+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die autoimmunkranke Anwältin A klagt und vertritt sich selbst. Gegen sie ergeht ein Versäumnisurteil. A fehlt im Einspruchstermin (Februar 2021) „wegen Migräne und erhöhten COVID-19-Infektionsrisikos“. Das Landgericht verwirft deshalb den Einspruch.
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Einordnung des Falls
Säumnis der sich selbst vertretenden Rechtsanwältin in Corona-Zeiten
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Gegen A ist ein zweites Versäumnisurteil ergangen (§§ 330, 345 ZPO).
Genau, so ist das!
Ein Versäumnisurteil ist ein Urteil, das (1) gegen die säumige Partei (2) aufgrund ihrer Säumnis ergeht (vgl. BGH FamRZ 1988, 945). Ein zweites Versäumnisurteil (§ 345 ZPO) ist ein Versäumnisurteil, das gegen den Einspruchsführer (§ 338 ZPO) im Einspruchstermin (§ 341a ZPO) ergeht.
A war Einspruchsführerin gegen das erste Versäumnisurteil (§ 338 ZPO). Aufgrund ihres Ausbleibens im Einspruchstermin wurde ihr Einspruch verworfen (§§ 330, 345 ZPO).
Ein Urteil, das gegen die nicht säumige Partei oder nicht aufgrund der Säumnis ergeht (sog. unechtes Versäumnisurteil) ist ein „normales“ kontradiktorisches Endurteil (§ 300 Abs. 1 ZPO).
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2. Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des zweiten Versäumnisurteils gegen A entsprechen jenen des ersten Versäumnisurteils gegen A (§§ 330, 345 ZPO).
Nein, das trifft nicht zu!
Ein erstes Versäumnisurteil gegen den Kläger (§ 330 ZPO) setzt voraus: (1) Säumnis des Klägers; (2) Antrag des Beklagten (§ 330 ZPO); (3) Kein Ausschluss (§§ 335, 337 ZPO); (4) hM: Zulässigkeit der Klage. Eine Schlüssigkeitsprüfung findet dagegen nur bei einem ersten Versäumnisurteil gegen den Beklagten statt (§ 331 ZPO). Ein zweites Versäumnisurteil setzt jeweils zusätzlich die Zulässigkeit des Einspruchs voraus (§ 341 Abs. 1 ZPO).
Ist der Einspruch unzulässig, wird er durch kontradiktorisches Endurteil (§ 300 Abs. 1 ZPO) als unzulässig verworfen (§ 341 Abs. 1 S. 2 ZPO).
3. Gegen das zweite Versäumnisurteil stehen der A nun keine weiteren Rechtsbehelfe mehr zur Verfügung (§ 345 ZPO).
Nein!
Gegen ein zweites Versäumnisurteil findet kein weiterer Einspruch statt (§ 345 ZPO). Jedoch sind Berufung, bzw. Revision statthaft, soweit diese schlüssig darlegen, dass kein Fall der schuldhaften Säumnis vorgelegen habe (§§ 345, 514 Abs. 2, 565 ZPO).
A kann gegen die Annahme ihrer schuldhaften Säumnis im Einspruchstermin ein Rechtsmittel einlegen.
Ob das Rechtsmittel der Berufung oder Revision statthaft ist, hängt davon ab, ob das Landgericht als Ausgangs- oder Berufungsinstanz entschieden hat. Beide Rechtsmittel sind nur bei unverschuldeter Säumnis zulässig (vgl. § 514 Abs. 2 ZPO). Auch weil § 345 ZPO eine Prozessverschleppung verhindern soll, ist § 514 Abs. 2 ZPO als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (BGHZ 208, 75 RdNr. 16).
4. Im Zeitpunkt des Einspruchstermins stand die Rechtspflege pandemiebedingt still (§ 245 ZPO). Schon deshalb war A nicht säumig.
Nein, das ist nicht der Fall!
Kommt infolge eines Krieges, einer Seuche oder eines ähnlichen Ereignisses die Rechtspflege vollständig zum Erliegen, so ist für die Dauer dieses Zustandes das Verfahren unterbrochen (§ 245 ZPO; vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 34.A. 2022, § 245 RdNr. 1). Die Unterbrechung tritt von Gesetzes wegen ohne Antrag oder Anordnung ein.
BGH: Die COVID-19-Pandemie habe keine Unterbrechung im Sinne des § 245 ZPO ausgelöst (RdNr. 14 m.w.N.).
5. A war im Einspruchstermin säumig (§§ 330, 345 ZPO).
Ja, in der Tat!
Eine Partei ist säumig (§ 330 ZPO), wenn sie in einem notwendigen Termin zur mündlichen Verhandlung (§§ 216, 332 ZPO) (1) nicht persönlich erscheint, (2) im Anwaltsprozess nicht anwaltlich vertreten ist oder (3) nicht zur Sache verhandelt (§ 333 ZPO) (RdNr. 7).
Der Einspruchstermin (§ 341a ZPO) ist ein notwendiger Termin zur mündlichen Verhandlung. Vor dem Landgericht bestand Anwaltszwang (§ 78 ZPO). A, die sich selbst vertrat (§ 78 Abs. 4 ZPO), war im Termin nicht anwesend und hat sich auch nicht vertreten lassen.
6. Das zweite Versäumnisurteil durfte nicht ergehen, wenn A ihre Säumnis nicht verschuldet hat (§ 337 S. 1 Hs. 2 ZPO). Anzulegen ist der für Rechtsanwälte geltende Verschuldensmaßstab.
Ja!
