1. A hält die Äußerungen von M für verfassungswidrig und zieht vor das BVerfG. Ist hier das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) statthaft?
Ja, in der Tat!
Das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG) ist statthaft, wenn oberste Bundesorgane bzw. deren Teile oder andere, ihnen rechtlich gleichgestellte Beteiligte über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten aus der Verfassung streiten.
Hier streiten A und M darüber, ob die Äußerung der M verfassungsgemäß war. Dies betrifft die Frage der verfassungsrechtlichen Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern und das Recht der Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG). Das Organstreitverfahren ist somit statthaft.
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2. Ist A als politische Partei im Organstreit parteifähig (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)?
Ja!
Politische Parteien sind als „andere Beteiligte“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) parteifähig, wenn und soweit sie mit einem anderen Verfassungsorgan um Rechte streiten, die sich aus ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status (Art. 21 GG) ergeben; die Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen durch politische Parteien im Organstreitverfahren ist ausgeschlossen.
Hier macht A eine Verletzung ihres Rechts auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG) geltend, sodass sie parteifähig ist (RdNr. 52; stRspr).
3. M ist mittlerweile nicht mehr Bundeskanzlerin. Ist deshalb ihre Parteifähigkeit im Organstreitverfahren ausgeschlossen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Bundeskanzlerin ist parteifähig im Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG,§ 63 BVerfGG). Dabei lässt das BVerfG die genaue Einordnung („oberstes Bundesorgan“, „Organteil“ oder „anderer Beteiligter“) offen (RdNr. 54). Für die Beurteilung der Parteifähigkeit eines Beteiligten im Organstreit ist sein Status zu dem Zeitpunkt, zu dem der Verfassungsstreit anhängig gemacht worden ist, maßgeblich (RdNr. 55).
Somit ist Bundeskanzlerin M trotz Verlust ihres Amtes im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Art. 69 Abs. 2 GG) parteifähig.
Zudem sah A sich durch die Bundesregierung selbst in ihren Rechten verletzt, u.a. weil die Äußerung von M auf deren Website veröffentlicht wurde. Zweite und als „oberstes Bundesorgan“ ebenfalls parteifähige Antragsgegnerin war damit die Bundesregierung.
4. Die Äußerung ist mittlerweile abgeschlossen und die Presseerklärung wurde von den Internetseiten von M und der Bundesregierung entfernt. Fehlt A deswegen das Rechtsschutzbedürfnis?
Nein, das trifft nicht zu!
Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren ist gegeben, wenn und solange über die behauptete Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht. Es entfällt grundsätzlich nicht allein dadurch, dass die beanstandete Rechtsverletzung in der Vergangenheit stattgefunden hat und bereits abgeschlossen ist (RdNr. 63f.).
Das Rechtsschutzbedürfnis ist nicht dadurch entfallen, dass die streitgegenständliche Äußerung bereits abgeschlossen ist. Zumindest bestehe ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse in Form eines objektiven Klarstellungsinteresses, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich Mitglieder der Bundesregierung zukünftig in einer ähnlichen Weise äußern (RdNr. 65f.).
5. Hat die A als politische Partei das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG)?
Ja!
Gemäß Art. 21 Abs. 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Damit gewährleistet ist, dass die politische Willensbildung des Volkes offen verläuft, ist es unerlässlich, dass die Parteien gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Art. 21 Abs. 1 GG beinhaltet deshalb unmittelbar ein Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung muss auf der Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgen (RdNr. 72).
6. Beinhaltet as Recht auf Chancengleichheit der Parteien als Kehrseite, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren. (Neutralitätsgebot)?
Genau, so ist das!
BVerfG: „[D]as Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche zugunsten oder zulasten einer politischen Partei [...] auf den Wahlkampf einwirken“. Die verfassungsrechtlich garantierte Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) erfordert daher die parteipolitische Neutralität von Staatsorganen (sog. Neutralitätsgebot). Das bedeutet, sie dürfen sich nicht parteiergreifend für oder gegen eine bestimmte Partei aussprechen (RdNr. 73). Dahinter steht, dass Staatsorgane in Deutschland regelmäßig Mitglieder politischer Parteien sind und in ihrer Funktion als Staatsorgan ihrer Partei zulasten anderer Parteien keinen unberechtigten Vorteil im Wahlkampf verschaffen sollen. Denn Äußerungen von Staatsorganen sind angesichts der Autorität des Amtes geeignet, beim Wahlvolk die Wahrnehmung der adressierten Partei negativ zu verzerren.
7. Gilt das Gebot parteipolitischer Neutralität von Staatsorganen nur in Wahlkampfzeiten?
Nein, das trifft nicht zu!
