Problemfall Verbringungsgewahrsam

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Vor dem Lokalderby VFL Osnabrück gegen Preußen Münster sichtet die Polizei mehrere polizeibekannte VFL Ultras vor dem Preußenstadion. Die Polizei erteilt den Ultras einen Platzverweis für das Stadiongelände und bringt sie mit mehreren Polizeiautos zurück zum Bahnhof.

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Einordnung des Falls

Problemfall Verbringungsgewahrsam

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der sog. Verbringungsgewahrsam liegt vor, wenn die Polizei eine Person von einer Örtlichkeit zu einem anderen Ort bringt, um die Person von dieser Örtlichkeit fernzuhalten. Ist der Platzverweis nach § 34 Abs. 1 PolG NRW die richtige Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof?

Nein, das trifft nicht zu!

Umstritten ist, auf welche Rechtsgrundlage die Polizei den Verbringungsgewahrsam stützen kann. Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass das Verbringen von der Standardermächtigung des Platzverweises (§ 34 Abs. 1 PolG NRW) umfasst sei. Dagegen spricht allerdings, dass der Platzverweis eine Standardermächtigung ohne Vollzugselement ist. § 34 Abs. 1 PolG NRW enthält allein eine Anordnungsbefugnis für ein Entfernungsgebot und Betretungsverbot, aber keine Ermächtigung zur Durchsetzung. Das Verbringen an einen anderen Ort geht über die bloße Anordnungsbefugnis hinaus und hat vollziehenden Charakter. Die Verbringung an einen anderen Ort geht über die Befugnisse hinaus, die die Standardermächtigung zum Platzverweis einräumt. § 34 Abs. 1 PolG NRW ist nicht die richtige Ermächtigungsgrundlage.
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2. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist der Durchsetzungsgewahrsam nach § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW.

Nein!

Teilweise vertritt die Literatur, dass das Verbringen an einen anderen Ort vom Durchsetzungsgewahrsam (§ 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW) umfasst sei. Die Verbringen diene der Durchsetzung des vorher ausgesprochenen Platzverweises. Diese Meinung lässt allerdings außer Betracht, dass das Wegbringen ein anderes Ziel als der Gewahrsam verfolgt: Ziel des Gewahrsams ist es, eine Person nicht nur kurzfristig festzuhalten. Ziel des Verbringen ist sie von einer bestimmten Örtlichkeit fernzuhalten, aber nicht sie festzuhalten. Das Verbringen der Ultras zum Bahnhof verfolgt gerade nicht das Ziel, die Fans in einem eng umgrenzten Ort längerfristig festzuhalten, sondern sie an einen anderen Ort zu bringen. § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW ist nicht die richtige Ermächtigungsgrundlage.

3. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist die polizeiliche Generalklausel (§ 8 Abs. 1 PolG NRW).

Nein, das ist nicht der Fall!

Manche Stimmen in der Literatur wollen das Verbringen auf die polizeiliche Generalklausel (§ 8 Abs. 1 PolG NRW) basieren. Allerdings ist zweifelhaft, ob diese überhaupt anwendbar ist: Das primäre Durchsetzungsinstrument für den Platzverweis ist der Gewahrsam; subsidiär darf auf die allgemeinen Vollstreckungsregeln zurückgegriffen (§§ 50 ff. PolG NRW) werden. Somit ist der Durchsetzungsgewahrsam im Vergleich zur polizeilichen Generalklausel die speziellere und abschließende Regelung. Teilweise werden verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anwendung der polizeilichen Generalklausel aufgeführt, da diese nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG entspreche. Allerdings müsste das Verbringen an einen anderen Ort dann bereits ein Freiheitsentzug sein, was aufgrund der kurzen Dauer und geringen Intensität zweifelhaft ist. Die Polizei kann das Verbringen der Ultras vom Bahnhof aus Spezialitätsgründen nicht auf die polizeiliche Generalklausel stützen.

4. Rechtsgrundlage für das Verbringen der Ultras zum Bahnhof ist der unmittelbare Zwang nach den allgemeinen Vollstreckungsregeln (§§ 50 Abs. 1 , 55 ff. PolG NRW).

Ja, in der Tat!

Am überzeugendsten erscheint die Lösung über die allgemeinen Vollstreckungsregeln (§§ 50 ff. PolG NRW ). Die Polizei setzt den Platzverweis, welche die Grundmaßnahme darstellt, die auf Vornahme einer Handlung bzw. Unterlassung gerichtet ist (§§ 50 Abs. 1 PolG NRW ), im Wege der unmittelbaren Zwangs durch (§§ 50 Abs. 1 , §§ 55 ff. PolG NRW). Ein Spezialitätsproblem besteht auch nicht: Der Durchsetzungsgewahrsam ist zwar das primäre Durchsetzungsinstrument für den Platzverweis, allerdings ist er anders als im Vergleich zur Generalklausel gegenüber den allgemeinen Vollstreckungsregeln keine abschließende Sonderregelung. Fehlt es an einem Grundverwaltungsakt, weil die Polizei vorher keinen Platzverweis erteilt, kann das Verbringen auf den Sofortvollzug ( § 50 Abs. 2 PolG NRW ) basiert werden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

RUBI

Rubinho

28.7.2023, 09:48:12

Der Lösung über § 50 I PolG NRW steht nicht entgegen, dass der Grund-VA (Platzverweis) hier rechtswidrig ist? Es ist ja offensichtlich, dass das Verbdingen zum BHF die den Inhalt der Standardmaßnahme „Platzverweis“ übersteigt. Bei unmittelbarem Zwang dachte ich, dass dies immer auch einen rechtmäßigen Grund-VA voraussetzt (im

Sofortvollzug

dann zumindest einen hypothetischen Grund-VA).

Dogu

Dogu

13.1.2024, 12:14:44

Der Grund-VA ist doch hier nur die Anordnung, dass Stadiongelände zu verlassen. Die ist doch rechtmäßig. Vermischt Du hier die Vollstreckung des VA mit dem Regelungsgehalt des VA?

Dogu

Dogu

13.1.2024, 12:14:57

Der Grund-VA ist doch hier nur die Anordnung, das Stadiongelände zu verlassen. Die ist doch rechtmäßig. Vermischt Du hier die Vollstreckung des VA mit dem Regelungsgehalt des VA?


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