+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die AfD-Fraktion (A) des Deutschen Bundestages (B) versucht seit Jahren einen Vizepräsidenten des Bundestages zu stellen. Die Abgeordneten des Bundestages haben bisher alle von A vorgeschlagenen Kandidaten mehrheitlich abgelehnt. A ist die einzige Fraktion ohne einen Bundestagsvizepräsidenten.
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Einordnung des Falls
Kein Anspruch auf Posten eines Vizepräsidenten des Bundestags
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A sieht sich in ihren verfassungsrechtlich verbürgten Rechten verletzt und zieht vor das BVerfG. Ist die hierfür einschlägige Verfahrensart das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG)?
Ja, in der Tat!
Das Organstreitverfahren ist die einschlägige Verfahrensart, wenn zwei Verfassungsorgane oder Organteile über den Umfang ihrer verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten streiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG).
Hier beantragt A festzustellen, dass B durch die Ablehnung aller ihrer zur Wahl des Bundestagsvizepräsidenten vorgeschlagenen Abgeordneten ihre verfassungsrechtlich verbürgten Rechte verletzt hat. Konkret rügt A eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Organtreue.
Das Organstreitverfahren gehört zu den kontradiktorischen Verfahren vor dem BVerfG. Ein weiteres kontradiktorisches Verfahren ist der Bund-Länder-Streit.
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2. Die Zulässigkeit des Antrags setzt unter anderem die Antragsbefugnis der A voraus (§ 64 Abs. 1 BVerfGG).
Ja!
Die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren bestimmt sich nach § 64 Abs. 1 BVerfGG. Danach muss der Antragsteller geltend machen, dass eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners ihn in seinen grundgesetzlichen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet. Dabei ist die Möglichkeit eines Verstoßes ausreichend. Allerdings muss es sich um einen Verstoß gegen eine Norm des GG handeln. Ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung, der nicht zugleich eine Verfassungsnorm verletzt, ist nicht ausreichend.
Die Antragsbefugnis der A war hier streitig. B argumentierte, dass A ihre Antragsbefugnis nicht hinreichend dargelegt habe. Das BVerfG hat die Frage offengelassen, weil der Antrag offensichtlich unbegründet im Sinne des § 24 BVerfGG sei (RdNr. 24).
In der Klausur solltest Du zu dieser Frage Stellung beziehen und das Ergebnis der Antragsbefugnis nicht offen lassen. Entscheide Dich so, dass Deine Klausur „weitergeht“.
Weitere Zulässigkeitsprobleme stellten sich hier nicht.
3. Das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG) ist begründet, wenn A durch B in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt wurde.
Genau, so ist das!
In der Begründetheit ist zu prüfen, ob die Verfassung dem Antragsteller (oder dem Organ, dem er angehört) Rechte zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung überträgt (RdNr. 25). Ferner muss der Antragsgegner diese Rechte verletzt haben. Hier bietet sich oft eine Prüfung in drei Schritten an: (1) Rechtsposition des Antragstellers, (2) Eingriff durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners, (3) keine Rechtfertigung des Eingriffs.
Der richtige Obersatz für Deine Begründetheitsprüfung könnte hier lauten: Der Antrag ist begründet, wenn die angegriffene Maßnahme oder Unterlassung verfassungsrechtliche Rechte des Antragstellers verletzt. 4. Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG leitet sich ein Recht der A auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung ab.
Ja, in der Tat!
Die Rechtsstellung der Fraktionen des Deutschen Bundestages leitet sich wie die der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ab. Hierbei gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen. Demnach haben alle Fraktionen nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung. Dieses Recht umfasst alle Gegenstände der parlamentarischen Willensbildung und damit auch die Mitwirkung an der Besetzung des Präsidiums (RdNr. 28).
5. Die Reichweite des Mitwirkungsrechts der A an der Besetzung des Präsidiums wird durch Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG begrenzt.
Ja!
Nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wählt der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter. BVerfG: Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums stehe demnach unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten. Es könne nur verwirklicht werden, wenn die von der Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten die erforderliche Mehrheit erreichen. Das Grundgesetz sehe „ausdrücklich eine Wahl und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen" vor (RdNr. 29).
6. Die Wahl der Präsidentin des Bundestags und ihrer Stellvertreter nach Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG muss frei sein.
Genau, so ist das!
Wahlen zeichnen sich gerade durch die Wahlfreiheit aus. Die freie Wahl leitet sich hier aus dem freien Mandat des Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) ab. BVerfG: Wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten gäbe, könnten die Wahlen den mit ihnen einhergehenden „legitimatorische[n] Mehrwert“ nicht erreichen (RdNr. 31).
Hätte die A einen Anspruch auf die Wahl eines ihrer Kandidaten für den Posten des Bundestagsvizepräsidenten, würde dies mit der Wahlfreiheit (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, 20 Abs. 1 und 2 GG) im Kontext des Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG kollidieren.
7. Aus dem Grundsatz der Chancengleichheit ergibt sich aber, dass das Parlament die Gründe für die Ablehnung eines Fraktionsvorschlags darlegen muss.
Nein, das trifft nicht zu!
