiv auszulegen. Wie die Menschenwürde definiert wird, lernst Du im weiteren Verlauf des Kurses.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAN

Daniel

25.3.2023, 14:10:25

Ob die Menschenwürde un

mittelbare Drittwirkung

entfaltet ist umstritten. In dem zugrundeliegenden Urteil stellt das VG auf die Schutzpflicht des Staates, und nicht auf eine un

mittelbare Drittwirkung

ab.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.4.2023, 17:44:14

Vielen Dank für Deinen Hinweis, Daniel! In der Tat brauchte sich das VG mit der unmittelbaren Drittwirkung nicht befassen. Denn der Werfer hatte sich hier gegen eine Unterlassungsverfügung der Behörde gewandt, weswegen es hier nur um die Frage ging, inwieweit die Behörde zugunsten des Geworfenen einschreiten musste/durfte (=Schutzpflicht). Wir haben hier aber noch präzisiert, dass die genaue Wirkung teilweise umstritten ist. In der Praxis wird es hierauf nicht ankommen, da der Private hier auch bei bloß mittelbarer Wirkung hinreichend geschützt wäre (zB Sittenwidrigkeit einer vertraglichen Verpflichtung, § 138 BGB). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LS2024

LS2024

11.1.2025, 14:23:31

Semantisch ergeben sich mir bei der letzte Frage und dem Antworttext weitere Fragen: 1. Eine weite Auslegung würde doch bedeuten, dass die Menschenwürde umfassend gewährt wird, da ihr Anwendungsbereich weit verstanden wird. Dem widerspricht der Antworttext der auf die besondere Bedeutung der Menschenwürde verweist nicht, sodass ich mich weiterhin frage, warum die Menschenwürde nicht weit ausgelegt wird. 2. Es heißt das aufgrund der besonderen Bedeutung eine restriktive Auslegung der Menschenwürde erforderlich ist. Doch eine restriktive Auslegung würde doch im Kontrast zur weiten Auslegung bedeuten, die Menschenwürde würde seltener zur Anwendung kommen, da der Anwendungsbereich verkürzt würde. Mithin ergibt sich auch das für mich gerade nicht aus der Begründung. Kann es also sein, dass die Menschenwürde tatsächlich weit auszulegen ist und nicht restriktiv auszulegen ist, sondern restriktiv (d.h. streng und ausnahmslos) anzuwenden ist. Bzw. was wäre dann die Argumentation gegen eine weite Auslegung?

SM2206

SM2206

12.1.2025, 05:07:10

Man sagt, sie Menschenwürde sei deshalb eng auszulegen, weil andernfalls ihr besonderer Wert missachtet würde. Es ist eben der oberste Verfassungswert, der nicht ständig, sondern nur in krassen Ausnahmefällen herangezogen werden soll. Im Übrigen würde eine weite Auslegung auch zu dem Problem führen, dass man staatliche Handlungsspielräume zu weit einschränken würde. Die Menschenwürde ist "unantastbar", jedweder Eingriff führt deshalb immer zur Verfassungswidrigkeit der entsprechenden staatlichen Maßnahme. Das ist der eigentliche Grund für die enge Auslegung, klingt aber weit weniger feierlich und wird deshalb oft nur am Rande erwähnt.

LS2024

LS2024

12.1.2025, 09:07:25

Ah super, das ist der logische Zwischenschritt in der Argumentation, der für mich gefehlt hat, danke @[SM2206](200598)


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen