Strafrecht

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Polizist als Garant gegenüber seinen Kollegen? - Jurafuchs

Polizist als Garant gegenüber seinen Kollegen? - Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: R erzählt Polizist P, wie er (R) bei einer bevorstehenden Wohnungsdurchsuchung eine Schusswaffe gebrauchen will.

Polizist P erfährt in seiner Freizeit, dass „Reichsbürger“ R sich gegen eine Wohnungsdurchsuchung mit Waffe wehren wird. P gibt diese Information nicht an seine Kollegen weiter. Bei dem Einsatz erschießt R den Polizisten A, obwohl das SEK mit einem Waffeneinsatz des R rechnete.

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Einordnung des Falls

Die Entscheidung des OLG Nürnberg beschäftigt sich mit der Frage, ob ein Polizist eine Beschützergarantenstellung seinen Polizei-Kollegen gegenüber einnimmt. Nach dem OLG hat ein Polizist unter gewissen Voraussetzungen sogar eine solche Garantenstellung, auch wenn er in seiner Freizeit von möglichen Gefahren (Straftat) für die Kollegen erfährt. So müsse die Tat in die Phase der Dienstausübung des Polizisten hineinreichen. Zudem muss aufgrund der Schwere der Tat das öffentliche Interesse das Interesse an dem Schutz der Privatsphäre überwiegen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Sind Polizisten Beschützergaranten, die Schutzpflichten für Individualrechtsgüter haben?

Ja, in der Tat!

Der Schutz von Individualrechtsgütern Dritter ist Berufspflicht eines Polizisten. Er muss bei seiner Dienstausübung Maßnahmen gegen vorhersehbare Rechtsgutsverletzungen treffen. Es handelt sich um eine Garantenstellung aus Gesetz (Fischer, 65.A. 2018, § 13 RdNr. 30).
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2. Setzt eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) voraus, dass P eine Garantenstellung innehatte?

Ja!

§ 13 StGB stellt teilweise die Verwirklichung eines Begehungsdelikts (hier: § 222 StGB) durch Unterlassen dem aktiven Tun gleich (sogenanntes unechtes Unterlassungsdelikt). Voraussetzung ist stets eine Garantenstellung. Beschützergaranten sind Personen, denen Obhutspflichten für ein bestimmtes Rechtsgut obliegen (z.B. Schutzpflichten unter Ehegatten). Überwachergaranten sind für eine bestimmte Gefahrenquelle verantwortlich, woraus ihnen Sicherungspflichten erwachsen (z.B. Verkehrssicherungspflichten) (Fischer, 65.A. 2018, § 13 RdNr. 14f.).

3. Wäre der Tod des A mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten, wenn P seine Kollegen vor der geplanten gewaltsamen Gegenwehr des R gewarnt hätte?

Nein, das ist nicht der Fall!

OLG Nürnberg: Die Informationsweitergabe durch P hätte nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem veränderten Geschehensablauf des Polizeieinsatzes und zum Überleben des A geführt. Der Einsatz sei aufgrund der vorhandenen Gefährdungsanalyse bereits auf einen Waffengebrauch des R ausgerichtet gewesen. Nur wenn P die geplante Verteidigungsstrategie des R gekannt hätte (hier: einen Hinterhalt im Eingangsbereich der Wohnung zu bereiten), hätte er den Tod des A durch Weitergabe dieser Informationen verhindern können. Derartige Detailkenntnisse habe P jedoch nicht gehabt (RdNr. 12, 38). P ist nicht strafbar nach §§ 222, 13 StGB.

4. War Ps Unterlassen nur dann kausal für den Tod des A, wenn die Weitergabe der Information diesen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte?

Ja, in der Tat!

Nach der conditio-sine-qua-non-Formel ist eine Handlung dann Ursache für den Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg entfiele (Fischer, 65.A. 2018, Vor § 13 RdNr. 21). Dieser Grundsatz muss im Bereich des Unterlassens abgeändert werden zu einer Quasi-Kausalität: Ein Unterlassen ist danach kausal für den Erfolg, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre (Fischer, 65.A. 2018, Vor § 13 RdNr. 39).

5. P hatte eine Garantenstellung gegenüber seinem Kollegen A. Umfasst diese es auch, dass P die außerdienstlich erlangte Information von R weitergibt?

Ja!