Einseitige Parteinahmen während des Wahlkampfs beeinträchtigen die Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen und verstoßen gegen das Neutralitätsgebot (RdNr. 73). Das Gebot staatlicher Neutralität gilt aber auch außerhalb von Wahlkampfzeiten. Denn der Prozess der politischen Willensbildung des Volkes ist nicht auf Wahlkampf oder Wahlvorbereitungen beschränkt, sondern vollzieht sich fortlaufend. Art. 21 Abs. 1 GG schützt das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb „in seiner Gesamtheit“ (RdNr. 74).
8. Ist M nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn sie sich in amtlicher Funktion als Bundeskanzlerin bzw. Mitglied der Bundesregierung geäußert hat?
Ja!
Nur wenn ein Regierungsmitglied in amtlicher Funktion handelt, hat es den Grundsatz der Chancengleichheit und damit das Neutralitätsgebot zu beachten (Art. 20 Abs. 3 GG). Dies schließt nicht aus, dass Regierungsmitglieder außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teilnehmen, da ansonsten die Regierungsparteien ungerechtfertigt benachteiligt würden. Dabei muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten, die den politischen Wettbewerbern verschlossen sind, sowie eine erkennbare Bezugnahme auf das Regierungsamt unterbleibt (RdNr. 75ff.).
Es kommt hier damit entscheidend darauf an, ob M die Äußerungen in Wahrnehmung ihres Amtes als Bundeskanzlerin oder ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Parteipolitikerin getätigt hat.
9. Ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen, ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat?
Genau, so ist das!
Das BVerfG erkennt, dass eine strikte Trennung der Sphären des „Bundesministers“, des „Parteipolitikers“ und der „Privatperson“ nicht möglich ist (RdNr. 77). Für die Bestimmung der Inanspruchnahme amtlicher Autorität, arbeitet es daher mit formelle Kriterien: Für einen Amtsbezug sprechen z.B. Pressemitteilungen auf der Internetseite der Bundesregierung oder des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug, liege z.B. bei Parteiveranstaltungen oder „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews) vor, wobei letztere differenzierter Betrachtung bedürfen (RdNr. 80ff.).
Die Aufspaltung eines Regierungsmitglieds in Amtsträger, Parteipolitiker und Privatperson wird von vielen als praktisch unmöglich kritisiert, da sie den Grundsätzen des parlamentarischen Regierungssystems widerspreche, in dem das Handeln der von der Parlamentsmehrheit abhängigen Regierung stets parteipolitisch geprägt sei.
10. Gelten für das Amt des Bundeskanzlers die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise?
Ja, in der Tat!
Der Bundeskanzler hat wegen seiner besonderen Stellung innerhalb der Bundesregierung und der ihm zustehenden Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG) anders als die einzelnen Minister ein umfassendes Äußerungsrecht bzgl. aller Staatsleitungsaufgaben. BVerfG: Daraus ergeben sich aber keine anderen Anforderungen mit Blick auf das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot, als sie an Äußerungen der Bundesregierung selbst zu stellen sind (RdNr. 88ff.)
Die Ausführungen des BVerfG zur Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern folgen denen in früheren Entscheidungen wie in den Fällen Wanka und Seehofer. Neu ist aber die Übertragung dieser Maßstäbe auf die Bundeskanzlerin.
11. Sprechen die äußeren Umstände für einen Amtsbezug der Äußerung?
Ja!
Für einen Amtsbezug sprechen z.B. Pressemitteilungen auf der Internetseite der Bundesregierung oder des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug, liege z.B. bei Parteiveranstaltungen oder „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews).
Für den Amtsbezug sprechen die Umstände, dass die Äußerung von M auf Internetseiten der Bundesregierung – und nicht lediglich auf den Seiten der CDU – veröffentlicht wurde. Für den Amtsbezug spricht auch, dass M die Äußerung vor der Flagge der Bundesrepublik Deutschland tätigte – im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika, bei dem sie als Regierungschefin auftrat.
12. M gab ihre Äußerung ab, nachdem sie ankündigte, eine „Vorbemerkung“ machen zu wollen. Folgt daraus, dass der Amtsbezug ihrer Äußerung entfällt?
Nein, das ist nicht der Fall!
BVerfG: Aus dem bloßen Hinweis, eine „Vorbemerkung“ machen zu wollen, könne nicht geschlossen werden, dass diese außerhalb der Ausübung der Dienstgeschäfte erfolgen sollte. Insgesamt habe sich M nicht klar genug von ihrem Amt distanziert, dass ihre Äußerung als parteipolitisch qualifiziert werden könne. Es sei M „unbenommen gewesen mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“ (RdNr. 130).
