Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung, u.a.
Beihilfe zum Mord durch KZ-Sekretärin (BGH, Urt. v. 20.08.2024, 5 StR 326/23)
Beihilfe zum Mord durch KZ-Sekretärin (BGH, Urt. v. 20.08.2024, 5 StR 326/23)
31. Mai 2025
10 Kommentare
4,6 ★ (28.784 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
S arbeitet von 1943 bis 1945 im KZ Stutthof als Stenotypistin. Unter anderem nimmt sie die dienstliche Korrespondenz des Lagerkommandanten entgegen und schreibt diese mit der Schreibmaschine. In dieser Zeit sterben 10.500 Häftlinge an den lebensfeindlichen Bedingungen im KZ und der Vergasung mit dem Giftgas Zyklon B.
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Einordnung des Falls
Beihilfe zum Mord durch KZ-Sekretärin (BGH, Urt. v. 20.08.2024, 5 StR 326/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Bei den Tötungen, die die SS-Leute im KZ Stutthof vornahmen, könnte es sich um Morde handeln (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 2 StGB).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Täter einer Straftat ist nach der Tatherrschaftslehre derjenige, der eine Tat beherrscht, das Geschehen also „in den Händen hält“.
Ja, in der Tat!
3. Im KZ Stutthof wurden während der Zeit, in der S dort arbeitete, mindestens 1.000 Menschen in Gaskammern getötet. Könnte bei diesen Taten das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllt sein (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 2 StGB)?
Ja!
4. Die Zustände im Lager waren geradezu lebensfeindlich. Mindestens 9.500 Menschen starben daran. Könnte es sich auch hierbei um grausame Tötungen im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 2 StGB handeln?
Genau, so ist das!
5. Töteten die Täter aus einer gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung?
Ja, in der Tat!
6. S könnte sich wegen Beihilfe zum Mord strafbar gemacht haben, indem sie zwischen 1943 und 1945 Tätigkeiten als Stenotypistin im KZ Stutthof verrichtete (§§ 211, 27 Abs. 1 StGB).
Ja!
7. S müsste zu den Tötungen Hilfe geleistet haben.
Genau, so ist das!
8. S hat lediglich (berufs-)typische Tätigkeiten einer Stenotypistin ausgeführt, indem sie unter anderem diktierte dienstliche Korrespondenz ihres Vorgesetzten mit der Schreibmaschine abgetippt hat. Fallen berufstypische Tätigkeit grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich von § 27 StGB heraus?
Nein, das trifft nicht zu!
9. Nach der in der Rspr. herrschenden Lehre vom deliktischen Sinnbezug kommt es i.R.v. § 27 StGB bei einer berufstypischen Tätigkeit darauf an, ob der Hilfeleistende auf die Legalität des Handels des Haupttäters vertrauen durfte.
Ja!
10. S wusste von den Zuständen im Lager und auch, dass die Lagerleitung diese bewusst schuf und aufrechterhielt. Sie übernahm aber „lediglich“ die Korrespondenz der Lagerleitung. Durfte sie auf die Legalität des Handels vertrauen?
Nein, das ist nicht der Fall!
11. S war während ihrer gesamten Dienstzeit eine zuverlässige und gehorsame Untergebene der Lagerleitung. Könnte das dafür sprechen, dass sie auch psychische Beihilfe zu den Morden geleistet hat?
Ja, in der Tat!
12. S wusste, wie die Zustände im Lager waren. Sie wusste auch, dass die Lagerleitung den Tod tausender Gefangener herbeiführte. Fehlte S Vorsatz bezüglich der Haupttaten?
Nein!
13. S kam es nicht gezielt darauf an, durch ihre Handlungen die Tötung der Häftlinge zu unterstützen. Scheidet damit der Gehilfenvorsatz aus?
Nein, das ist nicht der Fall!
14. Fehlt bei der Täterin bei der Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt sie immer schuldlos (Verbotsirrtum, § 17 StGB).
Nein, das trifft nicht zu!
15. Handelt die Täterin auf Befehl und droht ihr bei Verweigerung Lebensgefahr, kann das grundsätzlich einen Entschuldigungsgrund begründen (sog. entschuldigender Befehlsnotstand).
Ja!
