Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss glaubensgeleitet und verpflichtend sein (Negativbeispiel 1b: Extrembeispiel)

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss glaubensgeleitet und verpflichtend sein (Negativbeispiel 1b: Extrembeispiel)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

P ist Mitglied einer in Deutschland anerkannten Religionsgemeinschaft. Diese erlaubt aus religiösen Gründen die Mehrehe, schreibt sie aber nicht vor. Als P eine zweite Frau heiraten möchte, untersagt das Standesamt dies. P sieht sich in seiner Glaubensfreiheit beeinträchtigt.

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Einordnung des Falls

Reichweite des Schutzes: Verhalten muss glaubensgeleitet und verpflichtend sein (Negativbeispiel 1b: Extrembeispiel)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Damit P in seiner Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) beeinträchtigt sein könnte, müsste deren Schutzbereich eröffnet sein. Schützt die Glaubensfreiheit jegliches glaubensgeleitetes Verhalten ohne Einschränkungen?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Glaubensfreiheit (in der Ausprägung der religiösen Betätigungsfreiheit) schützt das Recht des Einzelnen, sein Verhalten gänzlich anhand seines Glaubens auszurichten. Dieser weite Schutzbereich läuft jedoch Gefahr, konturlos zu werden. Daher wird der Schutzbereich eingeschränkt: (1) Das streitgegenständliche Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung sein. Dies muss der Grundrechtsträger plausibel machen, die bloße Behauptung reicht nicht aus (Plausibilitätskontrolle). Dabei wird auch das Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft) berücksichtigt. (2) Es reicht nicht aus, wenn das streitgegenständliche Verhalten nur im äußeren Zusammenhang von religiösem Handeln oder bei dessen Gelegenheit stattfindet. (3) Schließlich reicht es nicht aus, dass der Grundrechtsträger sich zu seinem Handeln religiös motiviert sieht. Vielmehr muss der Grundrechtsträger das Verhalten als verpflichtend ansehen und verständlich darlegen, dass er nicht ohne innere Not von seinem Verhalten abweichen kann.
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2. Kann P plausibel darlegen, dass die Mehrehe auch nach dem Selbstverständnis seiner Religionsgemeinschaft eine religiös motivierte Handlung ist?

Ja!

Die religiöse Betätigungsfreiheit schützt nicht jedes Verhalten als Ausdruck der eigenen Religionsfreiheit. Sonst würde der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausufern. Daher wird der Schutzbereich eingeschränkt: Das streitgegenständliche Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine religiös motivierte Handlung sein. Dies muss der Grundrechtsträger plausibel machen, die bloße Behauptung reicht nicht aus (Plausibilitätskontrolle). Dabei wird auch das Selbstverständnis der betroffenen Religion(sgemeinschaft) berücksichtigt: Das jeweilige Verhalten muss nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung als Glaubensregel der betreffenden Religion plausibel erscheinen. Ps Religionsgemeinschaft erlaubt aus religiösen Gründen die Mehrehe. Somit kann P plausibel darlegen, dass die Mehrehe nach geistigem Gehalt und äußeren Erscheinungsbild auch unter Berücksichtigung des Selbstverständnisses seiner Religionsgemeinschaft eine religiös motivierte Handlung ist.