Teile der Literatur kritisieren diesen vom BVerfG geforderten „formalen Disclaimer“. Es sei fraglich, ob dieser geeignet ist, den Amtsbezug der Äußerung zu kappen. Schon die Vorstellung der Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung und sauberen Trennbarkeit von Äußerungen in den Funktionen Regierungsamt, Parteipolitikerin und Privatperson sei zweifelhaft (s. Payandeh, Verfassungsblog 17.06.22).
13. M meint, die Wahl habe mit einer „Grundüberzeugung“ ihrer Partei gebrochen, mit der AfD keine Mehrheiten zu bilden, und sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen. Hat M damit in As Recht auf Chancengleichheit eingegriffen?
Ja, in der Tat!
BVerfG: „Ob die Äußerung eines Regierungsmitglieds eine Verletzung des Neutralitätsgebots darstellt, ist danach zu bestimmen, ob sie sich im Einzelfall aus Sicht eines verständigen Bürgers als offene oder versteckte Werbung für oder Einflussnahme gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien darstellt“ (RdNr. 145).
BVerfG: M hat mit ihren Aussagen deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der AfD an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet, und implizit ein negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit der AfD im demokratischen Gemeinwesen gefällt. Damit habe M zulasten der AfD in den politischen Wettbewerb eingegriffen und die durch das Neutralitätsgebot vorgegebenen inhaltlichen Grenzen ihrer Äußerungsbefugnisse überschritten (RdNr. 139 ff., 145ff.).
14. Unterliegt der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien einem absoluten Differenzierungsverbot, sodass ein Eingriff nie gerechtfertigt ist?
Nein!
Zwar unterliegt der Grundsatz der Chancengleichheit – wie auch die Wahlrechtsgleichheit – keinem absoluten Differenzierungsverbot, aufgrund seines formalen Charakters hat aber grundsätzlich jeder Eingriff in die chancengleiche Teilhabe der Parteien am politischen Wettbewerb zu unterbleiben, der nicht durch einen besonderen – „zwingenden “ – Grund gerechtfertigt ist. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. Zudem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (RdNr. 92).
15. Ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG) begründet, wenn A durch M in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt wurde?
Genau, so ist das!
In der Begründetheit ist zu prüfen, ob die Verfassung dem Antragsteller (oder dem Organ, dem er angehört) Rechte zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung überträgt. Ferner muss der Antragsgegner diese Rechte verletzt haben. Hier bietet sich eine Prüfung in drei Schritten an: (1) Rechtsposition des Antragstellers, (2) Eingriff durch Maßnahme oder Unterlassen des Antragsgegners, (3) keine Rechtfertigung des Eingriffs.
Der richtige Obersatz für Deine Begründetheitsprüfung könnte hier lauten: Der Antrag ist begründet, wenn die angegriffene Maßnahme oder Unterlassung verfassungsrechtliche Rechte des Antragstellers verletzt.
16. M bezieht sich mit ihren Äußerungen auf einen Sachverhalt, für den sie oder die Bundesregierung keine Regelungszuständigkeit besitzt. Schließt das ein Handeln in amtlicher Funktion aus?
Nein, das trifft nicht zu!
BVerfG: „Selbst ein Handeln jenseits der mit dem Regierungsamt verbundenen Kompetenzen ist ein Handeln in amtlicher Funktion, wenn dafür die Autorität des Regierungsamtes in Anspruch genommen wird. Ob eine Äußerung sich im Kompetenzbereich des Äußernden hält, ist für die Frage der Abgrenzung zwischen amtlichem und nichtamtlichem Handeln nicht von ausschlaggebender Bedeutung, sondern nur für seine Rechtmäßigkeit.“
Demnach ist es hier für die Bewertung des amtlichen Charakters der Äußerung ohne Belang, dass weder die Wahl der Ministerpräsidenten in den Ländern noch die Positionierung ihrer daran beteiligten Parteianhänger dem Kompetenzbereich der Bundeskanzlerin zuzuordnen sind (RdNr. 128).
Gerade hier zeigt sich die – aus Sicht eines Teils der Literatur problematische – Reichweite der Neutralitätsrechtsprechung des BVerfG, die eigentlich jegliche politische Äußerung der Bundeskanzlerin zu einer amtsbezogenen Äußerung macht, sofern nicht ausnahmsweise eine hinreichende Distanzierung den amtlichen Charakter der Äußerung entfallen lässt (s. Payandeh, Verfassungsblog 17.06.22).
17. Stellt der Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung dar, ein mit dem Grundsatz der Chancengleichheit gleichwertiges Verfassungsgut, das einen Eingriff rechtfertigen kann?
Ja!
