+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A droht O wiederholt per SMS mit dem Tode und lauert ihr vielerorts auf. Daraufhin wird O arbeitsunfähig und muss in psychiatrische Behandlung. Schließlich bricht O die Behandlung ab und zieht aus Angst zu ihren Eltern. Sechs Monate nach dem letzten Kontakt mit A erhängt sich O.
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Einordnung des Falls
Der BGH beschäftigt sich hier mit dem nötigen Zusammenhang zwischen einer Nachstellung (Stalking) und dem qualifizierten Erfolg (selbstschädigenden Verhalten des Opfers (Suizid)). Das Verhalten des Opfers ist dem Täter demnach dann zuzurechnen, wenn ein tatbestandsspezifischer Gefahrenzusammenhang zwischen dem Grunddelikt und dem (tödlichen) Erfolg besteht. Dies sei der Fall, wenn das Verhalten des Opfers motivational auf die Verwirklichung des Grundtatbestandes zurückzuführen ist und diese Motivation für das selbstschädigende Verhalten handlungsleitend war.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist die Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) ein Erfolgsdelikt?
Nein!
Bis 2007 verlangte die
Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB), dass die Lebensgestaltung des Opfers durch die Tathandlungen schwerwiegend beeinträchtigt sein musste. Es handelte sich um ein Erfolgsdelikt, das die Strafbarkeit an ein Ausweich- oder Vermeideverhalten des Opfers knüpfte. Nach dem aktuellen Wortlaut des § 238 Abs. 1 StGB genügt es, wenn die Tathandlungen geeignet sind, das Leben des Opfers zu beeinträchtigen, also einen objektivierbaren Anlass für eine Verhaltensänderung bieten. Ein tatsächlicher Taterfolg (z. B. Wohnsitzwechsel) ist hingegen nicht mehr erforderlich. Die
Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) wurde also in ein Eignungsdelikt umgewandelt.
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2. Hat A die räumliche Nähe der O aufgesucht (§ 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
Eine Tatmodalität der Nachstellung ist das Aufsuchen der räumlichen Nähe des Opfers (§ 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Hierunter sind physische Annäherungen zu verstehen, wobei es zu einer Berührung, einer Kommunikation oder einem sonstigen Kontakt mit dem Opfer nicht zu kommen braucht. Der Täter muss das Opfer gezielt aufsuchen, zufällige Begegnungen sind nicht erfasst. Bezüglich der räumlichen Nähe kommt es auf eine Einzelfallbetrachtung der räumlichen Umstände an. Eine Beobachtung aus größerer Entfernung reicht jedenfalls nicht aus. A lauerte O mehrfach auf und verfolgte sie, wozu er ihre räumliche Nähe aufsuchte. Dies geschah gezielt und nicht nur zufällig. 3. Hat A versucht, mithilfe von Telekommunikationsmitteln Kontakt mit O aufzunehmen (§ 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB)?
Ja, in der Tat!
§ 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt, wer unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte versucht, Kontakt zum Opfer herzustellen. Von Telekommunikationsmitteln umfasst sind sämtliche Mittel technischer Telekommunikation (Legaldefinition in § 3 Nrn. 22, 23 TKG), mit dem Ziel des Aussendens, Übermittelns und Empfangens von Nachrichten jeder Art (z. B. SMS, E-Mail). Hingegen fallen unter sonstige Kommunikationsmittel alle gegenständlichen Mittel zur Übermittlung von Nachrichten (z. B. Brief, Zettel) Durch das Verschicken von SMS-Nachrichten an O versuchte A mithilfe eines Telekommunikationsmittels Kontakt herzustellen.
4. Hat A mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Gesundheit der O gedroht (§ 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB)?
Ja!
Die Tatmodalität des § 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfordert das Inaussichtstellen einer Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit. Der Tatbestand ist also restriktiver als der Nötigung (§ 240 StGB), da dieser das Inaussichtstellen eines empfindlichen Übels (jede nachteilig empfundene Veränderung in der Außenwelt)genügen lässt. Gleichwohl umfasst § 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB mehr als die Bedrohung (§ 241 StGB), weil auch die Bedrohung mit einem Vergehen erfasst ist. Die Drohung muss sich auf die Verletzung des Opfers oder einer ihm nahestehenden Person beziehen.A drohte O in seinen Textnachrichten mit dem Tode, mithin der Verletzung ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit.
5. Handelte A unbefugt im Sinne des § 238 Abs. 1 StGB?
Genau, so ist das!
Bei dem Merkmal „unbefugt“ handelt es sich nach h. M. um ein Tatbestandsmerkmal. Hierdurch sollen sozialadäquate Verhaltensweisen von der Strafbarkeit ausgenommen werden. Demnach ist ein befugtes Handeln anzunehmen, wenn sich der Täter entweder auf eine Befugnisnorm oder das Einverständnis des Opfers berufen kann. Eine derartige Befugnis scheidet aus, ebenso wie ein Einverständnis der O. Auch ist das Verhalten des A nicht sozialadäquat, weil darunter ein übliches, von der Allgemeinheit gebilligtes und daher im sozialen Leben ganz unverdächtiges Verhalten zu verstehen ist. A handelte also unbefugt.
6. Handelte A "wiederholt" im Sinne des § 238 Abs. 1 StGB?
Ja, in der Tat!