Der Erlass eines ersten, ebenso wie eines zweiten Versäumnisurteils ist ausgeschlossen, wenn die säumige Partei ihre Säumnis nicht verschuldet, mithin die Sorgfalt einer ordentlichen Prozesspartei gewahrt hat (§§ 337 S. 1 Hs. 2, 345 ZPO, § 276 Abs. 2 BGB). Die Sorgfalt eines sich selbst vertretenden Rechtsanwalts (§ 78 Abs. 4 ZPO) muss den für Rechtsanwälte geltenden Maßstäben genügen (RdNr. 7 f. m.w.N.).
Die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, die sein Verschulden ausschließen, trägt im Rahmen des § 514 Abs. 2 ZPO der Rechtsmittelführer.
7. A hat nach dem ersten Versäumnisurteil einen Befangenheitsantrag gestellt, der erst Minuten vor dem Einspruchstermin verworfen wurde. Ist As Säumnis deshalb unverschuldet?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein Beteiligter muss davon ausgehen, dass ein Verhandlungstermin stattfindet, solange er nicht aufgehoben ist (vgl. RdNr. 10 m.w.N.; OVG Schleswig BeckRS 2021, 1977 RdNr. 19). Die Entscheidung über einen Befangenheitsantrag kann jederzeit durch Beschluss ohne vorherige mündliche Verhandlung ergehen (§ 46 Abs. 1 ZPO).
A musste davon ausgehen, dass ihr Befangenheitsantrag (kurz) vor der mündlichen Verhandlung - möglicherweise noch am selben Tag - im Beschlusswege beschieden und der Einspruchstermin anschließend wie geplant stattfinden werde (RdNr. 10).
8. Die Migräne der A ist seit Jahren chronifiziert. Im laufenden Verfahren war A mehrfach wegen akuter Migräne verhindert. Erfolgte As krankheitsbedingte Säumnis (Migräne) trotzdem unverschuldet?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Säumnis einer Partei wegen Erkrankung des Rechtsanwalts ist nur dann unverschuldet, wenn der Rechtsanwalt für den Fall seiner persönlichen Verhinderung erfolglos alle zumutbaren Maßnahmen zur Ermöglichung der Terminwahrnehmung getroffen hat (vgl. RdNr. 11).
BGH: A wusste wegen ihrer langjährigen Erkrankung und der Vorgeschichte im Prozess um das Risiko akuter Migräneanfälle. Sie hätte für diese Fälle vorsorglich einen Vertreter bestellen müssen (RdNr. 12).
Dass ein Rechtsanwalt zur Bestellung eines Vertreters gesetzlich erst verpflichtet ist, wenn er länger als eine Woche berufsunfähig ist (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO), steht dem nicht entgegen. Die Sorgfaltspflicht geht über diese Pflicht hinaus.
9. Der A hätte aber persönlich rechtliches Gehör gewährt werden müssen. Die Bestellung eines Terminvertreters hätte Art. 103 Abs. 1 GG nicht genügt. Ist As Säumnis deshalb unverschuldet.
Nein!
Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist regelmäßig dadurch gewahrt, dass ein Prozessbevollmächtigter die Partei im Prozess vertritt. Deren eigenes Anwesenheitsinteresse ist nur ausnahmsweise insoweit geschützt, als gewichtige Gründe die persönliche Anwesenheit der Partei erfordern (vgl. RdNr. 17).
Gewichtige Gründe, die eine persönliche Anwesenheit der A im Einspruchstermin erfordert hätten, sind nicht ersichtlich. Die Bestellung eines Terminvertreters hätte As Recht auf rechtliches Gehör gewahrt (Art. 103 Abs. 1 GG).
Aufbautechnisch empfehlen wir Dir, Art. 103 Abs. 1 GG so wie hier (jedoch anders als der BGH, RdNr. 16ff.) im Rahmen des Verschuldens zu prüfen.
10. Die 7-Tage-Inzidenz lag zum Einspruchstermin bei 100. Wegen ihrer Vorerkrankung hatte A - trotz Schutzkonzepts des Gerichts - erfolglos Verlegungsanträge gestellt. Hat A ihre Säumnis verschuldet?
Genau, so ist das!
BGH: Gerichte verfügten zur Eindämmung pandemiebedingter Infektionsrisiken durch Schutzkonzepte und ähnliche Maßnahmen über einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Danach verbleibende Infektionsrisiken zählten zum allgemeinen Lebensrisiko, das keine Terminverlegungen rechtfertige (§ 227 Abs. 1 S. 1 ZPO) (RdNr. 14).
Soweit A aufgrund ihrer Autoimmunerkrankung trotz des Schutzkonzepts einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt war, musste sie einen Terminvertreter bestellen. Dieser hätte lediglich das allgemeine Lebensrisiko tragen müssen.
Die Zulänglichkeit und weitere Rechtmäßigkeit des Schutzkonzepts war hier mangels abweichender Angaben zu unterstellen.
11. Kann A mit Erfolg gegen das zweite Versäumnisurteil vorgehen?
Nein, das trifft nicht zu!
Gegen ein zweites Versäumnisurteil können die Berufung, bzw. Revision statthaft sein. Beide setzen voraus, dass der Säumige schlüssig darlegt, es habe kein Fall der schuldhaften Säumnis vorgelegen (§§ 514 Abs. 2, 565, 345 ZPO).
Berufung oder Revision der A wären mangels schlüssiger Darlegung einer unverschuldeten Säumnis unzulässig (RdNr. 4f.). Weitere Rechtsbehelfe stehen A nicht zur Verfügung.
"Rechtsbehelf" ist der gegenüber "Rechtsmittel" weitere Begriff: Rechtmittel (3. Buch der ZPO) sind nur solche Rechtsbehelfe, die einen Devolutiveffekt haben, den Rechtsstreit also in die nächsthöhere Instanz heben.
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