16. S war bis April 1945 im KZ Stutthof beschäftigt. Anklage wurde allerdings erst 2021 erhoben. Ist die Beihilfe zum Mord zu diesem Zeitpunkt verjährt (§§ 78ff. StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
17. Während den Taten war S 18 bzw. 19 Jahre alt. Zum Zeitpunkt der Entscheidung durch den BGH war sie 99 Jahre. Kann für die Taten dennoch grundsätzlich Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen?
Ja!
18. S war Heranwachsende. Ihr persönlicher Entwicklungsstand zur Tatzeit konnte aber nicht mehr nachvollzogen werden. Kommt im Zweifel Jugendstrafrecht zur Anwendung?
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Hansbert306
25.2.2025, 10:58:07
Ich möchte mich an dieser Stelle vielmals für die Aufarbeitung des Urteils bedanken. Jurafuchs trägt damit auch dazu bei, dass die ungeheuerlichen Begründungen aus der Vergangenheit, in NS-Verfahren nicht zu ermitteln, einzustellen, freizusprechen oder milde zu bestrafen nicht weiter perpetuiert werden. Für diejenigen, die sich näher mit dem Thema beschäftigen möchten, empfehle ich das folgende, wenn auch nicht mehr ganz aktuelle Sammelwerk: Lüttig/Lehmann (Hrsg.), Die letzten NS-Verfahren: Genugtuung für Opfer und Angehörige - Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung, Nomos 2017. Nichtsdestotrotz möchte ich auch nicht verheimlichen, dass ich Bauchschmerzen bei der Beantwortung der Fragen hatte, da das monströse Verbrechen der Shoah aber auch des Porajmos derart kalt und sachlich heruntergebrochen wird bzw. werden muss. Das soll nicht vorwurfsvoll klingen, sondern ist wohl ein Widerspruch, den es als Jurist*in an dieser Stelle auszuhalten gilt.

Ruhe im Sturm
25.2.2025, 21:32:03
Heißt dies, dass die Abgrenzung der verschiedenen Ansichten beim Objektiven Tatbestand unter "
Hilfeleisten" vorzunehmen ist? Auch wenn hier sich das objektive Geschehen mit dem subjektiven Tatbestand vermischt?
Leo Lee
26.2.2025, 15:50:35
Hallo Ruhe im Sturm, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Du hast völlig Recht: Die Abgrenzung zw. der Täterschaft und der Teilnahme findest bei der Beihilfe unter dem Punkt Tatbeitrag statt, also beim "
Hilfeleisten". Wenn ich deinen Punkt mit dem subj. TB richtig verstanden habe: die subjektiven
Mordmerkmalesind bei der Abgrenzung insofern nicht relevant, als bei der Abgrenzung erstmal nur die Tatherrschaft geprüft wird Insofern brauchst du dir keine Sorgen über die Vermischung mit dem subj. TB zu machen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Ruhe im Sturm
26.2.2025, 16:10:00
Hallo @[Leo Lee](213375) danke für die Antwort. Allerdings meinte ich nicht die subjektiven
Mordmerkmale, sondern die hier gelagerte Besonderheit des Falles. Für mich ist die Trennung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand nicht klar. In der Lösung heißt es: "Zielt das Handeln des Haupttäters auf die Begehung einer Straftat ab und weiß der
Hilfeleistende das, macht er sich strafbar, wenn der Tatbeitrag einen objektiv deliktischen Sinnbezug hat." Ferner: "Hält der Gehilfe eine Straftat des Haupttäters nur für möglich (
Eventualvorsatz) und darf der Gehilfe wegen des Alltagscharakters auf die Legalität seines Handelns vertrauen, ist er nicht strafbar." Das heißt beim
Hilfeleistenmuss ich inzident den Vorsatz prüfen? Anders kann ich auf die entsprechenden Ansichten ja nicht Bezug nehmen. In der Lösung wird erst subjektiv der Vorsatz von S geprüft und in der selben Subsumtion ein objektiv! deliktischer Sinnbezug des Tatbeitrags bejaht.
