Strafrecht

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Verwerflichkeit: Das Zusammenspiel von Nötigung und Grundrechten - Jurafuchs

Verwerflichkeit: Das Zusammenspiel von Nötigung und Grundrechten - Jurafuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: A schlägt mit anderen Demonstranten auf die Glasfassade eines Gebäudes. Die Stadtverordnetenversammlung innen kann sich aufgrund dessen nicht mehr verstehen.

A schlägt mit anderen Demonstranten auf die Glasfassade des Rathauses ein und ruft rassistische Parolen, um die Stadtverordnetenversammlung zu stören. Wegen des Lärms verstehen die Teilnehmer sich nicht mehr. Zudem fürchten sie, dass die Fassade bricht. Sie brechen deshalb die Versammlung ab.

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Einordnung des Falls

Die Abwägung zwischen der Ausübung von Grundrechten und einer etwaigen Strafbarkeit kann sich als durchaus schwierig gestalten. So auch in dem vorliegenden Fall. Dieser beschäftigt sich mit einer Meinungskundgabe, welche unter den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt und gleichzeitig den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Freilich kann auch das Gebrauchmachen von der Versammlungs- und Meinungsfreiheit eine verwerfliche Handlung i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB darstellen. Allerdings sind die Grundrechte des Täters bei der Bewertung dessen besonders zu berücksichtigen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A durch das Schreien und Schlagen Gewalt angewendet im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB?

Genau, so ist das!

Gewalt setzt (1) auf Seiten des Täters eine - wenn auch geringfügige - körperliche Kraftentfaltung und (2) eine unmittelbare körperliche Zwangswirkung beim Opfer voraus.Das Schlagen gegen die Glasfassade sowie das laute Schreien stellen eine physische Kraftentfaltung dar. Der dadurch verursachte Lärm hatte zur Folge, dass sowohl das Sprechen als auch Hören und somit ein kommunikativer Austausch für die Stadtverordneten nicht mehr möglich war. Dies stellt eine körperliche Zwangswirkung dar. In seiner Entscheidung vom 10. Januar 1995 hatte das BVerfG klargestellt, dass rein psychische Zwangswirkungen nicht vom Gewaltbegriff des § 240 StGB erfasst werden, sondern eine (zumindest geringfügige) körperliche Kraftentfaltung durch den Täter erforderlich ist.
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2. Hat A durch das Schreien und Schlagen auch mit einem empfindlichen Übel im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB gedroht?

Ja, in der Tat!

Eine Drohung ist das (konkludente) Inaussichtstellen eines Übels, auf das der Täter Einfluss hat oder zu haben vorgibt. Diese ist empfindlich, wenn es geeignet erscheint, einen besonnenen Menschen im Sinne des Täterverlangens zu motivieren. Aufgrund der Gewalteinwirkung auf die Glasfassade befürchteten die Stadtverordneten, diese könnte zerbrechen und die unmittelbar dahinter befindlichen Personen verletzen. Eine Drohung durch A lag somit vor. Diese führte auch dazu, dass die Stadtverordneten die Beratschlagung abbrechen mussten, das angedrohte Übel war somit auch empfindlich.

3. Hat A einen anderen Menschen genötigt?

Ja!

Es müsste auch ein Nötigungserfolg vorliegen. Dies kann jedes Verhalten des Opfers sein, sofern es über die bloße Erduldung des Nötigungsmittels hinausgeht. Die Stadtverordneten haben die Versammlung abgebrochen, sodass eine Handlung und damit ein Nötigungserfolg auf Opferseite vorliegt.

4. Lag zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg auch der nötigungsspezifische Zusammenhang vor?

Genau, so ist das!

§ 240 StGB erfordert als zweiaktiges Delikt, dass das Opfer durch die Nötigung zu dem vom Täter gewünschten Verhalten veranlasst wird, das abgenötigte Verhalten also die spezifische und unmittelbare Folge des Nötigungsmittels ist Gerade die Schläge und Schreie führten durch den verursachten Lärm dazu, dass die Stadtverordneten die Versammlung abbrechen mussten. Der nötigungsspezifische Zusammenhang ist somit gegeben.

5. Indiziert das Vorliegen von Gewaltanwendung und Drohung stets die Verwerflichkeit der Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Nötigung ist verwerflich, wenn die Anwendung der Mittel für den erstrebten Zweck in besonders hohem Maße sittlich zu missbilligen ist. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich demnach aus dem Verhältnis von Nötigungsmittel und Nötigungszweck und nicht allein aus der Anwendung des Nötigungsmittels.Dies gilt selbst beim Vorliegen von Gewalt aufgrund der enormen tatbestandlichen Weite des Gewaltbegriffs. Die Einschränkung über Abs. 2 ist daher verfassungsrechtlich geboten. Ihr kommt somit eine grundrechtssichernde Funktion zu.

6. Ist jede kollektive Meinungskundgabe, die Gewalt im Sinne des § 240 StGB als Nötigungsmittel einsetzt, eine unfriedliche Versammlung und daher nicht von der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG geschützt?

Nein!

Der von der Rechtsprechung zu § 240 StGB entwickelte weite Gewaltbegriff kann nicht mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Unfriedlichkeit gleichgesetzt werden. Eine grundrechtsfreundliche Auslegung und der weite Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG erfordert ein weites Verständnis von Friedlichkeit. Nicht jede Form von Gewaltanwendung, die als Nötigungsmittel gem. § 240 StGB qualifiziert, führt daher dazu, dass eine Versammlung unfriedlich wird und somit im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung die Versammlungsfreiheit des Nötigungstäters nicht zu berücksichtigen ist.

7. Ist A Nötigungshandling nicht verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB, sondern rechtmäßig, da er mit den anderen Beteiligten von seiner Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch machte?

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei der Prüfung der Verwerflichkeit sind die Grundrechte des Nötigungstäters in der Abwägung zu berücksichtigen. BGH: Zwar sei die Versammlung von A und der anderen Beteiligten nicht schon aufgrund der Gewaltanwendung im Sinne des § 240 StGB ohne Weiteres als „unfriedlich“, sodass er sich im Grundsatz auf die Versammlungs- und Meinungsfreiheit berufen könne. Es handele sich jedoch um ein besonders massives und bedrohliches Verhalten, mit dem A sein rassistisches Weltbild durchzusetzen versuche, indem er den demokratischen Meinungsaustausch der Stadtverordneten verhindern wollte. Im Rahmen einer Gesamtabwägung sei das Verhalten des A daher trotz Gebrauchs seiner Meinungs- und Versammlungsfreiheit als verwerflich zu bewerten (RdNr. 35 f.).
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