Examensrelevante Rechtsprechung
Rechtsprechung Öffentliches Recht
Staatsorganisationsrecht
Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen
Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen
9. Mai 2023
21 Kommentare
4,7 ★ (95.649 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
In Thüringen wählt die CDU mithilfe der Stimmen der AfD (A) den FDP-Mann Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Bundeskanzlerin und CDU-Politikerin Angela Merkel (M) äußert sich daraufhin in einer Pressekonferenz negativ über diesen Vorgang. Ihre Äußerung wird auf den Internetseiten der Bundesregierung verbreitet.
Diesen Fall lösen 89,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Nach der thüringischen Landtagswahl 2020 lässt sich der FDP-Politiker Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen. Die damalige Bundeskanzlerin erklärte bei einer Pressekonferenz, dass diese Wahl unverzeihlich sei, rückgängig gemacht werden müsse und dass eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD nicht in Frage komme. Die AfD sieht sich durch die Äußerungen in ihren Rechten verletzt und leitet deshalb ein Organstreitverfahren ein. Das Verfahren behandelt wichtige Rechtsfragen des Staatsorganisationsrechts. In seinem Urteil von 2022 setzt das Bundesverfassungsgericht sich auseinander mit dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG. Zentrale Frage ist, unter welchen Umständen Äußerungen von Staatsorganen – wie der Bundeskanzlerin – in Bezug auf andere politische Parteien vereinbar sind, mit dem parteipolitischen Neutralitätsgebot und dem Sachlichkeitsgebot.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 21 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A hält die Äußerungen von M für verfassungswidrig und zieht vor das BVerfG. Ist hier das Organstreitverfahren (Art. 94 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) statthaft?
Ja, in der Tat!
2. Ist A als politische Partei im Organstreit parteifähig (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)?
Ja!
3. M ist mittlerweile nicht mehr Bundeskanzlerin. Ist deshalb ihre Parteifähigkeit im Organstreitverfahren ausgeschlossen?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Die Äußerung ist mittlerweile abgeschlossen und die Presseerklärung wurde von den Internetseiten von M und der Bundesregierung entfernt. Fehlt A deswegen das Rechtsschutzbedürfnis?
Nein, das trifft nicht zu!
5. Hat die A als politische Partei das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG)?
Ja!
6. Beinhaltet as Recht auf Chancengleichheit der Parteien als Kehrseite, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren. (Neutralitätsgebot)?
Genau, so ist das!
7. Gilt das Gebot parteipolitischer Neutralität von Staatsorganen nur in Wahlkampfzeiten?
Nein, das trifft nicht zu!
8. Ist M nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn sie sich in amtlicher Funktion als Bundeskanzlerin bzw. Mitglied der Bundesregierung geäußert hat?
Ja!
9. Ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen, ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat?
Genau, so ist das!
10. Gelten für das Amt des Bundeskanzlers die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise?
Ja, in der Tat!
11. Sprechen die äußeren Umstände für einen Amtsbezug der Äußerung?
Ja!
12. M gab ihre Äußerung ab, nachdem sie ankündigte, eine „Vorbemerkung“ machen zu wollen. Folgt daraus, dass der Amtsbezug ihrer Äußerung entfällt?
Nein, das ist nicht der Fall!
13. M meint, die Wahl habe mit einer „Grundüberzeugung“ ihrer Partei gebrochen, mit der AfD keine Mehrheiten zu bilden, und sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen. Hat M damit in As Recht auf Chancengleichheit eingegriffen?
Ja, in der Tat!
14. Unterliegt der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien einem absoluten Differenzierungsverbot, sodass ein Eingriff nie gerechtfertigt ist?
Nein!
15. Ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG) begründet, wenn A durch M in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt wurde?
Genau, so ist das!
16. M bezieht sich mit ihren Äußerungen auf einen Sachverhalt, für den sie oder die Bundesregierung keine Regelungszuständigkeit besitzt. Schließt das ein Handeln in amtlicher Funktion aus?
Nein, das trifft nicht zu!
17. Stellt der Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung dar, ein mit dem Grundsatz der Chancengleichheit gleichwertiges Verfassungsgut, das einen Eingriff rechtfertigen kann?
Ja!
18. Stellt auch die Erhaltung des Ansehens der und des Vertrauens in die Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft ein der Chancengleichheit der Parteien gleichwertiges Verfassungsgut dar?
Genau, so ist das!
19. Kann Ms Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich einen Eingriff in die Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) der A rechtfertigen?
Ja, in der Tat!
20. Bewegen sich Ms Aussagen bewegen im Rahmen des Sachlichkeitsgebots und können damit den Eingriff in As Recht auf Chancengleichheit rechtfertigen?
Nein!
21. Ist der Antrag der A-Partei begründet? Hat M durch die Äußerungen hat die A-Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt?
Genau, so ist das!
Fundstellen
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Philippe
10.9.2022, 10:48:02
Ich würde noch ergänzen wollen, dass die Möglichkeit einer Rechtfertigung von Äußerungen, die das Neutralitätsgebot nicht (!) wahren, bisher - wenn ich das richtig sehe - vom BVerfG nicht für möglich gehalten wurde. Im Rahmen der von Art. 21 GG geforderten formalen Gleichheit können nach bisheriger Rspr. Differenzierungen zwischen den Parteien nur aufgrund des Wahlergebnisses vorgenommen werden (Finanzierung und Sendezeiten in Abhängigkeit von der Verbreitung in der Bevölkerung). Dass es die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung rechtfertigen soll in den Prozess der demokratischen Willensbildung von unten nach oben einzugreifen, den das BVerfG gerade so vehement schützen will, halte ich für etwas absurd. Das Anliegen einer stabilen Regierung kann sich doch nicht gegen grundlegende demokratische Prinzipien durchsetzen, denn die Regierung geht aus Wahlen hervor, darf sie aber eben nicht beeinflussen.

Nora Mommsen
24.3.2023, 11:45:05
**//

Nora Mommsen
24.3.2023, 11:48:24
Hallo Phillippe, danke für deine Anmerkung. Die Rechtsprechung zur Abwägung zwischen
Chancengleichheit der Parteienund der Funktionsfähigkeit der Regierung ist sicherlich nicht zwingend, da stimme ich dir zu. Es sprechen einige gute, von dir ja auch angeführte Argumente durchaus dafür die Abwägung anders ausfallen zu lassen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

MiniZeynep
13.9.2022, 09:04:57
Examensfall im August 22 in NRW :)

Nora Mommsen
13.9.2022, 11:04:32
Hallo MiniZeynep, danke für das Feedback! Viel Erfolg weiterhin :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Simon
26.6.2025, 16:10:27
Lief heute in abgewandelter Form in NRW!
Flohm
7.8.2023, 08:03:04
Wäre die A hier (bzw. Allgemein im Organstreitverfahren) auch beteiligungsfähig, wenn sie nicht auf Bundesebene bzw. Landesebene tätig wäre, sondern nur kommunal ? Und könnte sie sich dann auf Art 21 GG berufen ?
QuiGonTim
13.9.2023, 08:51:49
Liebes Jurafuchs-Team, in der Falllösung sind nicht alle Normen korrekt verlinkt. Könntet ihr nochmal drüberschauen? :)

Major Tom(as)
16.12.2024, 16:15:57
Wie am Ende angemerkt, wurde diese Entscheidung nur knapp gefällt und ist auch allgemein umstritten. Die
Gefahrdieser fasst mE Richterin Wallrabenstein in ihrer abweichenden Meinung gut zusammen: "Indem der Senat diese bewusste Beschränkung auf die wirtschaftlichen Ressourcen aufgegeben und auch die Amtsautorität als Regierungsressource angesehen hat, hat er die Grundlage dafür geschaffen, dass aus der
Chancengleichheit der Parteiennicht nur ein Ressourcennutzungsverbot für die Regierung folgt, sondern ein Äußerungsverbot für Regierungsmitglieder geltend gemacht werden kann. Der demokratischen Willensbildung und ihrer Realisierung im parlamentarischen Regierungssystem ist damit nicht gedient." Vielleicht kann man das ja in dem Infokasten ergänzen, in dem die Info zur 5:3-Entscheidung steht :) Danke für die ausführliche Aufarbeitung!

Sebastian Schmitt
23.3.2025, 16:02:32
Hallo @[Major Tom(as)](258980), vielen Dank für den Hinweis. Natürlich ist diese Entscheidung politisch brisant und man könnte den von Dir genannten Zusatz noch ergänzen. Nun ist dieser Fall mit 21 (!) Fragen allerdings ohnehin schon sehr lang und komplex und wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es sich das BVerfG mit seiner Entscheidung denkbar knapp gemacht hat. ME sollte das an dieser Stelle zu Prüfungszwecken genügen. Es ist schon schwierig genug, die Rspr zu prüfungsrelevanten Fragen umfassend aufzubereiten und möglichst leicht verdaulich abzubilden (und dementsprechend inhaltlich zwingend in verkürzter Form). Mit Sondervoten wollen wir vor diesem Hintergrund sehr zurückhaltend umgehen und den von Dir genannten Vermerk deshalb vorerst nicht aufnehmen - Deinen Thread hier lassen wir aber gerne für alle sichtbar stehen! In einer Prüfungsaufgabe im "Ernstfall" gäbe es hier sicherlich mehr Angaben in der Sachverhaltsdarstellung, anhand derer man rechtlich argumentieren könnte. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Major Tom(as)
24.3.2025, 11:57:48
Sehr verständlich, danke für die lange Antwort :)