Besteht ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei Belastung des Grundstücks mit Schrotblei?


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Jurafuchs

A besitzt ein landwirtschaftlich genutztes Grundstück. Direkt daneben betreibt S ihre Schießanlage. Wegen dieser Anlage fällt immer wieder Schrotblei auf As Grundstück. Dies führt zu einer Bodenverseuchung, welche alle Grenzwerte überschreitet. A wusste nichts von der Verseuchung durch das Schrotblei.

Einordnung des Falls

Besteht ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei Belastung des Grundstücks mit Schrotblei?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A stand hinsichtlich des Schrotbleis ein Abwehranspruch gegen S aus § 1004 Abs. 1 BGB zu.

Ja!

Der Anspruch nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB setzt voraus, dass (1) der Anspruchsteller Eigentümer ist, (2) eine Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt, (3) der Anspruchsgegner Störereigenschaft hat. Schließlich darf (4) keine Pflicht zur Duldung der Störung bestehen. Bei dem Schrotblei handelt es sich um eine von A nicht zu duldende Grobimmission. Diese hatte S als mittelbarer Störer zu verantworten. Allein die Beseitigung des Schrotbleis ändert allerdings nichts an der bereits eingetretenen Bodenverseuchung, durch das freigesetzte Blei.

2. Sind damit die Voraussetzungen des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs gegeben (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anspruchsvoraussetzungen sind (1) die Wahrung der Subsidiarität. Es muss (2) eine wesentliche, ortsübliche Beeinträchtigung vorliegen, welche (3) nicht mit wirtschaftlich zumutbaren Maßnahmen verhinderbar ist. Die Beeinträchtigung muss (4) für den Eigentümer unzumutbar sein. Der (5) Anspruchsgegner muss der sein, der die Nutzungsart des emittierenden Grundstücks bestimmt. Zuletzt ist die (6) Anspruchshöhe zu bestimmen. Hier bestand eigentlich ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB. Dieser sperrt aufgrund der Subsidiarität die direkte Anwendung des Ausgleichsanspruchs. Außerdem liegen hier Grobimmissionen vor und keine unwägbaren Stoffe. Ein Anspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB in direkter Anwendung scheidet also aus.

3. Es kommt aber eine analoge Anwendung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs in Betracht (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog).

Ja, in der Tat!

§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB kan in unterschiedlichen Fällen analog angewandt werden. So ist eine Analogie für Pächter, Mieter und Inhabern beschränkter dinglicher Rechte anerkannt. Die relevanteste Gruppe der analogen Anwendung der Norm betrifft allerdings die Unmöglichkeit der Störerabwehr.In der Klausur solltest Du stets auch kurz auf die Voraussetzungen der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage – eingehen.

4. A war es aus rechtlichen Gründen unmöglich, die Bodenverseuchung nach § 1004 Abs. 1 BGB abzuwehren.

Nein!

Die relevanteste Gruppe der analogen Anwendung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs betrifft die Unmöglichkeit der Störerabwehr. Es kann dem Beeinträchtigten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sein, den an sich gegebenen Abwehranspruch geltend zu machen. Bei der rechtlichen Unmöglichkeit ergibt sich aus gesetzlichen Vorschriften oder zum Schutz besonderer Allgemeininteressen eine Duldungspflicht. Es sind keine Vorschriften oder Gründe des Allgemeinwohls ersichtlich, welche A von der Ausübung des Abwehranspruchs gehindert haben. Die Geltendmachung des Anspruchs wäre A also rechtlich möglich.

5. A war es aus tatsächlichen Gründen unmöglich, die Bodenverseuchung nach § 1004 Abs. 1 BGB abzuwehren.

Genau, so ist das!

Die Unmöglichkeit der Störerabwehr aus tatsächlichen Gründen setzt einen faktischen, unverschuldeten Duldungszwang voraus. Der Anspruchsberechtigte wird aus tatsächlichen Gründen gehindert, die Störung nach § 1004 Abs. 1 BGB oder § 862 Abs. 1 BGB rechtzeitig zu unterbinden und hat dadurch unzumutbare Nachteile erlitten. A wusste nichts von der schleichenden Bodenverseuchung durch das Schrotblei. Als A davon erfuhr, war der Schaden (Bodenverseuchung) bereits eingetreten. Die vorherige Störerabwehr war A also aus tatsächlichen Gründen unmöglich.

