+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Gastwirt G will einen „Zwergenweitwurf“ veranstalten. Hierfür erklärt sich der kleinwüchsige K bereit, von Gästen durch Gs Lokal geschleudert zu werden. Die Behörde untersagt die Veranstaltung. Sie verletze Ks Menschenwürde und sei daher nach § 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO sittenwidrig.

Einordnung des Falls

Einführungsfall Menschenwürde

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Menschenwürde ist in Art. 1 Abs. 1 GG garantiert. Sie ist oberster Wert der Verfassung.

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Ja!

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Menschenwürde als „tragendes Konstitutionsprinzip und obersten Verfassungswert“ (BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98). Dies zeigt sich zum einen an der systematischen Stellung als erster Satz des Verfassungstextes nach der Präambel. Zum anderen bilden Art. 1 GG und Art. 20 GG die unabänderlichen Normen der Verfassung. Dies legt die sog. Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG fest. Als insofern unabänderliche Prämisse stellen Art. 1 GG und Art. 20 GG damit die tragenden Grundlagen der Verfassung dar. Klausuren, die die Menschenwürde zum Gegenstand haben, sind eher selten, aber sie kommen vor – teilweise als Grundrechteklausur, teilweise eingebettet in verwaltungsrechtliche Probleme. In mündlichen Prüfungen sind Fragen zu Menschenwürde beliebt. Diesen obersten Verfassungswert solltest Du also nicht nur aus Interesse beherrschen, sondern damit auch in der Prüfung glänzen.

2. Die Menschenwürde schützt den Eigenwert des Menschen.

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Genau, so ist das!

Mit der Annahme der Menschenwürde als unabänderliche Prämisse der Verfassung wollte der historische Gesetzgeber den Eigenwert des Menschen vor den Wert des Staates stellen. Der Mensch soll niemals, anders als während des Nationalsozialismus, hinter Staatsbelangen zurücktreten müssen. Vielmehr sei „Der Staat [...] um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee). Zur genauen Konkretisierung des Schutzbereichs der Menschenwürde haben sich unterschiedliche Ansätze herausgebildet. Du wirst sie im weiteren Verlauf des Kurses kennenlernen.

3. K kann selbst entscheiden, ob seine Menschenwürde vorliegend zu achten ist.

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Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Menschenwürde unantastbar. Unantastbarkeit der Menschenwürde bedeutet, dass die Menschenwürde absolut gilt. Die absolute Geltung umfasst unter anderem, dass die Menschenwürde unverfügbar ist. Der Einzelne kann nicht auf ihre Geltung verzichten. Auch für K ist die Menschenwürde unverfügbar. Er kann damit also nie, auch nicht im vorliegenden Fall, entscheiden, ob seine Menschenwürde durch Dritte zu achten ist.

4. Könnte ein Eingriff in Ks Menschenwürde durch Gs Berufsfreiheit gerechtfertigt sein?

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Nein!

Die absolute Geltung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst auch, dass die Menschenwürde abwägungsfest ist. Eine Abwägung der Menschenwürde mit anderen Grundrechten ist damit unzulässig. Eine Abwägung von Ks Menschenwürde mit Gs Berufsfreiheit ist wegen der absoluten Geltung der Menschenwürde unzulässig. Somit kann ein Eingriff in Ks Menschenwürde auch niemals durch Gs Berufsfreiheit gerechtfertigt sein. Eine – umstrittene und seltene – Ausnahme bildet die Abwägung mit der Würde eines anderen Menschen.

5. Grundsätzlich ist G als Privatperson nur mittelbar an die Grundrechte gebunden. Ob dies auch für die Menschenwürde gilt, ist umstritten.

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Genau, so ist das!

Die Grundrechte binden grundsätzlich nur den Staat (Art.1 Abs. 3 GG). Nach der wohl überwiegenden Ansicht wird unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG auch hinsichtlich der Menschenwürde allenfalls eine mittelbare Drittwirkung zugelassen (zB Jarass, Schmidt am Busch). Nach ebenfalls vertretener Ansicht beinhalte die absolute Geltung der Menschenwürde dagegen auch, dass die Menschenwürde unmittelbare Geltung gegenüber privaten Dritten entfaltet (zB Herdegen, Hillgruber). Das BVerfG lässt den Streit offen und spricht regelmäßig von „Ausstrahlungswirkung“ des Art. 1 Abs. 1 GG und von „Abwägung“ im Privatrecht (BVerfGE 96, 375 (398 f)).

6. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung ist die Menschenwürde weit auszulegen.

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Nein, das trifft nicht zu!

Die Menschenwürde beansprucht in der Verfassung – gerade auch gegenüber den anderen Grundrechten – einen Sonderstatus, der in ihrer Unantastbarkeit zum Ausdruck kommt. Diesen Sonderstatus gilt es zu erhalten. Die Menschenwürde darf nicht zu „kleiner Münze“ verkommen, eine Aushöhlung muss somit vermieden werden. Aus diesem Grund ist die Menschenwürde restriktiv auszulegen. Wie die Menschenwürde definiert wird, lernst Du im weiteren Verlauf des Kurses.

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DAN

Daniel

25.3.2023, 14:10:25

Ob die Menschenwürde unmittelbare Drittwirkung entfaltet ist umstritten. In dem zugrundeliegenden Urteil stellt das VG auf die Schutzpflicht des Staates, und nicht auf eine unmittelbare Drittwirkung ab.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.4.2023, 17:44:14

Vielen Dank für Deinen Hinweis, Daniel! In der Tat brauchte sich das VG mit der unmittelbaren Drittwirkung nicht befassen. Denn der Werfer hatte sich hier gegen eine Unterlassungsverfügung der Behörde gewandt, weswegen es hier nur um die Frage ging, inwieweit die Behörde zugunsten des Geworfenen einschreiten musste/durfte (=Schutzpflicht). Wir haben hier aber noch präzisiert, dass die genaue Wirkung teilweise umstritten ist. In der Praxis wird es hierauf nicht ankommen, da der Private hier auch bei bloß mittelbarer Wirkung hinreichend geschützt wäre (zB Sittenwidrigkeit einer vertraglichen Verpflichtung, § 138 BGB). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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