Der Grundsatz der Chancengleichheit kommt als Maßstab überall zur Geltung, wo Verfassung, Gesetz oder Geschäftsordnung den Fraktionen eigene Rechte einräumen. Die Fraktionen sind von Verfassungs wegen befugt, diese Rechte in formal gleicher Weise auszuüben. (Sächsischer VerfGH, Urteil vom 26. Januar 1996 -Vf. 15-I-95 -, S. 12). BVerfG: Aus diesem Grundsatz lasse sich aber keine Pflicht der Abgeordneten ableiten, die Gründe für die Ablehnung eines Fraktionsvorschlags darzulegen. Ein Begründungsrecht für die Ablehnung von Wahlvorschlägen wäre mit dem freien Mandat und der daraus folgenden Wahlfreiheit unvereinbar. Die Wahlfreiheit verbiete Maßnahmen, die die Abgeordneten verpflichten, unmittelbar oder mittelbar ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen (RdNr. 33).
Die streng formale Chancengleichheit der Fraktionen musst Du unterscheiden von der Chancengleichheit politischer Parteien. Sie haben einen anderen Bezugspunkt. Hier geht es um die formalen Chancengleichheit bei der Wahrnehmung parlamentarischer Rechte, nicht um den Wahlkampf.
8. Der Bundestag muss verfahrensmäßige Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass die Ablehnung eines Kandidaten der A nicht aus sachwidrigen Gründen erfolgt.
Nein!
Sachwidrige Erwägungen führen bei staatlichen Entscheidungen gegenüber dem Bürger zur Rechtswidrigkeit. Hier geht es aber um parlamentarisches Innenrecht, sodass sich diese Anforderungen nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Zudem führt das BVerfG an: Es seien keine geeigneten Vorkehrungen zum Ausschluss sachwidriger Erwägungen ersichtlich, die nicht zugleich in die Wahlfreiheit der Abgeordneten eingreifen würden (RdNr 34). „Mit einer freien Wahl im Sinne des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Könnte eine Fraktion – mittels der von der Antragstellerin begehrten ‚prozeduralen Vorkehrungen‘ oder gar durch ein Besetzungsrecht – einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert“ (RdNr. 35). Hiermit wendet sich das BVerfG gegen eine Argumentation des SächsVerfGH, der als verfahrensmäßige Vorkehrungen z.B. vorgeschlagen hat, dass das Parlament ein Verständigungsverfahren etablieren müsse, das sicherstellt, dass das Recht auf Chancengleichheit der Fraktionen nicht ohne zwingenden Grund durch das Wahlverhalten der Mehrheit beseitigt wird (Sächsischer VerfGH, Urteil vom 26. Januar 1996 - Vf. 15-I-95 -, S. 20).
9. Ein Recht der A auf die Stellung eines Bundestagsvizepräsidenten ergibt sich aber aus § 2 GO-BT.
Nein, das ist nicht der Fall!
§ 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT bestimmt: „Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“ soll das Präsidium des Bundestages mit mindestens einem Vizepräsidenten besetzt sein. Allerdings steht diese Besetzung unter den Vorbehalt einer Wahl durch die Abgeordneten (§ 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT). Der Anspruch der A auf Mitwirkung an der Besetzung des Präsidiums beschränkt sich demnach darauf, einen Kandidaten aufzustellen sowie auf eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahl. Der Wahlakt unterliege dabei keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle (RdNr. 31). Für einen nicht ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl sah das BVerfG keine Anhaltspunkte (RdNr. 40).
10. A ist in ihrem Recht auf effektive Opposition verletzt.
Nein, das trifft nicht zu!
Das Grundgesetz enthält einen allgemeinen Grundsatz effektiver Opposition, den das BVerfG in seiner Rechtsprechung konkretisiert hat (vgl. BVerfGE 142, 25, 55 ff.). Allerdings begründet die Verfassung keine spezifischen Oppositionsrechte. Die Ausgestaltung der Rechte der parlamentarischen Opposition vollzieht sich vielmehr über die verfassungsrechtlichen Rechte der parlamentarischen Minderheiten (z.B. Art. 44 Abs. 1 S. 1, Art. 45a Abs. 2 S. 2, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Der Schutz der Minderheit gehe aber nicht so weit, diese vor Ergebnissen freier Wahlen und Sachentscheidungen der Mehrheit zu bewahren (RdNr. 42 f.).
Aus dem Recht auf effektive Opposition kann A demnach kein Recht ableiten, dass der Bundestag die von ihr aufgestellten Kandidaten in das Präsidium wählt.
11. B hat gegen den Grundsatz der Organtreue verstoßen und die A dadurch in ihren Rechten verletzt.
Nein!
Nach dem Grundsatz der Organtreue sind die Vorschriften der Geschäftsordnung fair und loyal anzuwenden. (vgl. RdNr. 45)
Das BVerfG sah hier keine Hinweise auf eine gleichheitswidrige
Handhabung des Vorschlagsrechts der A oder auf eine unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge. Demnach habe B § 2 Abs. 1 und 2 GO-BT nicht verfassungswidrig ausgelegt.