Das Grundgesetz erstrebt mit den Regelungen in Art. 63, 67 und 68 GG die Bildung einer vom Willen der Parlamentsmehrheit getragenen, handlungsfähigen Regierung. Die Erhaltung der Handlungsfähigkeit der Regierung stellt ein Verfassungsgut dar, das dem Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit gleichwertig gegenübersteht. Sie sicherzustellen ist primär Aufgabe des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1, 64 Abs. 1, 65 S. 1 GG; sog. Kanzlerprinzip). Ihm kommt bei Bestimmung der hierfür erforderlichen Maßnahmen ein Gestaltungsspielraum zu (RdNr. 94ff.).
Das BVerfG ist der Ansicht, dass Ms Äußerungen zum Schutz der Stabilität und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht geboten gewesen seien. (RdNr. 155ff.).
Die Literatur kritisiert die fehlende richterliche Zurückhaltung des BVerfG. Das Gericht sollte der Kanzlerin den zugesprochenen Einschätzungsspielraum wirklich zugestehen (s. Michl, Verfassungsblog, 16.06.2022).
18. Stellt auch die Erhaltung des Ansehens der und des Vertrauens in die Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft ein der Chancengleichheit der Parteien gleichwertiges Verfassungsgut dar?
Genau, so ist das!
Die Sicherstellung der außenpolitischen Handlungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik und ihrer Teilhabe an der internationalen Zusammenarbeit ist dem Grundgesetz immanent und stellt ein dem Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) gleichwertiges Verfassungsgut dar (hergeleitet aus der Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2, Art. 23 bis Art. 26 und Art. 59 Abs. 2 GG). Die Beachtung und Umsetzung des Verfassungsgebots der Einbindung Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft obliege vorrangig der Bundesregierung, insbesondere dem Bundeskanzler (vgl. z.B. Art. 32 Abs. 1GG, §§ 1 Abs. 1 S. 1, 15 Abs. 1 GOBReg) (RdNr. 104ff.)
Auch hier ist das BVerfG der Ansicht, dass die Wahl das Ansehen der und das Vertrauen in die Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft nicht in einer Weise betroffen hat, dass dadurch ein Eingriff in die Chancengleichheit gerechtfertigt sei (RdNr. 163ff.).
19. Kann Ms Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich einen Eingriff in die Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) der A rechtfertigen?
Ja, in der Tat!
Der Bundesregierung obliegt die Aufgabe der Staatsleitung (Art. 65 GG). Integraler Bestandteil dieser Aufgabe ist die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit; eine verantwortliche Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung setzt voraus, dass sie über die von Staatsorganen zu treffenden Entscheidungen genügend wissen, um sie bewerten zu können. Damit die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit einen Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) rechtfertigen kann, muss sie ihrerseits jedoch rechtmäßig ausgeübt werden; dies setzt insbesondere die Beachtung der bestehenden Kompetenzordnung und des für sämtliches Staatshandeln geltenden Sachlichkeitsgebots voraus.
20. Bewegen sich Ms Aussagen bewegen im Rahmen des Sachlichkeitsgebots und können damit den Eingriff in As Recht auf Chancengleichheit rechtfertigen?
Nein!
Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verbietet, dass die Bundesregierung oder ihre Mitglieder die Möglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit nutzen, um Regierungsparteien zu unterstützen oder Oppositionsparteien zu bekämpfen.
Ms Äußerungen beinhalteten eine negative Qualifizierung der A, der jegliche Koalitions- oder Kooperationsfähigkeit im demokratischen Spektrum abgesprochen wird. Damit habe M in einseitiger – nicht zu rechtfertigender – Weise auf den politischen Wettbewerb eingewirkt (RdNr. 172).
Auch die strikte Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern bei Äußerungen wird kritisiert (z.B. Richterin Wallrabenstein in ihrem Sondervotum). So würden Äußerungen von Regierungsmitgliedern im Organstreitverfahren einer inhaltlichen Neutralitätskontrolle durch das BVerfG unterworfen. Regierungsmitgliedern stehe aus Gründen der Gewaltenteilung in diesem genuin politischen Bereich eine Einschätzungsprärogative zu.
21. Ist der Antrag der A-Partei begründet? Hat M durch die Äußerungen hat die A-Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt?
Genau, so ist das!
Ms Aussagen haben in nicht gerechtfertigter Weise in As Recht auf gleiche Teilhabe am politischen Wettbewerb eingegriffen und damit ihr Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt. In der Veröffentlichung von Ms Äußerungen über A auf den Seiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung liege zudem eine eigenständige Verletzung des Rechts der A auf Chancengleichheit. Denn M und die Bundesregierung hätten dadurch auf amtliche Ressourcen zurückgegriffen und diese in nicht gerechtfertigter Weise zum politischen Meinungskampf eingesetzt (RdNr. 174ff.).Wie bereits deutlich geworden ist, wird das Urteil zum Teil stark kritisiert. Das BVerfG traf die Entscheidung mit 5:3 Stimmen.