Rechtsanwalt B. Trüger
8.4.2025, 12:21:07
Hi @[Ruhe im Sturm](193403) Lies dir am besten mal das Urteil ab Rn. 46 durch. Da ist das alles ganz gut erklärt wie ich finde. Der BGH schreibt unter anderem: Hat die geförderte Handlung nicht ausschließlich deliktische, sondern auch legale Bestandteile, wird dadurch eine strafbare Beihilfe ausgeschlossen, wenn sich der Beitrag des Gehilfen auf die legalen Bestandteile beschränkt. Es fehlt dann der deliktische Sinnbezug, weil der Beitrag des Gehilfen auch ohne das strafbare Handeln des Täters für diesen sinnvoll bleibt, der Gehilfe mithin zwar den Täter, nicht aber unmittelbar dessen strafbares Tun durch seinen Beitrag unterstützt. Aus subjektiven Gründen kommt eine Einschränkung der Strafbarkeit der Beihilfe in Betracht, wenn der
Hilfeleistende nicht weiß, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, und er es zwar für möglich hält, dass sein Handeln zur Begehung einer Straftat genutzt wird, er aber aufgrund des Alltagscharakters seines Tuns darauf vertrauen darf, dass dies nicht geschieht (Meine Ergänzung: z.B. Küchenutensiliengeschäft verkauft jemandem ein scharfes Küchenmesser). Anderes gilt allerdings wiederum, wenn das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des unterstützten Haupttäters derart hoch war, dass der Gehilfe sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ (Meine Ergänzung: Späterer Täter erklärt vor Kauf, dass er seinen Nachbar satt hat und die Streitigkeiten dann endlich beenden kann). Das heißt: Im Rahmen des Vorsatzes musst du gucken, ob in solchen Fällen die Hilfeleistung auch den (objektiv) deliktischen Sinnbezug vorweist. Der Gehilfe müsste nämlich Vorsatz haben mit seinem Handeln das strafbare Handeln des Täters (deliktischer Sinnbezug) zu fördern

DeliktusMaximus
25.2.2025, 23:08:52
Nach 1945 hat man in der BRD viele der bedeutenden Naziverbrecher wieder in die Justiz, den Polizeidienst und/oder in die CDU und FDP "integriert" und strafrechtlich völlig unbehelligt gelassen, verurteilt jedoch die "kleine" Stenotypistin im Jahr 2025 zur Beihilfe am tausendfachen Mord.
Susi<3
26.2.2025, 19:47:05
Finde ich auch merkwürdig. Hat wahrscheinlich nur rechtspolitische Gründe...
yolojura
17.3.2025, 17:57:46
Das eine hat mit dem anderen allerdings nur wenig zu tun. Die offensichtlichen Defizite der Aufarbeitung der NS-Zeit in der Vergangenheit rechtfertigen keine Defizite der Aufarbeitung in der Gegenwart.

Amelie
1.3.2025, 15:48:46
Hallo :) könnte man hier die Angabe, dass sie “positive Kenntnis” von den 10.500 Morden hatte, mit in den Sachverhalt aufnehmen? Klar ist es unwahrscheinlich, dass jemand das nicht mitbekommen hätte (trotzdem wurde das zu Unrecht von vielen als Ausrede benutzt). Diese Angabe fehlte mir aber zur Beantwortung der Fragen. Oder gab es einen Grund die Details auszulassen? Danke!

Linne_Karlotta_
7.3.2025, 11:50:01
Hallo @[Amelie](127664), danke für Deine Anmerkung. Das Landgericht Itzehoe hat in seinem Urteil festgestellt, dass S aus ihrem Büro auf das Lager blicken konnte. Sie konnte sich auch frei in dem für Zivilangestellte zugänglichen Teil des Lagers bewegen. Das Landgericht hat es für ausgeschlossen gehalten, dass S in ihrer zweijährigen (!) Tätigkeit nicht den katastrophalen körperlichen Zustand der Gefangenen, die mangelhaften hygienischen Zustände und schließlich den täglich präsenten Geruch verbrannten Menschenfleischs wahrgenommen hat (weitere Ausführungen zur Kenntnis der S finden sich im Urteil des BGH in den RdNr. 19ff). Aus diesen Umständen haben LG und BGH S' positive Kenntnis der lebensfeindlichen Zustände im Lager abgeleitet. Das haben wir hier versucht bereits in der Illustration darzustellen. Damit es aber deutlicher heraus kommt, haben wir die Antwortmöglichkeit auch noch einmal entsprechend angepasst. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team