Thüringer Paritätsgesetz verfassungswidrig

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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streitig (herrschende Meinung vs. starke Mindermeinung)
besonders examenstauglich

In Thüringen ist seit August 2019 vorgesehen, dass Landeslisten durch die politischen Parteien abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen sind (sog. Paritätsgesetz), sonst werden sie zurückgewiesen. Die A-Partei leitet eine abstrakte Normenkontrolle vor dem ThürVerfGH ein.

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Einordnung des Falls

Thüringer Paritätsgesetz verfassungswidrig

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der ThürVerfGH überprüft bei der abstrakten Normenkontrolle die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem gesamten Grundgesetz.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der ThürVerfGH überprüft Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit der Thüringer Verfassung. Dies geschieht umfassend, d.h. das Gericht ist nicht auf die Rügen der Antragsteller beschränkt (§ 44 S. 2 ThürVerfGHG). Prüfungsmaßstab für die Kontrolle des Paritätsgesetzes ist daher die Thüringer Verfassung. Darüber hinaus gehört hier auch Art. 21 GG zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab, da anerkannt ist, dass diese bundesverfassungsrechtliche Norm in die Thüringer Verfassung hineinwirkt und zu deren ungeschriebenen Bestandteilen gehört (RdNr. 70f.).
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2. Die Freiheit der Wahl (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) sichert die Ausübung des Wahlrechts gegen Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussungen von außen ab.

Ja, in der Tat!

VerfGH: Die in Art. 46 Abs. 1 ThürVerf verbürgte Freiheit der Wahl verlange, dass Wahlen nicht durch Zwang und Druck von staatlicher Seite beeinflusst werden und dass der Prozess der Willensbildung des Volkes staatsfrei verläuft. Diese Norm ist inhaltsgleich mit Art. 38 Abs. 1 GG (RdNr. 78). In seiner „aktiven Dimension“ enthält der Grundsatz der Freiheit der Wahl also das Recht, ohne staatliche Beeinträchtigung zu wählen.

3. Das Paritätsgesetz beeinträchtigt die Freiheit der Wahl, da Wähler*innen keine Liste wählen können, auf der nur oder überwiegend Männer oder Frauen aufgeführt sind.

Ja!

VerfGH: Das Paritätsgesetz schränke die Wahlfreiheit der Wähler*innen ein, da sie auf die Verteilung der Geschlechter im Parlament durch die Wahl einer bestimmten Liste keinen Einfluss nehmen können. Wähler*innen sind gerade nicht mehr frei, durch die Wahl einer ausschließlich oder überwiegend männlich oder weiblich dominierten Liste darauf hinzuwirken, dass im Landtag mehr Frauen als Männer (oder umgekehrt) vertreten sind. Durch das Paritätsgesetz werde stattdessen eine geschlechtsbezogene Zusammensetzung des Parlaments prädeterminiert (RdNr. 78).

4. Nach dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) muss jede Stimme grundsätzlich den gleichen Zählwert und den gleichen Erfolgswert haben.

Genau, so ist das!

Jede Stimme muss gleich viel zählen (Zählwertgleichheit) und alle abgegebenen Stimmen müssen grundsätzlich den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretung haben (Erfolgswertgleichheit). Allerdings gelten diese Prinzipien nicht absolut, denn durch Sperrklauseln und unterschiedliche Wahlkreisarithmetik können sich gerechtfertigte Unterschiede ergeben. Dennoch sieht der VerfGH hier einen Eingriff, denn nicht paritätisch besetzte Listen sind zurückzuweisen (§ 30 Abs. 1 S. 5 ThürLWG). Wenn eine Partei nicht genügend Bewerber*innen hat, um die Liste paritätisch zu besetzen, wären zudem die gesetzeswidrigen Platzierungen zu streichen (§ 30 Abs. 1 S. 4 Hs. 2 ThürLWG). In beiden Fällen wäre der Erfolgswert der Stimmen im Vergleich zu vollumfänglich paritätisch besetzten Listen geringer (RdNr. 83f.).

5. Alle Wahlbewerber*innen müssen ihr Recht, sich zur Wahl zu stellen, in gleicher Weise ausüben können (sog. passive Wahlrechtsgleichheit).

Ja, in der Tat!

Wer das 18. Lebensjahr vollendet und in Thüringen wohnhaft ist, ist wählbar und hat daher das Recht, sich zur Wahl zu stellen (sog. passives Wahlrecht, Art. 46 Abs. 2 ThürVerf). VerfGH: Allen Wahlbewerber*innen garantiere Art. 46 Abs. 1 ThürVerf darüber hinaus ein Recht auf Chancengleichheit, d.h. jeder muss die gleichen Möglichkeiten bei der Kandidatur, im Wahlkampf und im Wahlverfahren haben (RdNr. 86).

