Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Anzahl der Lesungen im Bundestag (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

Anzahl der Lesungen im Bundestag (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das politisch umstrittene „Maximale-Überwachungs-Gesetz“ soll im Schatten der allgemeinen Euphorie um die Frauenfußball-WM schnell und unauffällig den Bundestag passieren. Die Gesetzesvorlage wird von der einfachen Mehrheit der Abgeordneten nach nur einer (äußerst hitzigen) Beratung beschlossen.

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Einordnung des Falls

Anzahl der Lesungen im Bundestag (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Bundestag beschließt Gesetze grundsätzlich nach einer Lesung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Bevor ein Gesetzentwurf vom Bundestag beschlossen wird, führt der Bundestag grundsätzlich drei Lesungen durch (§ 78 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GO-BT). Sinn und Zweck dieser Regelung ist, dass sich alle Abgeordneten am Gesetzgebungsverfahren beteiligen können. Bei Gesetzen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG („Verträge mit auswärtigen Staaten und ähnliche Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen“) sind lediglich zwei Lesungen erforderlich (§ 78 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GO-BT).
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2. Die Beschlussfassung des Bundestages über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz“ verstößt gegen § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT.

Ja, in der Tat!

Bevor ein Gesetzentwurf vom Bundestag beschlossen wird, führt der Bundestag grundsätzlich drei Lesungen durch (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT). Der Bundestag hat nur eine Lesung durchgeführt. Es gibt zudem die Möglichkeit, durch Beschluss einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordneten (§ 126 GO-BT) oder durch Vereinbarungen zwischen den Fraktionen von den Vorschriften der GO-BT im Einzelfall abzuweichen.

3. Das „Maximale-Überwachungs-Gesetz“ ist wegen des Verstoßes gegen § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT formell verfassungswidrig.

Nein!

Verstöße gegen die GO-BT führen nicht automatisch zur formellen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes. Die formelle Verfassungswidrigkeit kann nur aus einem Verstoß gegen Vorschriften des Grundgesetzes folgen (vgl. Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Die GO-BT steht im Rang unter dem Grundgesetz. Ein unter Verstoß gegen die GO-BT zustande gekommenes Gesetz ist nur dann formell verfassungswidrig, wenn damit zugleich ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes vorliegt. Es ist sehr wichtig, dass Du erläuterst, dass ein Verstoß gegen die GO-BT nicht automatisch die formelle Verfassungswidrigkeit nach sich zieht. Vergiss aber nicht, danach noch mögliche Verstöße gegen das Grundgesetz zu prüfen! In Frage kommen insbesondere (1) Verstöße gegen verfassungsrechtliche Verfahrensvorschriften (Art. 76-82 GG), (2) Verletzungen der parlamentarischen Mitwirkungsrechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) sowie (3) Verstöße gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG).

4. Die nur einmalige Beratung über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz“ verstößt gegen die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren iSd Art. 76-82 GG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das GG normiert keine Anforderungen über die Anzahl der Lesungen. In Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG wird keine bestimmte Anzahl von Beratungen vorausgesetzt. Das Grundgesetz fordert nur den Gesetzesbeschluss des Bundestages. § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT ist insofern eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung grundsätzlich nicht auf die formelle Verfassungswidrigkeit durchschlägt. Es ist keine Norm des Grundgesetzes ersichtlich, gegen welche die nur einmalige Beratung des Gesetze verstoßen könnte. Der nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG erforderliche Beschluss des Bundestages ist jedenfalls gefasst worden.

5. Die Beschlussfassung über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz“ nach nur einer Lesung verletzt die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten am Gesetzgebungsverfahren (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG).

Nein, das trifft nicht zu!

Die Abgeordneten haben das verfassungsmäßige Recht, an den Beratungen im Bundestag teilzunehmen und sich mit Redebeiträgen daran zu beteiligen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Es gab eine äußerst hitzige Debatte im Bundestag. Die Abgeordneten hatten also die Möglichkeit, an der Lesung des Gesetzes teilzunehmen und sich dazu zu äußern. Im Regelfall genügt die kurze Feststellung, dass die Abgeordneten die Möglichkeit hatten, sich zum Gesetz zu äußern. Eine Verletzung der Mitwirkungsrechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) wird nur in extremen Ausnahmefällen anzunehmen sein. In diesen Ausnahmefällen darf der Sachverhalt keine Angaben über eine Debatte enthalten und es muss ersichtlich sein, dass die Abgeordneten gar keine Möglichkeit hatten, sich zum Gesetz zu äußern.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

RAP

Raphaeljura

21.4.2023, 00:18:50

Im Prinzip ist das sehr interessant. Aber welche Schutzfunktion hat denn dann die GO BT ? Letztlich kommt es auch die nicht an. Dann sind es wohl nur Empfehlungen.

Paul König

Paul König

21.4.2023, 17:10:16

Hey @[Raphaeljura](207944), die GO BT ist im Verfassungsrecht nur dann relevant, wenn sie Verfassungsrecht konkretisiert. Soweit das nicht der Fall ist, kannst Du sie gerne für die Klausur als bloße "Empfehlung" erachten. Schau Dir hierzu gerne das Kapitel "Grundlagen 2: Geschäftsordnungsrecht" an. In der Praxis ist die GO BT für den Bundestag als das Organ, das mit der GO BT arbeiten muss, natürlich sehr bedeutsam! Der Bundestag hat sich danach zu richten, aber dadurch wird die GO BT eben nicht zum Prüfungsmaßstab des BVerfG. Ergibt das für dich Sinn? Frag sonst gerne noch mal nach! Beste Grüße - Paul (für das Jurafuchs-Team) @[Lukas Mengestu](136780)

Paul König

Paul König

17.6.2023, 17:48:11

Und noch als Ergänzung: Die GO BT ist Organinnenrecht und soll das Innenleben des Organs gestalten. Eine Schutzfunktion besteht also, wenn überhaupt, nur nach Innen, etwa zwischen den einzelnen Fraktionen. Eine Schutzfunktion nach Außen, etwa gegenüber den von Beschlüssen des Bundestages betroffenen Bürgerinnen, hat sie hingegen nicht?

Dogu

Dogu

17.6.2023, 12:14:34

Wäre ein Fall der Verletzung der Tagesordnung beispielsweise ein Fehlen des Punktes auf der vorher festgelegten Tagesordnung, sodass nur die Anwesenden Kenntnis von der Beschlussfassung haben?

Paul König

Paul König

17.6.2023, 17:52:34

Hey @[Dogu](137074), ein gutes Beispiel! Dies könnte unter Umständen ein Verstoß gegen § 20 Abs. 3 S. 1 GO BT sein. Liegt ein solcher Verstoß im Einzelfall tatsächlich vor, müsstest Du in der Prüfung fragen, ob dadurch verfassungsmäßige Abgeordnetenrechte verletzt oder gegen das Demokratieprinzip verstoßen wurde. Klärt das Deine Frage? Beste Grüße - Paul (für das Jurafuchs-Team)

Dogu

Dogu

17.6.2023, 18:28:32

Ja, danke :)


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