Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG

10. Dezember 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Baubehörde B hegt den Verdacht, dass Bauherrin S die Antragsunterlagen für eine Baugenehmigung gefälscht hat. Um der Sache nachzugehen, erlässt B eine Verfügung gegen S's Frau F, wonach F heimlich bestimmte Unterlagen der S suchen und der Behörde zukommen lassen soll.

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Einordnung des Falls

Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Verwaltungsakt könnte nichtig sein gemäß § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG.

Ja!

Gemäß § 44 Abs. 2 Nr. 6 ist ein Verwaltungsakt nichtig, der gegen die guten Sitten verstößt. Der Verstoß gegen die guten Sitten muss nach dem Wortlaut durch den Verwaltungsakt selbst gegeben sein. Es muss aber auch genügen, wenn ein Verwaltungsakt ein sittenwidriges Verhalten ermöglicht oder aufgibt und so an dem Sittenverstoß des Adressaten mitwirkt.Der Verwaltungsakt gegenüber F könnte deswegen sittenwidrig sein, weil er ein Verhalten aufgibt, welches einen Sittenverstoß begründet.
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2. Der Begriff der „guten Sitten“ ist in § 44 VwVfG legaldefiniert.

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei dem Begriff der guten Sitten handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit sozialethischen Wertvorstellungen ausgefüllt werden muss, die in der Rechtsgemeinschaft, insbesondere im Verfassungskonsens, als maßgebliche Ordnungsvoraussetzungen anerkannt sind. Nicht erforderlich ist, dass der Behörde der Verstoß subjektiv vorgeworfen werden kann. § 44 VwVfG sieht eine objektive Betrachtungsweise vor. Der Sittenverstoß kann z.B. in der Missachtung elementarer rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze liegen. Ob die Verfügung gegenüber F sittenwidrig ist, ist eine Wertungsfrage, die sich nach den herrschenden sozialethischen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft richtet.

3. Entscheidend sind die Wertvorstellungen des Adressaten.

Nein, das trifft nicht zu!

Ob ein Verhalten sittenwidrig ist, richtet sich nach dem durchschnittlichen Wertekonsens der Rechtsgemeinschaft. Danach ist ein Verstoß gegen die guten Sitten anzunehmen, wenn eine erhebliche Abweichung von der herrschenden Moral festzustellen ist, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Die Maßstäbe des § 138 Abs. 2 BGB können als Bewertungshilfe herangezogen werden. Entscheidend ist nicht, ob F den Verwaltungsakt als sittenwidrig empfindet. Die Werte einer Gesellschaft befinden sich im ständigen Wandel. So wäre einer Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 1987, wonach das Betreiben einer Peep-Show als sittenwidrig eingeordnet wurde, heute wohl nicht mehr zu folgen.

4. Der Verwaltungsakt verlangt von F, ihre eigene Frau quasi auszuspionieren. Die Sittenwidrigkeit der Verwaltungsakts kann daher angenommen werden.

Ja!

Ein Verstoß gegen die guten Sitten anzunehmen, wenn eine erhebliche Abweichung von der herrschenden Moral festzustellen ist, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Als Wertungshilfen sind insbesondere verfassungsrechtliche Maßstäbe heranzuziehen. Die Ehe ist verfassungsrechtlich geschützt (Art. 6 Abs. 1 GG). Es ist ein besonderes Vertrauensverhältnis, in das der Staat nicht ohne Weiteres in der vorliegenden Form eingreifen darf. Außerdem widerspricht es den Grundsätzen eines fairen Verwaltungsverfahrens gegenüber S, wenn ihre eigene Frau heimlich für den Staat Hinweise zu S' Lasten sammeln soll, anstatt dass die Ermittlungen auf dem rechtsstaatlich vorgesehenen Weg eingeleitet werden. Die Verfügung ist daher nichtig nach § 44 Abs. 2 VwVfG. Die Sittenwidrigkeit des Handelns einer Behörde spielt eine größere Bedeutung im Rahmen des Abschlusses von öffentlich-rechtlichen Verträgen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LUN

