Faktischer Eingriff in Versammlungsfreiheit durch Tiefflug eines Tornados
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Wegen mehrtägiger gewalttätiger Großdemonstrationen machen Kampfflugzeuge der Bundeswehr im Auftrag der Polizeibehörde (Amtshilfe) Fotos der Umgebung zur frühzeitigen Gefahrerkennung. Dafür fliegt ein Jet in nur 114 Metern Höhe über ein Unterkunftscamp, in dem sich Demonstrantin D aufhält.
Einordnung des Falls
Faktischer Eingriff in Versammlungsfreiheit durch Tiefflug eines Tornados
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ermächtigungsgrundlage für die Anfertigung der Fotos und den dafür erforderlichen Überflug ist § 19a i.V.m. § 12a Abs. 1 VersG, Art. 125a GG.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Nein, das trifft nicht zu!
2. Die Demonstrationen starten am 6. Juni. Das Flugzeug überfliegt das Camp aber schon einen Tag früher, am 5. Juni. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist zu diesem Zeitpunkt gleichwohl bereits eröffnet.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Ja!
3. Unterkunftscamps, von denen aus die Demonstranten zu ihren Demonstrationen aufbrechen, sind selbst eine Versammlung.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Der Überflug des Kampfflugzeugs in nur 114 Metern Höhe ist als Eingriff in die Versammlungsfreiheit der Personen, die sich im Camp befinden, zu werten.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Ja, in der Tat!
5. D begehrt die gerichtliche Feststellung, dass sie der Überflug in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt hat. Die Feststellungsklage ist statthaft.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Ja!
6. Die Camps fallen unter dem Gesichtspunkt der Vorwirkungen der Versammlungsfreiheit in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich des Grundrechts ist eröffnet.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Genau, so ist das!
7. Der Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG hätte auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein müssen.
Diese Rechtsfrage lösen [...Wird geladen] der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.
Ja, in der Tat!
Jurafuchs kostenlos testen

Isabell
6.9.2020, 12:36:47
Habt ihr das Aktenzeichen des Endurteils? Ich wüsste gerne wie das am Ende ausgegangen ist.

Hamburger Michel
6.9.2020, 17:21:29
Hallo Isa Bell, leider habe ich in der Rechtsprechungsdatenbank von MV keine aktuelle Entscheidung des OVG MV dazu gefunden. Die ursprünglichen Aktenzeichen sind: - VG Schwerin - 29.09.2011 - AZ: VG 1 A 1180/07 - OVG Greifswald - 15.07.2015 - AZ: OVG 3 L 9/12 LG

Isabell
1.10.2020, 14:38:25
Danke dir trotzdem!

Hamburger Michel
1.10.2020, 15:20:28
Gerne! 😊

Eichhörnchen I
22.11.2021, 15:26:50
Urteil ist nun da: - OVG Greifswald - 08.09.2021 - AZ: 1 L 9/12, 1 L 13/12 Urteil: Überflug war rechtswidrig. Genauen Urteilsgründe liegen aber noch nicht vor. LG
Juranus
4.12.2020, 16:21:00
Hallo, ist § 43 I VWGO hier wirklich die statthafte Klageart? Es geht doch hier nicht um eine rechtliche Beziehung oder einen VA, sondern um einen vollzogenen Realakt, dessen Rechtswidrigkeit festzustellen ist. Daher ist eher die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 I 4 VWGO) in analoger Anwendung statthaft.
Tr(u)mpeltier junior
4.12.2020, 17:32:23
Die Statthaftigkeit bei §43 vwgo verwirrt mich auch regelmäßig, ich kann die Fragezeichen in deinem Kopf gut nachvollziehen. Dennoch würde ich dir hier widersprechen. Die FFK ist grundsätzlich statthaft, soweit ein VA erging oder beantragt wurde und im laufenden Gerichtsverfahren erledigt. Sofern schon vor der klageerhebung Erledigung eintritt, kann man die FFK analog anwenden (so jedenfalls nach mE immer noch die hM, auch wenn das BVerwG Anfang der 2000er angedeutet hat, es könnte hierfür an der Regelungslücke fehlen). Im Fall von Realakten ist die FFK indes nie anzuwenden, weder direkt noch analog. Hier ist immer 43 vwgo heranzuziehen.
Tr(u)mpeltier junior
4.12.2020, 17:37:59
Um das Rechtsverhältnis für mich fassbarer zu machen, greife ich gedanklich als Stütze immer auf 823 BGB zurück. Auch hier wird ja durch ein deliktisches Handeln ein Rechtsverhältnis zwischen schädiger und geschädigtem begründet. So letztlich auch im öffentlichen Recht. Die Frage, ob das Rechtsverhältnis besteht (Begründetheit) lässt sich damit auch leicht beantworten. Nur dann, wenn das Verhalten rechtswidrig war. War es rechtmäßig, so begründet dies keine Beziehung zwischen Staat und Bürger, ebenso wie zB eine rechtmäßige Verteidigungshandlung des "schädigers" nicht zu einem deliktischen Anspruch des Geschädigten führt. Ist nur eine mäßige Krücke, aber vielleicht hilft es ja ein wenig :)
Juranus
4.12.2020, 20:07:38
Hi, vielen Dank für deine Ausführungen zu dem Thema, das war sehr hilfreich. Ich habe mir das Thema auch nochmal angeschaut und du hast vollkommen recht, dass die FFK nicht auf Realakte anwendbar ist und § 43 hier zu Anwendung kommt.
Dogu
25.6.2023, 12:59:36
@[Tr(u)mpeltier junior ](48970) Super Gedächtnisstütze! Ich habe es mir jetzt auch so gemerkt, das gesetzliche Schuldverhältnisse (und damit rechtliche Sonderverbindungen) ja auch durch Realakte entstehen.