Begriff der Weltanschauung: Standardbeispiel

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Richter E ist überzeugter Marxist. Gegenüber Kollegen meint E regelmäßig und ungefragt, Privateigentum müsse aus Gründen des Gemeinwohls vergesellschaftet werden. Art. 14 GG sei ein "kapitalistischer Irrweg". Gerichtspräsidentin G schickt E wegen dieser Äußerungen eine Abmahnung.

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Einordnung des Falls

Begriff der Weltanschauung: Standardbeispiel

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Marxismus fällt unter den Glaubensbegriff des Art. 4 Abs. 1 GG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Unter Glauben im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG versteht man die religiöse Überzeugung von der Stellung des Menschen in der Welt und seiner Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten. Der Marxismus erklärt die Welt aus einer säkularen Perspektive und verzichtet bewusst auf transzendente Elemente. Als politische Theorie oder Ideologie stützt er sich ausdrücklich nicht auf höhere Mächte zur Sinndeutung der Welt.
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2. Art. 4 Abs. 1 GG schützt auch die Weltanschauung. Unter einer Weltanschauung versteht man eine areligiöse Sinndeutung der Welt.

Ja, in der Tat!

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthalten ein einheitliches Grundrecht. Über den Wortlaut hinaus ist nicht nur das „weltanschauliche Bekenntnis“ geschützt, sondern umfassend die Weltanschauungsfreiheit (also sowohl die Bildung als auch das Bekenntnis einer Weltanschauung). Im Unterschied zum Glauben kennzeichnet die Weltanschauung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG eine areligiöse oder atheistische Sinndeutung der Welt. Eine Weltanschauung weißt daher in der Regel keine außerweltlichen oder überirdischen Bezüge auf. Ein klassisches Beispiel für eine Weltanschauung ist der Atheismus. In Anbetracht der Vielfalt und Mischformen von Weltanschauungen ist eine trennscharfe Abgrenzung zu Glaubensüberzeugungen mitunter schwierig.

3. Der Marxismus fällt unter den Begriff der Weltanschauung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG ist eröffnet.

Ja!

Unter einer Weltanschauung versteht man eine areligiöse oder atheistische Sinndeutung der Welt. Der Marxismus ist eine von Karl Marx begründete Theorie, die sozial-ethische Maßstäbe sowie ökonomische Erklärungsansätze aufstellt. Durch diese Grundsätze wird eine umfassende Sinndeutung der Welt vorgenommen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

QUIG

QuiGonTim

1.2.2022, 09:24:11

Wie unterscheiden sich denn Weltanschauungen und politische Ideologie? Den Marxismus hätte ich eher letzterer zugeordnet.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.2.2022, 10:44:51

Hallo QuiGonTim, da liegt in der Tat wenig dazwischen. Religion und Weltanschauung grenzen sich von anderen Überzeugungen vor allem dadurch ab, dass sie auf eine "Sinndeutung der Welt im Ganzen" gerichtet sind und nicht nur zu Teilaspekten der Welt und des Lebens (vgl. Germann, in: BeckOK Grundgesetz, 49.Ed 15.11.2021, Art. 4, RdNr. 14). Das ArbG Berlin hat dies bzgl. des Marxismus-Leninismus angenommen, da es sich hierbei um eine gesamtgesellschaftliche theorie handele (vgl. ArbG Berlin, NZA-RR 2010, 70). Eine andere Auffassung ist hier aber gut vertretbar. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

19.8.2022, 21:13:27

Stammt die Marxismus-Definition aus der Rechtsprechung oder habt ihr die erstellt? Sofern letzteres zutrifft: Hut ab!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.9.2022, 11:05:06

Danke Dir, die stammt tatsächlich aus der Feder der Redaktion :-)

QUIG

QuiGonTim

2.11.2022, 15:15:17

Iniwefern kann hinsichzlich der Weltanschauungsfreiheit noch von einem einheitlichen Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG gesprochen werden? In Art. 4 Abs. 2 geht es um die Religionsausübung. Kennzeichnend für eine Weltanschauung ist hingegen gerade ihr areligiöser Charakter.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.11.2022, 11:37:16

Hallo QuiGonTim, der Wortlaut der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist uneindeutig. Während Abs. 1 von Glaubensfreiheit und der Freiheit des religiösen wie weltanschaulichen Bekenntnisses spricht, schützt Abs. 2 dem Wortlaut nach die Religionsausübungsfreiheit. Damit liegt erstmal eine Hervorhebung der klassischen Bräuche und religiösen Riten vor. Dadurch ist aber weder jedes religiös motivierte Handeln geschützt, noch stellt die Formulierung eine Grenze für die anderen Freiheiten dar. Vielmehr stellt sich für alle drei Freiheiten gleichermaßen die Frage, inwieweit auch das Handeln (forum externum) geschützt ist. Die religiös-weltanschauliche Neutralität gebietet es religiös oder weltanschaulich motiviertes und gewissensgeleitetes Handeln im gleichen Maße zu schützen. Daher spricht das Bundesverfassungsgericht schon seit dem Urteil "Aktion Rumpelkammer" aus dem Jahr 1968 von einem "einheitlichen Grundrecht", das die religiöse und areligiöse Sinnstiftung ebenso wie Konsequenzen innerer sittlicher Verpflichtung umfasst. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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