Bei außerdienstlicher Kenntniserlangung hat ein Polizist eine Garantenpflicht, wenn (1) die Tat in die Phase seiner Dienstausübung hineinreicht und (2) eine Abwägung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung mit dem Schutz der Privatsphäre des Polizisten angesichts der Schwere der Straftat ein Überwiegen des öffentlichen Interesses ergibt (Fischer, 65.A. 2018, § 13 RdNr. 31). OLG Nürnberg: P habe erfahren, dass R mit einem Polizeieinsatz rechnete und sich auch mit Waffengewalt gegen diesen wehren werde. Die dabei drohenden Straftaten seien von derart schwerem Gewicht, dass P verpflichtet gewesen sei, seine Dienststelle zu unterrichten (RdNr. 32). Achtung: Das Kriterium, wonach die Tat in die Phase der Dienstausübung hineinreichen muss, subsumiert das OLG nicht. In der Klausur wird von Dir die Prüfung dieses Kriteriums des Hineinreichens erwartet. Konsequenterweise kannst Du hieran bereits die Strafbarkeit des P scheitern lassen.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB)?

  1. Tatbestandsmäßigkeit
    1. Tod eines anderen Menschen
    2. Kausale Handlung
    3. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
    4. Objektive Zurechnung
      1. Objektive Voraussehbarkeit des Kausalverlaufs und Erfolgseintritts)
      2. Schutzzweckzusammenhang
      3. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
      4. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
      5. Subjektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung
  2. Rechtswidrigkeit
  3. Schuld
    1. Schuldfähigkeit
    2. Subjektive Fahrlässigkeit
      1. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
      2. Subjektive Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung
    3. Entschuldigungsgründe

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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jana-Kristin

Jana-Kristin

11.5.2022, 08:40:32

Ich hätte noch 138 I Nr. 5 StGB geprüft, der aber ebenfalls ausscheidet, da die Anzeige noch geeignet sein müsste, die Begehung der Straftat zu verhindern.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.5.2022, 14:44:18

Sehr guter Hinweis, Jana-Kristin. In der Tat käme hier § 138 Abs. 1 Nr. 5 StGB in Betracht (und wurde vom OLG Nürnberg auch geprüft). Da hier die Strafbarkeit aber aus den gleichen Gründen ausscheidet, haben wir die Prüfung hier auf § 222 StGB fokussiert. In einem vollständigen Gutachten ist § 138 Abs. 5 StGB aber zumindest kurz anzuprüfen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Simon

Simon

13.3.2023, 22:27:49

Was bedeutet hier, dass die Straftat in die Phase seiner Dienstausübung "hineinreichen" muss? Wäre P also nicht verpflichtet, seine Dienststelle zu informieren, solange er noch außer Dienst ist, und erst, wenn er wieder seine "Uniform anlegt" müsste er die entsprechende Information weitergegeben? Oder verstehe ich diese Voraussetzung falsch?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

14.3.2023, 12:23:31

Hallo Simon, danke für die Frage. Der BGH hat das nicht besonders konkret ausgeführt. Der BGH hat zuletzt eine Handlungspflicht bejaht, wenn der Beamte „außerdienstlich Kenntnis von Straftaten erlangt, die – wie Dauerdelikte oder ständig auf Wiederholung angelegte Handlungen – während seiner Dienstausübung fortwirken; dabei bedarf es der Abwägung im Einzelfall, ob das öffentliche Interesse privaten Belangen vorgeht." Es geht also nicht um den Zeitpunkt der Weiterleitung als solchen, sondern eher um die Wirkungen des begangenen Delikts. Das lässt sich natürlich schwer pauschalisieren, man kann aber festhalten, dass eine

Freiheitsberaubung

, ein Tötungs- oder schweres Körperverletzungsdelikt entsprechend andere Fortwirkung entfaltet als ein Handtaschendiebstahl. Im vorliegenden Fall in dem das Gericht nicht auf dieses Merkmal eingegangen ist, lässt sich festhalten, dass P schon im Vorfeld vom Einsatz der Waffe erfahren hat. Dieser sollte zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Die Annahme des Fortwirkens in die Dienstzeit hinein liegt also nahe. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Simon

Simon

15.3.2023, 00:26:19

Danke für deine Antwort! Jetzt ist klarer geworden, was mit "Fortwirken" gemeint ist.


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