6. Ist die Beeinträchtigung für A zumutbar?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Ausgleichsanspruch setzt voraus, dass das betroffene Grundstück über das zumutbare Maß hinaus beeinträchtigt sein (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB). Hier ist derselbe Maßstab wie bei der Beurteilung der Wesentlichkeit anzulegen. Wird die Wesentlichkeitsgrenze überschritten, geht die Einwirkung über das zumutbare Maß hinaus. Das Schrotblei verseuchte As Landwirtschaftsgrundstück erheblich. Die zulässigen Grenzwerte sind überschritten. Eine landwirtschaftliche Nutzung ist so nicht mehr möglich. Es liegt eine unzumutbare Beeinträchtigung vor.

7. Kann A von S einen angemessenen Ausgleich für die Schädigung verlangen (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog)?

Ja!

§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist nach h.M. kein Schadensersatzanspruch, sondern ein Wertersatzanspruch. So sind etwa Personenschäden und Schmerzensgeld nicht erfasst. Verlangt werden kann ein angemessener Ausgleich in Geld. Diese Entschädigung kann aber auch Ersatz für Schäden an beweglichen Sachen erfassen. Die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. A kann angemessenen Ersatz verlangen.

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MAUF

Maurice Fritz

18.4.2023, 09:59:36

Was ist hier jetzt der Unterschied zu dem Fall, dass auf dem Nachbargrundstück ein Rohr bricht und bleibelastetes Wasser in das GS des Anspruchssteller eindringt? Dort hatte der Eigentümer ja einen Anspruch auf Wiederherstellen der Benutzbarkeit. Warum ist das hier tatsächlich unmöglich und im anderen Fall nicht?

Blackpanther

Blackpanther

25.10.2023, 10:59:14

Mich würde auch interessieren, warum § 906 II 2 BGB nicht an der Subsidiarität scheitert. Jedenfalls wenn man bei der Rechtsfolge des § 1004 der Wiederherstellungstheorie folgt.

IT

Itsajourney

28.12.2023, 04:11:56

Das interessiert mich auch.

DAV

david1234

14.6.2024, 17:16:53

Auch hier nochmal eine Erinnerung. Vllt kennt sich ja jemand aus. Warum ist 1004 nicht anwendbar, wenn man auf die Theorie der „Wiedernutzbarkeit“ abstellt. Mir erschließt sich das leider nicht. Liegt es daran, dass kein Blei mehr auf das Grundstück gelangt und deshalb keine Beeinträchtigung isd 1004 vorliegt oder wird damit der Unterschied zu einem Anspruch der Verschulden voraussetzt gewahrt? Ansonsten ist der verseuchte Boden und nicht das Blei an sich die Störung und diese hält noch an.

0815jurafuchs

0815jurafuchs

3.7.2024, 21:53:33

Ich denke, dass 1004 BGB vom Normzweck her dem Eigentümer das Recht gibt, andere von der Beeinträchtigung seines Eigentums abzuhalten. Voraussetzung ist daher, dass die Beeinträchtigung andauert und durch entsprechende Maßnahmen für die Zukunft unterbunden werden kann. Die Beeinträchtigung, die einen Beseitigungsanspruch auslöst, darf daher nicht in der Vergangenheit liegen und damit bereits abgeschlossen sein ( s.a. MüKo 1004 Rn. 83). A geht es um einen Tausch des verseuchten Bodens und nicht primär darum, dass die Bleikugeln aus seinem Grundstück entfernt werden. Hier in dem Fall liegt daher m. E. durch Überschreiten der Grenzwerte in der Vergangenheit in Folge herübergeschossener Bleigeschosse die wesentliche Beeinträchtigung, die nicht hinzunehmen ist. Der Schaden ist bereits entstanden und kann durch Beseitigung der ursprünglichen Beeinträchtigung in Form der Bleigeschosse und Unterbinden, dass zukünftig keine Bleigeschosse mehr herüber geschossen werden, auch nicht mehr rückgängig gemacht werden, nachdem das Blei bereits ins Erdreich abgegeben wurde. Dass sich der Schadstoffwert durch weitere Bleigeschosse erhöht, ist daher hier für den Beseitigungsanspruch m. E. irrelevant. Laut Rspr. ist dann für den Fall, dass der betroffene Eigentümer aus besonderen Gründen gehindert war, die Einwirkung (in Form der wesentlichen Beeinträchtigung) zu unterbinden, 906 II 2 BGB analog anzuwenden (Fälle der faktischen Unmöglichkeit rechtzeitiger Störungsabwehr). Ein Anspruch aus 1004 besteht m. E. dann lediglich hinsichtlich der Unterlassung, dass zukünftig Bleigeschosse auf dem fremden Grundstück landen.


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