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Gesetzgebungsverfahren

Anzahl der Lesungen im Bundestag - Verstoß (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

Anzahl der Lesungen im Bundestag - Verstoß (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das ebenfalls umstrittene „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ soll im Schatten der Frauenhandball-WM schnell und unauffällig den Bundestag passieren. Die Gesetzesvorlage wird von der einfachen Mehrheit der Abgeordneten nach nur einer Beratung beschlossen. In der zehnminütigen Beratung kommen nur Abgeordnete der Regierungsfraktionen zu Wort.

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Einordnung des Falls

Anzahl der Lesungen im Bundestag - Verstoß (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Bundestag beschließt Gesetze grundsätzlich nach einer Lesung.

Nein, das trifft nicht zu!

Bevor ein Gesetzentwurf vom Bundestag beschlossen wird, führt der Bundestag grundsätzlich drei Lesungen durch (§ 78 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GO-BT). Sinn und Zweck dieser Regelung ist, dass sich alle Abgeordneten am Gesetzgebungsverfahren beteiligen können. Bei Gesetzen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG („Verträge mit auswärtigen Staaten und ähnliche Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen“) sind lediglich zwei Lesungen erforderlich (§ 78 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GO-BT).
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2. Die Beschlussfassung des Bundestages über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ verstößt gegen § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT.

Ja!

Bevor ein Gesetzentwurf vom Bundestag beschlossen wird, führt der Bundestag grundsätzlich drei Lesungen durch (§ 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT). Der Bundestag hat nur eine Lesung durchgeführt. Es gibt zudem die Möglichkeit, durch Beschluss einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordneten (§ 126 GO-BT) oder durch Vereinbarungen zwischen den Fraktionen von den Vorschriften der GO-BT im Einzelfall abzuweichen.

3. Das „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ ist wegen des Verstoßes gegen § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT formell verfassungswidrig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Verstöße gegen die GO-BT führen nicht automatisch zur formellen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes. Die formelle Verfassungswidrigkeit kann nur aus einem Verstoß gegen Vorschriften des Grundgesetzes folgen (vgl. Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Die GO-BT steht im Rang unter dem Grundgesetz. Ein unter Verstoß gegen die GO-BT zustande gekommenes Gesetz ist nur dann formell verfassungswidrig, wenn damit zugleich ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes vorliegt. Es ist sehr wichtig, dass Du erläuterst, dass ein Verstoß gegen die GO-BT nicht automatisch die formelle Verfassungswidrigkeit nach sich zieht. Vergiss aber nicht, danach noch mögliche Verstöße gegen das Grundgesetz zu prüfen! In Frage kommen insbesondere (1) Verstöße gegen verfassungsrechtliche Verfahrensvorschriften (Art. 76-82 GG), (2) Verletzungen der parlamentarischen Mitwirkungsrechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) sowie (3) Verstöße gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG).

4. Die nur einmalige Beratung über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ verstößt gegen die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren iSd Art. 76-82 GG.

Nein, das trifft nicht zu!

Das GG normiert keine Anforderungen über die Anzahl der Lesungen. In Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG wird keine bestimmte Anzahl von Beratungen vorausgesetzt. Das Grundgesetz fordert nur den Gesetzesbeschluss des Bundestages. § 78 Abs. 1 S. 1 GO-BT ist insofern eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung grundsätzlich nicht auf die formelle Verfassungswidrigkeit durchschlägt. Es ist keine Norm des Grundgesetzes ersichtlich, gegen welche die nur einmalige und äußerst kurze Beratung des „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ verstoßen könnte. Der nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG erforderliche Beschluss des Bundestages ist jedenfalls gefasst worden.

5. Die Beschlussfassung über das „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ verletzt die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten am Gesetzgebungsverfahren (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG).

Ja!

Die Abgeordneten haben das verfassungsmäßige Recht, an den Beratungen im Bundestag teilzunehmen und sich mit Redebeiträgen daran zu beteiligen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Die Debatte dauerte nur etwa zehn Minuten. Das ist für eine Debatte über ein politisches umstrittenes Gesetz offensichtlich zu wenig. Die Abgeordneten, die nicht zu den Regierungsfraktionen gehörten, hatten zudem keine Möglichkeit, sich zum „Maximale-Überwachungs-Gesetz II“ zu äußern. Im Regelfall genügt die kurze Feststellung, dass die Abgeordneten die Möglichkeit hatten, sich zum Gesetz zu äußern. Eine Verletzung der Mitwirkungsrechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) wird nur in extremen Ausnahmefällen anzunehmen sein. In diesen Ausnahmefällen darf der Sachverhalt keine Angaben über eine Debatte enthalten und es muss ersichtlich sein, dass die Abgeordneten gar keine Möglichkeit hatten, sich zum Gesetz zu äußern.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

antoniasophie

antoniasophie

25.7.2023, 14:00:08

Bezüglich des Klausurhinweises: Würde man im Prüfungsaufbau beim Hauptverfahren Bezug nehmen zu Art. 38 I 2 GG oder sollte das im vorliegenden Fall nur im Rahmen der materiellen Vfm. erwähnt und geprüft werden? Wie wäre es am strukturiertesten? Danke 🙏

Paul König

Paul König

27.7.2023, 14:00:54

Hey Antonia, das solltest Du wie in dieser Aufgabe auch in der formellen

Verfassungsmäßigkeit

bei der Prüfung des Hauptverfahrens (Art 77-78 GG) thematisieren. In die

materielle Verfassungsmäßigkeit

gehört das nicht rein, weil es dort nur auf den Inhalt des Gesetzes ankommt (zB: Verstoßen die Überwachungsbefugnisse gegen Grundrechte?). Hier geht es aber um das Zustandekommen des Gesetzes, also um eine formelle Frage! Richtig gut, dass Du zum Prüfungsaufbau nachfragst, das ist in einer Staatsorga-Klausur sehr wichtig und solltest Du stets beim Lernen im Auge haben! Beste Grüße - Paul (für das Jurafuchs-Team) @[Lukas Mengestu](136780) @[

Nora Mommsen

](178057)

antoniasophie

antoniasophie

27.7.2023, 14:22:15

Vielen Dank für die Erklärung, die ist sehr hilfreich! Ja, ich finde der Umgang mit Art. 38 GG kann recht kompliziert werden und ist für mich besonders in der formellen

Verfassungsmäßigkeit

noch ungewohnt.


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