3. Ps Religionsgemeinschaft erlaubt aus religiösen Gründen die Mehrehe, schreibt sie aber nicht vor. Kann P sich zur Eingehung einer weiteren Ehe auf den Schutzbereich der Glaubensfreiheit berufen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die religiöse Betätigungsfreiheit schützt das Recht des Einzelnen, sein Verhalten gänzlich anhand seines Glaubens auszurichten. Der weite Schutzbereich der Glaubensfreiheit soll verhindern, dass Gläubige in einen Konflikt zwischen den Geboten des Staats und den Geboten ihres Glaubens geraten und an dem Konflikt zerbrechen. Dieser Zwecksetzung des weiten Schutzbereichs der Glaubensfreiheit wird jedoch nur entsprochen, wenn das religiös motivierte Verhalten für den Gläubigen auch zwingend ist, denn nur dann kommt es zum Konflikt. Deshalb reicht es nicht aus, dass der Grundrechtsträger sich zu seinem Handeln religiös motiviert sieht. Vielmehr muss der Grundrechtsträger das Verhalten als verpflichtend ansehen und verständlich darlegen, dass er nicht ohne innere Not von seinem Verhalten abweichen kann. Da Ps Religionsgemeinschaft die Mehrehe nicht vorschreibt, kann P nicht plausibel darlegen, dass er zum Abschluss der Mehrehe religiös verpflichtet wäre. Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit ist nicht eröffnet. Die Mehrehe ist in Deutschland gesetzlich verboten. Eine bestehende Ehe hindert einen erneuten Eheschluss (§ 1306 BGB). Ein gleichwohl vollzogener erneuter Eheschluss (Doppelehe) ist strafbar (§ 172 StGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAN

Daniel

4.7.2022, 13:33:22

Ich meine gelernt zu haben, dass es eben nicht auf eine angenommene religiöse Verpflichtung ankommt, sondern das die Religionsfreiheit das Ausrichten des gesamten Verhaltens an der Religion umfasst. Insbesondere auch, dass religiös empfohlenen Handlungen nachgegangen wird (wobei der SV hier nur von einem Erlaubnis und nicht von einer Empfehlung spricht).

Nora Mommsen

Nora Mommsen

19.7.2022, 14:27:19

Hallo Daniel, grundsätzlich ist geschützt, dass der Grundrechtsträger sein gesamtes Verhalten anhand seiner religiösen Überzeugung ausrichtet. Kommt es aber zu einer staatlichen Maßnahme ist der Schutzbereich dann eröffnet, wenn der Grundrechtsträger zum Einen plausibel den Religionsbezug des Verhaltens darlegen kann (hier durch die Erlaubnis der Mehrehe). Darüber hinaus ist aber erforderlich, dass der Beschwerdeführer darlegt, nicht ohne innere Not von dem Verhalten abweichen zu können. Da es sich hier um eine reine Erlaubnis aber nicht um eine bindende Vorschrift handelt, kann P diese innere Not nicht allein damit begründen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Edward Hopper

Edward Hopper

23.7.2022, 16:09:08

Habe ich das richtig verstanden, dass ein Verhalten aus dem Schutzbereich fällt wenn es nicht "verpflichtend" ist? Ist das nicht ziemlich problematisch denn so würde ja der Staat die Deutung darüber treffen was verpflichtend ist Un was nicht. Diese Deutungshoheit möchte man ja gerade verhindert

Nora Mommsen

Nora Mommsen

13.8.2022, 10:27:19

Hallo Edward Hooper, in der Tat kommt es darauf an, dass die religiöse Praxis in der Weise verpflichtend ist, dass der Bürger nicht ohne innere Not davon abweichen kann. Allerdings ist der Maßstab dafür das Selbstverständnis der Religion(sgemeinschaft). Es obliegt also nicht dem Staat über den verpflichtenden Charakter zu urteilen. Vorliegend erlaubt P die Mehrehe schreibt sie aber nicht vor. Nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft liegt somit keine verpflichtende Handlung vor. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

VALA

Vanilla Latte

12.4.2024, 03:12:02

Was ist der Unterschied zu dem vorherigen Fall, indem gesagt wird, dass mehrmals Beten pro Tat eben keine Pflicht ist?

Kathi

Kathi

25.6.2024, 13:47:45

Ich denke, weil mehrmaliges Beten pro Tag nicht verboten oder mit Strafe behängt ist.

ROBE

Robert

8.8.2024, 09:59:18

Man stelle sich vor, eine neue Religion würde z.B. die Mehrehe vorschreiben, also religiös verpflichtend machen. Es wäre spannend zu sehen, wie das BVerfG diesen Konflikt zwischen staatlichen und religiösen Normen regeln würde.


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