Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
BT 3: Straftaten gegen die Freiheit u.a.
Ist Suizid des Opfers dem Stalker zurechenbar?
Ist Suizid des Opfers dem Stalker zurechenbar?
26. Juli 2023
12 Kommentare
4,5 ★ (53.680 mal geöffnet in Jurafuchs)
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts?
- Tatbestandsmäßigkeit
- Erfolgseintritt und Tathandlung
- Kausalität
- Fahrlässigkeit
- Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
- Objektive Vorhersehbarkeit
- Objektive Zurechenbarkeit
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Allgemeine Entschuldigungsgründe
- Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A droht O wiederholt per SMS mit dem Tode und lauert ihr vielerorts auf. Daraufhin wird O arbeitsunfähig und muss in psychiatrische Behandlung. Schließlich bricht O die Behandlung ab und zieht aus Angst zu ihren Eltern. Sechs Monate nach dem letzten Kontakt mit A erhängt sich O.
Diesen Fall lösen 88,7 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der BGH beschäftigt sich hier mit dem nötigen Zusammenhang zwischen einer Nachstellung (Stalking) und dem qualifizierten Erfolg (selbstschädigenden Verhalten des Opfers (Suizid)). Das Verhalten des Opfers ist dem Täter demnach dann zuzurechnen, wenn ein tatbestandsspezifischer Gefahrenzusammenhang zwischen dem Grunddelikt und dem (tödlichen) Erfolg besteht. Dies sei der Fall, wenn das Verhalten des Opfers motivational auf die Verwirklichung des Grundtatbestandes zurückzuführen ist und diese Motivation für das selbstschädigende Verhalten handlungsleitend war.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist die Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) ein Erfolgsdelikt?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat A die räumliche Nähe der O aufgesucht (§ 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
3. Hat A versucht, mithilfe von Telekommunikationsmitteln Kontakt mit O aufzunehmen (§ 238 Abs. 1 Nr. 2 StGB)?
Ja, in der Tat!
4. Hat A mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Gesundheit der O gedroht (§ 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB)?
Ja!
5. Handelte A unbefugt im Sinne des § 238 Abs. 1 StGB?
Genau, so ist das!
6. Handelte A "wiederholt" im Sinne des § 238 Abs. 1 StGB?
Ja, in der Tat!
7. Enthält § 238 Abs. 3 StGB (Nachstellen mit Todesfolge) eine Erfolgsqualifikation zum Grunddelikt des Nachstellens?
Ja!
8. Was das Verhalten des A konkret geeignet, die Lebensgestaltung der O schwerwiegend zu beeinträchtigen (§ 238 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
9. A hat den Tod der O verursacht. Was sein Handeln kausal?
Ja, in der Tat!
10. Ist der Tod der O dem A auch objektiv zurechenbar?
Ja!
11. Handelte A fahrlässig hinsichtlich der Todesfolge (§ 18 StGB)?
Genau, so ist das!
12. Kann A nur strafrechtlich verfolgt werden, wenn ein Strafantrag gestellt wird?
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Jana-Kristin
12.6.2020, 09:41:37
Wenn ihr das von Gesetzgeber benannte Beispiel für das Nichtvorliegen des Merkmals „
unbefugt“ anspricht, wäre es wünschenswert, wenn ich dazu ein Beispiel machen könntet. Selbst Kommentare sprechen dies selten an.

Eigentum verpflichtet 🏔️
12.6.2020, 14:25:24
Bei Fischer, Strafgesetzbuch, 64. Auflage, 2017, 238 Rn. 26ff. findet sich ein bisschen was dazu. Bspw. kann sich eine Befugnis aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften (zB Ermittlungen der Polizei), aber auch aus zivilrechtlichen Ansprüchen (Verfolgung von Unterhaltsansprüchen) ergeben.

Christian Leupold-Wendling
18.6.2020, 11:44:32
Danke für die Frage. @Eigentum verpflichtet, danke für den Blick in den Kommentar! Interessant mE auch: Befugnis kann sich aus Vertrag ergeben. Fischer nennt als Beispiel: „Sammlung von Daten über Bewegungen, Konsum- und Freizeitverhalten, z.B. durch Kreditkarten-Unternehmen aufgrund von AGB“.
hagenhubl
17.9.2024, 10:27:57
Ist es nicht problematisch, dass sich O erst 6 Monate nach dem letzten Kontakt mit A erhängt hat? A hatte das Stalking ja vielleicht schon aufgegeben. Muss man die Kausalität nicht nach dem
Grundsatz in dubio pro reoverneinen?

Inkognito
4.6.2025, 13:15:07
Was Hagenhubl hier sagt finde ich ziemlich überzeugend. Unsympath hin oder her, Was soll der O denn noch machen, als die Anfeindungen beenden? Eine Möglichkeit zum Rücktritt finde ich hier quasi nahezu nicht gegeben und es setzt meiner Meinung nach beim Opfer einen Anreiz, dem Täter durch einen Suizid einen letzten Dolchstoß durch eine lange Freiheitsstrafe (die dieser sicherlich verdient hat) zu versetzen. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass wenn ich auf jemanden einsteche und der verblutet obwohl ich schon aufgehört habe, dann habe ich halt auch gelitten. Generell eine recht diffuse Norm, da sich das Recht, dass sich ja normalerweise an objektiven Kriterien orientieren will, sich hier gezwungen sieht, eine "Psychologische`" Terrorisierung akkurat einzuordnen.