6. Eine Beeinträchtigung der passiven Wahlrechtsgleichheit scheidet aus, denn durch das Paritätsgesetz sind die Chancen für beide Geschlechter, auf einen Listenplatz gewählt zu werden, jeweils gleich.

Nein!

VerfGH: Dies sei zwar zutreffend, aber „verfassungsrechtlich […] nicht von Belang“. Die passive Wahlrechtsgleichheit sei ein Recht aller Bürger*innen, d.h. eine auf das jeweilige Individuum bezogene Gleichheit in Bezug auf dessen Wahlchancen. Infolge des Paritätsgesetzes haben aber Bewerber*innen nicht mehr die gleichen Chancen, einen Listenplatz zu erringen. Für Kandidat*innen, gleich ob Mann oder Frau, fällt – im Vergleich zur Rechtslage ohne das Gesetz – jeweils die Hälfte der Listenplätze weg. Sie können sich nicht mehr auf jeden Platz bewerben, sondern nur noch auf jeden zweiten. Darin liege ein Eingriff (RdNr. 86f.).

7. Das Paritätsgesetz beeinträchtigt auch die von Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG garantierte Betätigungs- und Programmfreiheit von politischen Parteien.

Genau, so ist das!

VerfGH: Politische Parteien haben eine umfassende Betätigungs-, Organisations- und Programmfreiheit (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG). Dazu gehöre erstens die Freiheit, das Personal zu bestimmen, mit dem sie in den politischen Wettbewerb eintreten wollen. Diese werde hier beeinträchtigt, denn Parteien können nicht mehr selbst entscheiden, wie viele weibliche und wie viele männliche Kandidat*innen auf der Liste vertreten sein sollen. Zweitens können Parteien können ihr politisches Anliegen nicht mehr durch einen besonders hohen Frauen- oder Männeranteil unterstreichen, sodass etwa reine Frauenparteien faktisch verboten würden (RdNr. 89ff.).

8. Art. 21 Abs. 1 GG beinhaltet ein Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit.

Ja, in der Tat!

Die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) verbietet der öffentlichen Gewalt jede unterschiedliche Behandlung der Parteien. Ein korrespondierender Anspruch auf Gleichbehandlung bzw. auf gleiche Wettbewerbsbedingungen ist zur Erfüllung der Aufgabe der Parteien, an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG), zwingend erforderlich. Hier stellt der VerfGH klar, dass auch ein im Wortlaut abstrakt gehaltenes Gesetz grundsätzlich in der Lage ist, diesen Anspruch zu beeinträchtigen, wenn sich aus seiner praktischen Auswirkung eine „offenbare Ungleichheit“ ergibt (RdNr. 94).

9. Das Paritätsgesetz beeinträchtigt Parteien in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG).

Ja!

VerfGH: Zum einen ergebe sich eine Beeinträchtigung bei Parteien mit hohem Frauen-/Männeranteil. Diese müssten ggf. mit weniger Kandidat*innen antreten, als sie sonst ins Parlament bringen könnten oder könnten gezwungen sein, aus ihrer Sicht weniger gut geeignete Kandidat*innen vorzuschlagen. Dies betreffe auch Parteien mit geringer Mitgliederzahl (RdNr. 95f.). Zum anderen bestehe ein programmatischer Effekt: Das Paritätsgesetz benachteilige v.a. Parteien, die sich die besondere Förderung eines Geschlechts „auf ihre Fahnen geschrieben“ haben und dies durch eine entsprechende Besetzung der Listenplätze zum Ausdruck bringen wollen (RdNr. 97).

10. Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) sowie der Parteienrechte aus Art. 21 Abs. 1 GG sind stets unzulässig und können nicht gerechtfertigt werden.

Nein, das ist nicht der Fall!

VerfGH: Eine Rechtfertigung komme grundsätzlich in Betracht. Zunächst sei aber zu berücksichtigen, dass einige der festgestellten Eingriffe besonderen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen. Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgrundsätze infolge von Differenzierungen beim Erfolgswert können nur durch einen „zwingenden Grund“ gerechtfertigt werden, d.h. „solche Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten können“. Beeinträchtigungen der Chancengleichheit der Parteien müssen sogar durch einen „besonders zwingenden Grund“ gerechtfertigt sein (RdNr. 100f.).

