Brogsitter: Unerlässlichkeit (-)

21. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Deutsche D besitzt eine Wohnung auf Mallorca. Für diese beauftragt D die P, die Wände neu zu streichen. P wohnt in Polen, sucht aber gerade nach einem Gelegenheitsjob. Bei den Arbeiten verläuft Farbe auch auf Ds teuren Teppich.

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Einordnung des Falls

Brogsitter: Unerlässlichkeit (-)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist der Anwendungsbereich der EuGVVO eröffnet?

Ja!

Die EuGVVO ist auf Zivil- und Handelssachen anzuwenden, die am 10.01.2015 oder danach eingeleitet wurden. Der räumlich-persönliche Anwendungsbereich setzt grundsätzlich voraus, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat hat (arg e Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 EuGVVO). In Frage kommen hier vertragliche und deliktische Ansprüche gegen P. Diese resultieren aus einem zivilrechtlichen Verhältnis zwischen S und P. Mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass der Sachverhalt nach dem 10.01.2015 spielt. S würde also danach erst ein Verfahren einleiten (durch eine Klageeinreichung). P lebt in Polen, hat also ihren Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist somit eröffnet.
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2. D könnte P an deren allgemeinem Gerichtsstand in Polen verklagen (Art. 4 Abs. 1 EuGVVO).

Genau, so ist das!

Art. 4 EuGVVO regelt den sog. allgemeinen Gerichtsstand. Demnach kann ein Beklagter immer in seinem Wohnsitzstaat verklagt werden. Dies gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Beklagten. Am allgemeinen Gerichtsstand können jegliche Arten von Ansprüchen geltend gemacht werden. S kann P also in Polen verklagen. Die Norm regelt die internationale Zuständigkeit. Sie sagt noch nichts über die örtliche Zuständigkeit, also die Zuständigkeit des Gerichts innerhalb des Mitgliedsstaats aus.

3. Alternativ zum allgemeinen Gerichtsstand kann D auch an einem besonderen Gerichtsstand klagen, sofern dessen Voraussetzungen vorliegen.

Ja, in der Tat!

Die besonderen Gerichtsstände bestehen alternativ neben dem allgemeinen Gerichtsstand. Sie begründen zusätzliche, konkurrierende Gerichtsstände, sind gegenüber dem allgemeinen Gerichtsstand also nicht vorrangig. Ein Nachteil der besonderen Gerichtsstände ist, dass nur bestimmte Gruppen von Ansprüchen eingeklagt werden können. Am vertraglichen Gerichtsstand können also nur vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden. Es besteht also keine Annexkompetenz bezüglich Ansprüche anderer Natur. Es ist natürlich denkbar, dass unterschiedliche besondere Gerichtsstände dasselbe Gericht für zuständig erklären.

4. Die Einordnung, ob ein Anspruch als deliktisch oder vertraglich zu qualifizieren ist, richtet sich nach nationalem Recht.

Nein!

Die EuGVVO ist verordnungsautonom auszulegen! In der wichtigen Brogsitter-Entscheidung des EuGH hat dieser den Anwendungsbereich des Vertragsgerichtsstands deutlich zulasten des Deliktsgerichtsstands ausgedehnt. Danach sind Ansprüche bereits dann als vertraglich zu qualifizieren, wenn der Grund des Schadensersatzanspruchs „bei vernünftiger Betrachtungsweise in einem Verstoß gegen“ den Vertrag „gesehen werden kann, so dass dessen Berücksichtigung für die Entscheidung über die Klage zwingend erforderlich ist“. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn eine Vertragsauslegung unerlässlich ist, um festzustellen, ob das vorgeworfene Verhalten rechtswidrig ist. Das nationale Recht ist bei der Abgrenzung ohne Belang.

5. Ist es unerlässlich, den Vertrag zwischen D und P auszulegen, um zu beurteilen, ob die Beschädigung des Teppichs rechtswidrig war?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der Brogsitter-Rechtsprechung sind deliktische Ansprüche vertraglich i.S.d. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO, wenn der Grund des Schadensersatzanspruchs „bei vernünftiger Betrachtungsweise in einem Verstoß gegen“ den Vertrag „gesehen werden kann […]“. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn eine Vertragsauslegung unerlässlich ist, um festzustellen, ob das vorgeworfene Verhalten rechtswidrig ist. Die Rechtswidrigkeit der Beschädigung von Eigentum ergibt sich aus sich heraus, nicht erst aus dem Vertrag. Eine vorherige Vertragsauslegung ist also nicht zwingend erforderlich. Zudem könnte man argumentieren, dass hier nicht das Leistungsinteresse (an der Erfüllung des Vertrags), sondern das Integritätsinteresse betroffen ist. Dies spricht eher dafür, dass für einen Ersatzanspruch wegen Beschädigung des Teppichs der Deliktsgerichtsstand einschlägig ist.

6. Nach dem deliktischen Gerichtsstand kann D die P auch in Spanien verklagen (Art. 7 Nr. 2 EuGVVO).

Ja, in der Tat!

Ist der Deliktsgerichtsstand einschlägig, kann der Kläger den Beklagten auch (neben dem allgemeinen Gerichtsstand nach Art. 4 EuGVVO) am Tatort der unerlaubten Handlung verklagen. Der Deliktsgerichtsstand regelt somit nicht nur die internationale Zuständigkeit (zuständig ist das Land, in dem das schädigende Ereignis eingetreten ist), sondern auch die örtliche Zuständigkeit (innerhalb des Landes ist das Gericht am Tatort zuständig). D kann deliktische Ansprüche gegen P am zuständigen mallorquinischen Gericht geltend machen.
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