Öffentliches Recht

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Entscheidungen von 2019

Wahlrechtsausschluss von vollbetreuten und schuldunfähig untergebrachten Straftätern

Wahlrechtsausschluss von vollbetreuten und schuldunfähig untergebrachten Straftätern

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A hat einen Betreuer zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten. B ist in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Beide waren deshalb von der letzten Bundestagswahl ausgeschlossen (§ 13 Nr. 2 und 3 BWahlG a.F.). Sie erheben Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG.

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Einordnung des Falls

Wahlrechtsausschluss von vollbetreuten und schuldunfähig untergebrachten Straftätern

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A und B sind aufgrund ihres Wahlrechtsausschlusses im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde (Art. 41 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 3 BVerfGG) selbst beschwerdefähig (§ 48 Abs. 1 BVerfGG).

Genau, so ist das!

Die Beschwerdefähigkeit beschränkt sich nach dem Wortlaut des § 48 Abs. 1 BVerfGG auf "wahlberechtigte Personen". Das BVerfG sieht A und B trotzdem als beschwerdefähig an, da die Frage ihrer Wahlberechtigung gerade Gegenstand der Beschwerde ist. Ansonsten wären Fragen der Wahlberechtigung keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich (RdNr. 27).
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2. Beschwerdebefugt bei der Wahlprüfungsbeschwerde ist nur, wer darlegt, dass der gerügte Wahlfehler Einfluss auf die Mandatsverteilung im Parlament haben konnte (sog. Mandatsrelevanz).

Nein, das trifft nicht zu!

Ursprünglich war die Wahlprüfungsbeschwerde als objektives Beanstandungsverfahren ausgestaltet, bei dem die Kausalität des Wahlfehlers für eine dem Wählerwillen widersprechende Sitzverteilung (Mandatsrelevanz) dargelegt werden musste; die Wahl war in der Folge für ungültig zu erklären. Seit der Einführung des § 48 Abs. 3 BVerfGG besteht die Möglichkeit der Feststellung der Verletzung subjektiver Wahlrechte ohne Mandatsrelevanz. Dies entspricht dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Beschwerdebefugt ist, wer die Möglichkeit einer Verletzung seines Wahlrechts substantiiert dargelegt hat (RdNr. 29ff.). A und B sind wegen des Wahlausschlusses beschwerdebefugt.

3. Beeinträchtigungen der Allgemeinheit der Wahl sind gerechtfertigt, wenn für sie ein zwingender Grund besteht.

Ja!

BVerfG: Die Allgemeinheit der Wahl enthält kein absolutes Differenzierungsverbot: Differenzierungen hinsichtlich des aktiven oder passiven Wahlrechts bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets besonderer Gründe von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl (RdNr. 43). In Betracht kommt insbesondere die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Ein Wahlausschluss kann danach gerechtfertigt sein, wenn bei bestimmten Personengruppen davon auszugehen ist, dass die erforderliche Einsicht in das Wesen und die Bedeutung von Wahlen fehlt (RdNr. 44f., 88ff.).

4. § 13 Nr. 2 BWahlG a.F., nach dem Personen von der Wahl ausgeschlossen sind, für die gerichtlich ein Betreuer zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten bestellt ist, beeinträchtigt die Allgemeinheit der Wahl.

Genau, so ist das!

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) garantiert, dass jeder sein Wahlrecht in gleicher Weise ausüben kann, und untersagt den unberechtigten Ausschluss von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl, insbesondere aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen (RdNr. 42). Der in § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. enthaltene Wahlrechtsausschluss für Personen mit gerichtlich bestellter Betreuung zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB a.F.) stellt somit eine im Grunde verbotene Ungleichbehandlung dar (RdNr. 86).Seit 1.1.2023 ist § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. in § 1814 Abs. 1 BGB geregelt.

