Öffentliches Recht

Europarecht

Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV

Verpflichtung privater Personen zur Wahrung der Grundfreiheiten („Angonese“)

Verpflichtung privater Personen zur Wahrung der Grundfreiheiten („Angonese“)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der italienische Staatsangehörige G, der deutsch und italienisch als Muttersprachen spricht und der in Österreich studiert hat, bewirbt sich bei der privaten Bank B in Bozen. Die Ausschreibung verlangt Zweisprachigkeit (deutsch/italienisch), nur nachweisbar durch ein Diplom aus Bozen. G erbringt den Nachweis nicht. Seine Bewerbung wird abgelehnt.

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Einordnung des Falls

Verpflichtung privater Personen zur Wahrung der Grundfreiheiten („Angonese“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Art. 45 AEUV verpflichtet in erster Linie die Mitgliedstaaten.

Ja!

Die Grundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen verpflichten in erster Linie die Mitgliedstaaten gemäß Art. 52 EUV und ihre Institutionen und Körperschaften. Bei den Grundfreiheiten handelt es sich um unmittelbar anwendbares Primärrecht, sodass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Grundfreiheiten zu gewährleisten. Der Ausgangsfall ist mit Blick auf den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten insofern untypisch, als ein „klassischer“ grenzüberschreitender Sachverhalt hier fehlte. Denn G hatte zwar in Österreich studiert, bewarb sich aber als Italiener in Italien auf die Stelle bei B. Die im Ausgangsverfahren beklagte B sah das Unionsrecht auch als nicht anwendbar. Das vorlegende italienische Gericht war indes der Auffassung, dass das Erfordernis des nur in Bozen erwerblichen Sprachnachweises ausländische Bewerber und Bewerber, die wie G im Ausland studiert haben, unionsrechtswidrig benachteiligen könnte. Der EuGH nahm die Vorlagefrage an, weil ein Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens und der erbetenen Auslegung des Unionsrechts nicht offensichtlich ausgeschlossen war (RdNr. 15ff.).
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2. Das in Art. 45 Abs. 2 AEUV festgeschriebene Diskriminierungsgebot richtet sich vom Wortlaut her nicht nur an die Mitgliedstaaten. Die private Bank B kommen daher grundsätzlich auch als Adressaten in Betracht.

Genau, so ist das!

Das Diskriminierungsverbot in Art. 45 Abs. 2 AEUV ist insoweit allgemein formuliert und richtet sich nicht speziell an die Mitgliedstaaten. Der Wortlaut der Norm lässt also offen, ob aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch eine Verpflichtung für Private resultieren kann.

3. Das in Art. 45 Abs. 2 AEUV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung gilt nach der Rechtsprechung des EuGH daher auch für private Arbeitgeber.

Ja, in der Tat!

Der EuGH bezieht das Diskriminierungsverbot vor dem Hintergrund des Wortlaut von Art. 45 AEUV, der Parallele zu Art. 18 AEUV und 157 AEUV sowie dem Aspekt der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts auch auf private Arbeitgeber an. In dieser Entscheidung weitet der EuGH seine bisherige Rechtsprechung aus und erstreckt die Verpflichtung der Grundfreiheiten über private sog. „intermediärer Gewalten“ (Rs. Walrave) hinaus allgemein auf private Personen. In der Literatur wird die Entscheidung teilweise kritisiert, da in der Verpflichtung von Privaten eine zu starke Beeinträchtigung der Privatautonomie gesehen wird. Schränken Private wie hier eine Grundfreiheit ein, kann die Beschränkung – analog zu den Interessen des Allgemeinwohls – aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein. So sind etwa Sprachnachweise für sich genommen sachliche Erwägungen, die ein Beschränkung rechtfertigen können. Im vorliegenden Fall sah der EuGH es jedoch als unverhältnismäßig an, dass der Sprachnachweis allein durch ein Diplom aus Bozen, nicht aber durch eine gleichwertige Qualifikation aus einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden konnte.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

INDUB

InDubioProsecco

16.5.2023, 15:31:39

Gilt dies unter dem Vorbehalt des Merkmals „intermediäre Gewalt“ oder grundsätzlich?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

26.6.2023, 19:00:54

Hallo InDubioProsecco, danke für Deine Frage. In dieser Entscheidung (Rechtssache Angonese) geht der EuGH über die Verpflichtung „intermediärer Gewalten“ (Rechtssache Walrave) hinaus und erkennt eine grundsätzliche Verpflichtung privater Personen aus den Grundfreiheiten an – hier speziell aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit, im Zusammenhang von Einstellungsvoraussetzungen privater Arbeitgeber. Die Beschränkung der Grundfreiheit durch Private kann aber – analog zu den Interessen des Allgemeinwohls – aus sachlichen Gründen gerechtfertigt werden (was hier nicht der Fall war). Die Rechtsprechung ist wegen ihrer weitreichenden Eingriffe in die Privatautonomie umstritten. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

DAV

David.

21.6.2023, 19:09:49

Inwiefern lag hier denn ein grenzüberschreitender Bezug vor?

DAV

David.

21.6.2023, 19:24:14

Habe mich gerade schon mal selbst erkundet, der Fall betrifft das Angonese-Urteil. Roman Angonese konnte den Sprachnachweis aufgrund seines Studiums in Wien auf andere Weise erbringen. Damit müsste dann hier also ein Rückkehrer-Fall vorliegen, bei dem aufgrund der effektiven Wirksamkeit des Unionsrechts der Anwendungsbereich eröffnet ist.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

26.6.2023, 19:29:15

Hi David., danke für Deine Frage und Deine eigenen Nachforschungen. In der tat ist der Fall Angonese mit Blick auf den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten insofern untypisch, als ein „klassischer“ grenzüberschreitender Sachverhalt hier fehlte. Denn Angonese – im Fall G – hatte zwar in Österreich studiert, bewarb sich aber als Italiener in Italien auf die Stelle bei der privaten Bank. Die im Ausgangsverfahren beklagte Bank sah das Unionsrecht auch als nicht anwendbar. Das vorlegende italienische Gericht war indes der Auffassung, dass das Erfordernis des nur in Bozen erwerblichen Sprachnachweises ausländische Bewerber und Bewerber, die wie Angonese im Ausland studiert haben, unionsrechtswidrig benachteiligen könnte. Der EuGH nahm die Vorlagefrage an, weil ein Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens und der erbetenen Auslegung des Unionsrechts nicht offensichtlich ausgeschlossen war. In der Tat könnte man den Fall als Rückkehrer-Fall qualifizieren, bei dem teilweise aus Erwägungen des effet utile ein grenzüberschreitenden Sachverhalt unterstellt wird; der EuGH geht hier bekanntlich nicht immer trennscharf vor. Wir haben die Aufgabe um einen entsprechenden Vertiefungshinweis ergänzt. Ich hoffe, das hilft! Danke und beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team


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