11. Das Demokratieprinzip verlangt eine tatsächliche Widerspiegelung der in der Wählerschaft vertretenen Bevölkerungsgruppen im Parlament. Dies rechtfertigt die mit dem Paritätsgesetz verbundenen Eingriffe.

Nein, das trifft nicht zu!

VerfGH: Eine solche „Spiegelungstheorie“ sei dem deutschen Verfassungsrecht fremd. Nach dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) sind Abgeordnete nicht einem Land, einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich. Im Parlament schlagen sich dementsprechend „die parteipolitischen Präferenzen des Volkes nieder, nicht dessen geschlechtermäßige, soziologische oder sonstige Zusammensetzung“ (RdNr. 104). Aus dem Demokratieprinzip ergebe sich also keine Pflicht, für eine Zusammensetzung des Parlaments zu sorgen, die spiegelbildlich das Geschlechterverhältnis der Bevölkerung widergibt.

12. Das Paritätsgesetz ist gerechtfertigt, weil dadurch der Charakter von Wahlen als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung gesichert wird.

Nein!

VerfGH: Die „Sicherung der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung“ sei zwar ein vom BVerfG anerkannter Rechtfertigungsgrund, der grundsätzlich Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgrundsätze und der Chancengleichheit von Parteien rechtfertigen kann. Dieser Rechtfertigungsgrund ziele jedoch auf die Integration politischer Kräfte bzw. Strömungen, nicht dagegen auf eine Integration der Geschlechter ab. Frauen und Männer seien keine „zu integrierenden politischen Kräfte“ im Sinne dieses anerkannten Rechtfertigungsgrundes (RdNr. 107ff.).

13. (Art. 2 Abs. 2 S. 2 ThürVerf) beinhaltet die staatliche Verpflichtung, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern und zu sichern.

Genau, so ist das!

Der VerfGH stellt klar, dass es sich hierbei um eine Staatszielbestimmung handelt, die kein subjektives Recht begründet. Die Norm sei aber grundsätzlich geeignet, die Eingriffe zu rechtfertigen, da sie auf derselben Rangstufe (materielles Landesverfassungsrecht) steht wie (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) bzw. Art. 21 Abs. 1 GG als „hineinwirkendes“ Bundesverfassungsrecht. Beachtlich ist, dass die Gleichstellungsverpflichtung inhaltlich über die bundesverfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG hinausgeht; in Thüringen muss der Staat die Gleichstellung nicht zur „fördern“, sondern auch „sichern“ (RdNr. 112ff.).

14. Die staatliche Gleichstellungsverpflichtung (Art. 2 Abs. 2 S. 2 ThürVerf) rechtfertigt die Eingriffe, die mit dem Paritätsgesetz verbunden sind.

Nein, das trifft nicht zu!

VerfGH: Dies lasse sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Dieser habe angesichts der vielen gewichtigen Eingriffe auch eine zu geringe Aussagekraft, um das Paritätsgesetz vollumfänglich zu stützen. Die erhöhten Rechtfertigungsanforderungen („zwingender Grund“) gebieten es auch, höhere Anforderungen an Klarheit und Aussagekraft des Wortlauts zu stellen. Zweitens spreche auch die Entstehungsgeschichte dagegen: Der damalige Vorschlag, die paritätische Vertretung in Entscheidungsgremien in der ThürVerf zu erwähnen, wurde explizit abgelehnt. Daher sehe sich der VerfGH gehindert, das Gleichstellungsgebot in diesem Sinne auszulegen (RdNr. 130ff.).

15. Da das Paritätsgesetz der Thüringer Verfassung widerspricht, erklärt der VerfGH die entsprechenden Vorschriften des LWahlG für nichtig.

Ja!

Richtig, somit gilt fortan das LWahlG in der vorherigen Fassung (RdNr. 141). Drei (von neun) Richter*innen stimmten gegen das Urteil und erklärten in einem Minderheitsvotum (S. 46ff, 52ff), das Gleichstellungsgebot rechtfertige auch quotierte Listen; die Entstehungsgeschichte dürfe nicht überbewertet werden, eine Verfassung sei in erster Linie nach Sinn und Zweck auszulegen. Es gilt zu beachten, dass dieses Urteil nur für die ThürVerf gilt und keine Bindungswirkung für die Rechtslage nach dem GG oder nach anderen Landesverfassungen entfaltet.Auch in Brandenburg ist ein Paritätsgesetz am 23.10.2020 von dem Verfassungsgerichtshof für nichtig erklärt worden.
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