5. Die Beeinträchtigung der Allgemeinheit der Wahl durch § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. ist zum Schutz des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes gerechtfertigt.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Der Wahlausschluss von Personen, denen die Einsichtsfähigkeit für eine selbstbestimmte Wahlentscheidung fehlt, sei zwar grundsätzlich „geboten“ (RdNr. 90), die Anknüpfung an die Betreuung aber ungeeignet. Denn die Prüfung dieser Einsichtsfähigkeit ist nicht Gegenstand des Verfahrens zur Bestellung eines Betreuers (RdNr. 95). Zudem wird ein Betreuer dann nicht bestellt und damit das Wahlrecht aufrechterhalten, wenn der Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen auf andere Weise Rechnung getragen werden kann, z.B. durch familiäre Versorgung (§ 1896 Abs. 2 BGB). Solche Zufälle dürfen aber nicht über das „vornehmste Recht im demokratischen Staat“ entscheiden (RdNr. 101ff.).

6. § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. greift auch in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ein.

Ja!

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG untersagt jegliche Benachteiligung wegen einer Behinderung, also wegen Beeinträchtigungen, die den Betroffenen nicht nur vorübergehend an der vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (RdNr. 54). Die Vorschrift findet auch im Verfahren der Wahlprüfung Anwendung, da dieses nicht auf die Prüfung der Verletzung spezifischer Wahlrechtsnormen beschränkt ist (RdNr. 53). Der Wahlrechtsausschluss beruht nicht auf der Behinderung, sondern auf dem daraus resultierenden Unvermögen zur Entscheidung in eigenen Angelegenheiten. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG schützt aber gleichermaßen vor mittelbaren Beeinträchtigungen (RdNr. 55).

7. Der Eingriff in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG durch § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. ist zum Schutz des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes gerechtfertigt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch der Schutz vor Benachteiligungen wegen einer Behinderung ist nicht schrankenlos gewährleistet, ein Eingriff kann jedoch nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt sein (RdNr. 57). BVerfG: Ein zwingender Grund liege vor, wenn einer Person aufgrund ihrer Behinderung geistige oder körperliche Fähigkeiten fehlen, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung des Wahlrechts sind (RdNr. 58, 111). Dies ist bei der Anknüpfung des § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. an die Bestellung eines Betreuers insbesondere deshalb nicht der Fall, weil die Einsichtsfähigkeit nicht Gegenstand des Verfahrens zur Bestellung des Betreuers ist.

8. Auch § 13 Nr. 3 BWahlG a.F., wonach von der Wahl ausgeschlossen wird, wer sich nach gerichtlicher Anordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet, beeinträchtigt die Allgemeinheit der Wahl.

Ja, in der Tat!

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl garantiert, dass jeder sein Wahlrecht in gleicher Weise ausüben kann. Dieser Gewährleistungsgehalt wird eingeschränkt, wenn nach § 13 Nr. 3 a.F. BWahlG diejenigen Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, die sich aufgrund einer gerichtlichen Anordnung (§ 63 i.V.m. § 20 StGB) in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden (RdNr. 114).

9. Die Beeinträchtigung der Allgemeinheit der Wahl durch § 13 Nr. 3 BWahlG a.F. ist zum Schutz des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes gerechtfertigt.

Nein!

BVerfG: § 13 Nr. 3 BWahlG a.F. sei bereits nicht geeignet, Personen zu erfassen, die typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verfügen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 i.V.m. § 20 StGB erlaubt nicht den Rückschluss auf das regelmäßige Fehlen der erforderlichen wahlrechtlichen Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit (RdNr. 115ff.). Die Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB ist kein dauerhafter Zustand, sondern beschreibt die geistige Verfassung „bei Begehung der Tat“. § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG a.F. wurden mit Wirkung vom 01.07.2019 gestrichen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

I-m-possible

I-m-possible

4.5.2022, 21:44:30

Der Verweis auf 20StGB ist hier nicht ganz klar. Geht es explizit in dem Fall darum, dass der in der psychiatrischen Anstalt Untergebrachte Täter oder möglicherweise Täter einer Tat war oder werden könnte?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2022, 10:25:55

Hallo I-m-possible, die Unterbringung kann nach § 63 StGB angeordnet werden, wenn der Täter bei Begehung einer Straftat schuldunfähig nach § 20 StGB war und er deshalb hierfür nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Unterbringung erfolgt allerdings zukunftsgerichtet, d.h. wenn zu befürchten ist, dass er weitere Taten ausüben wird und der Täter deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

25.8.2022, 23:54:37

Hatte ich mich auch erst gefragt, aber du hast es gut erklärt. :-)


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