luni2002

9.1.2023, 23:39:57

Hallo, Ich habe bei dieser Konstellation als erstes daran gedacht, dass der Ehepartner in einem Strafverfahren auch nicht gegen seinen Partner aussagen muss. Könnte man das auch als Argument für einen Verstoß gegen die guten Sitten heranziehen oder sollte man das nicht tun, weil man dann quasi zwei Rechtsgebiete Bzw zwei Rechtsordnungen vermischt?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

10.1.2023, 12:52:28

Hallo luni2002, der Gedanke ist genau richtig. Das Aussageprivileg aus der StPO lässt sich ebenfalls mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe begründen. Diesen Vergleich also zu ziehen ist also keineswegs falsch, sondern kann dein Argument wunderbar unterstützen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LUN

luni2002

10.1.2023, 12:53:45

Vielen Dank für die schnelle Antwort:)

SN

Sniter

18.11.2023, 15:40:13

Liebes Jurafuchsteam, ihr schreibt, dass man beim Begriff "gute Sitten" § 138 II heranziehen kann. Entweder bin ich total verwirrt oder ihr meintet § 138 I, denn mE steht Wucher in § 138 II.

Paulah

Paulah

19.11.2023, 15:10:39

Hallo Sniter, das steht dort nicht so. Es steht in der Erläuterung "Ob ein Verhalten sittenwidrig ist, richtet sich nach dem durchschnittlichen Wertekonsens der Rechtsgemeinschaft. Danach ist ein Verstoß gegen die guten Sitten anzunehmen, wenn eine erhebliche Abweichung von der herrschenden Moral festzustellen ist, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Die Maßstäbe des § 138 Abs. 2 BGB können als Bewertungshilfe herangezogen werden." Die Sittenwidrigkeit ergibt sich aus den ersten beiden Sätzen. § 138 Abs. 2 BGB gibt Entscheidungshilfen, was zur Sittenwidrigkeit führen kann (Nichtig ist i n s b e s o n d e r e ...)

SN

Sniter

20.11.2023, 12:28:52

Moin Paulah, ich stimme Dir ja voll zu. Es geht mir nur darum, was hins der Sittenwidrigkeit die richtige Norm ist: Sicher kann man auch auf § 138 II Bezug nehmen, aber § 138 II ist lex specialis im Verhältnis zu § 138 I, regelt § 138 II doch nur den Wucher und nicht die Sittenwidrigkeit (inkl. aller relevanter Fallgruppen mit wucherähnlichem Geschäft, Knebelverträgen, ...

Paulah

Paulah

20.11.2023, 17:31:06

Ich habe die Erläuterung so verstanden: Es geht in der Erläuterung nicht nur um die guten Sitten, sondern um die Sittenwidrigkeit. Armbrüster schreibt im MüKo zu § 138 BGB, Rn. 264 Wucher sei ein Sonderfall der Sittenwidrigkeit und etwas später in Rn. 266 der Abs. 2 sei zur Konkretisierung des Abs. 1 ins Gesetz aufgenommen worden. Bei Dörner in Schulze, BGB § 138, Rn. 14 heißt es „Da die Voraussetzungen des Wuchertatbestandes iSd Abs. 2 nur schwer zu erfüllen sind, hat die Rspr. bereits bei wucherähnlichen Geschäften eine Sittenwidrigkeit nach Abs. 1 dann bejaht, wenn Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen Missverhältnis zueinander stehen und weitere Umstände wie zB eine

verwerflich

e Gesinnung des durch den Vertrag Begünstigten hinzutreten.“ Das heißt für mich, die in Abs. 2 genannten Punkte Ausbeutung der Zwangslage, Unerfahrenheit usw. können für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit herangezogen werden. Ist ja auch "pfui", wenn jemand so was macht ;-)


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