Wiederholt handelt, wer das tatbestandsmäßige Verhalten andauernd und mehrfach ausübt. A lauerte O vielerorts auf und verschickte eine Vielzahl von SMS-Nachrichten; mithin setzte er sich über den entgegenstehenden Willen der O hinweg.Bis zum 1.10.2021 verlangte das Gesetz noch ein beharrliches Handeln. Erforderlich war danach in subjektiver Hinsicht zusätzlich ein Verhalten, in welchem die Gleichgültigkeit gegenüber dem Willen des Opfers zum Ausdruck kommt. Zur leichteren Handhabbarkeit der Norm wurde dieses subjektive Element gestrichen.
7. Enthält § 238 Abs. 3 StGB (Nachstellen mit Todesfolge) eine Erfolgsqualifikation zum Grunddelikt des Nachstellens?
Ja!
Die
Nachstellung mit Todesfolge (§ 238 Abs. 3 StGB) stellt ein erfolgsqualifiziertes Delikt dar. Als solches setzt es neben der vorsätzlichenVerwirklichung des Grunddelikts(§ 238 Abs. 1 StGB), die wenigstens fahrlässige(§ 18 StGB) Verursachung der Todesfolgevoraus (Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination).
8. Was das Verhalten des A konkret geeignet, die Lebensgestaltung der O schwerwiegend zu beeinträchtigen (§ 238 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
Als Eignungsdelikt erfordert die Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) ein Täterverhalten, das objektiv geeignet ist, um eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers hervorzurufen. Nicht unerheblich ist eine Beeinträchtigung, jedenfalls dann, wenn es sich nicht um eine bloß durchschnittliche und zumutbare Veränderung der Lebensumstände handelt. Dabei kann sich die Erheblichkeit der Beeinträchtigung auch aus einer Kumulation mehrerer Umstände ergeben. Das Verhalten des A führte zu einer psychischen Erkrankung, Arbeitsunfähigkeit und einem Wohnsitzwechsel. Es war nicht nur geeignet, die Lebensgestaltung der O mehr als nur unerheblich zu beeinträchtigen, sondern hatte tatsächliche Folgen.Zum 1.10.2021 ist das frühere Tatbestandsmerkmal "schwerwiegend" durch "nicht unerheblich" ersetzt worden, mit dem Ziel, den Opferschutz zu erhöhen. 9. A hat den Tod der O verursacht. Was sein Handeln kausal?
Ja, in der Tat!
Nach der Äquivalenztheorie ist ein Verhalten kausal, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non-Formel). Infolge des tyrannisierenden Verhaltens des A, erkrankte die O psychisch, verlor ihre Arbeit und musste umziehen. Dies alles trieb sie letztlich in den Selbstmord. Die Nachstellungshandlungen des A können demnach nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Tod der O entfiele. Das Verhalten des A war kausal für den Eintritt der Todesfolge.
10. Ist der Tod der O dem A auch objektiv zurechenbar?
Ja!
Bei erfolgsqualifizierten Delikten gilt bei der objektiven Zurechnung ein gesteigerter Anspruch. Die dem Grunddelikt innewohnende abstrakte Gefahr muss sich in der Todesfolge niedergeschlagen haben (deliktsspezifischer Gefahrzusammenhang). Da die Nachstellung § 238 Abs. 1 StGB) den individuellen Lebensbereich und vor selbstschädigendem Verhalten schütze, soll es laut BGH genügen, wenn der Suizid – wie hier – motivational auf der Nachstellung beruhe und diese Motivation handlungsleitend für den Suizid gewesen sei. Folglich durchbreche weder das eigenverantwortliche Handeln der O (Therapieabbruch, Suizid) noch die zeitliche Zäsur (6 Monate) den Zurechnungszusammenhang. 11. Handelte A fahrlässig hinsichtlich der Todesfolge (§ 18 StGB)?
Genau, so ist das!
Der Täter eines erfolgsqualifizierten Delikts handelt schon durch die Verwirklichung des Grunddelikts objektiv und subjektiv sorgfaltspflichtwidrig. Zudem muss der Eintritt der Todesfolge auch vorhersehbar gewesen sein. Hierfür ist entscheidend, ob der Täter in seiner konkreten Lage nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten den Eintritt des Todes des Opfers voraussehen konnte. Dass Opfer von schwerwiegenden Nachstellungen Suizid begehen, ist leider kein Einzelfall und liegt nicht außerhalb der Lebenserfahrung. A handelte fahrlässig und hat sich gem. § 238 Abs. 3 Strafbar gemacht.
12. Kann A nur strafrechtlich verfolgt werden, wenn ein Strafantrag gestellt wird?
Nein, das trifft nicht zu!
Nach § 238 Abs. 4 StGB a.F. wurde die
Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Dieses Erfordernis wurde zum 01.10.2021 ersatzlos gestrichen, sodass es nunmehr weder für die einfache
Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) noch für die Erfolgsqualifikation (§ 238 Abs. 3 StGB) eines Strafantrages bedarf.
Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts?
- Tatbestandsmäßigkeit
- Erfolgseintritt und Tathandlung
- Kausalität
- Fahrlässigkeit
- Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
- Objektive Vorhersehbarkeit
- Objektive Zurechenbarkeit
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Allgemeine Entschuldigungsgründe
- Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit