Öffentliches Recht

Verwaltungsrecht AT

Nichtigkeit von Verwaltungsakten

Vertiefungsfall: Nichtigkeit gem. § 44 Abs. 1 VwVfG

Vertiefungsfall: Nichtigkeit gem. § 44 Abs. 1 VwVfG

23. November 2024

4,7(23.926 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die baden-württembergische Gemeinde G erteilt S eine Erlaubnis zum Betrieb einer Spielbank. Zuständig ist nach § 47 Abs. 4 S. 1 LGlüG das baden-württembergische Innenministerium. S fragt sich, ob die Erlaubnis dennoch wirksam ist und sie die Spielbank betreiben kann.

Diesen Fall lösen 67,8 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Vertiefungsfall: Nichtigkeit gem. § 44 Abs. 1 VwVfG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G war nicht zuständig für den Erlass der Erlaubnis. Die Erlaubnis ist formell rechtswidrig.

Genau, so ist das!

Ein Verwaltungsakt ist formell rechtmäßig, wenn (1) die sachlich und örtlich zuständige Behörde gehandelt hat, (2) Form- und (3) Verfahrensvorschriften eingehalten wurden. Die sachliche Zuständigkeit kann in die Verbands- und Organkompetenz unterteilt werden. Die Verbandskompetenz bestimmt, welcher Verwaltungsträger zuständig ist (z.B. das Land, die Gemeinde, etc.). Die Organkompetenz bestimmt, welches konkrete Organ einer Behörde tätig wird (z.B. Bürgermeisterin, Gemeinderat, etc.). Nach § 47 Abs. 4 S. 1 LGlüG ist das Innenministerium zum Erlass der Erlaubnis zuständig. Die Gemeinde handelte damit außerhalb ihrer Verbandskompetenz. Die Erlaubnis ist unter Verstoß gegen die sachliche Zuständigkeit und damit formell rechtswidrig ergangen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Auch rechtswidrige Verwaltungsakte sind grundsätzlich wirksam.

Ja, in der Tat!

Auch rechtswidrige Verwaltungsakte können wirksam sein. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts ist streng von der Nichtigkeit des Verwaltungsakts zu unterscheiden. Nach der gesetzlichen Wertung soll aus Gründen der Rechtssicherheit nicht jeder „Fehler“ dazu führen, dass ein Verwaltungsakt keine Wirkung entfaltet. Dies ist nur der Fall, wenn ein Verwaltungsakt nicht „nur“ rechtswidrig, sondern nichtig ist. Nichtigkeit ist eine besonders schwerwiegende Rechtswidrigkeit. Rechtswidrige Verwaltungsakte, die nicht nach § 44 VwVfG nichtig sind, verlieren ihre Wirksamkeit nur, wenn sie nach einer Anfechtungsklage vom Gericht gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufgehoben werden oder von der Behörde gemäß § 48 VwVfG zurückgenommen werden (§ 43 Abs. 2 VwVfG). Trotz der formellen Rechtswidrigkeit könnte die Erlaubnis wirksam sein. Dann wäre es S gestattet, die Spielbank zu betreiben.

3. Die fehlende Verbandskompetenz der G führt zur Nichtigkeit der Erlaubnis gemäß § 44 Abs. 2 VwVfG.

Nein!

Um zu prüfen, ob ein rechtswidriger Verwaltungsakt sogar nichtig ist, bietet es sich an, zunächst einen Blick auf die absoluten Nichtigkeitsgründe des § 44 Abs. 2 VwVfG zu werfen. Dieser enthält schwerwiegende Fehler, die in jedem Fall zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts führen. G hat als sachlich unzuständige Behörde gehandelt. Diesen Fall regelt § 44 Abs. 2 VwVfG nicht. Die Vorschrift hält lediglich fest, dass ein Verwaltungsakt, den eine Behörde außerhalb ihrer nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG begründeten örtlichen Zuständigkeit, nichtig sein soll, sofern sie nicht durch die örtlich zuständige Behörde dazu ermächtigt wurde (§ 44 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG). Die Erlaubnis ist nicht nach § 44 Abs. 2 VwVfG nichtig.

4. § 44 Abs. 3 VwVfG regelt die relative Nichtigkeit.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Regeln zur relativen Nichtigkeit finden sich in § 44 Abs. 1 VwVfG („Generalklausel“ der Nichtigkeit). § 44 Abs. 3 VwVfG enthält dagegen Fehler, die allein noch nicht ausreichen, um die Nichtigkeit des Verwaltungsakts zu begründen. Diese negative Auflistung kann von vornherein zu einem Ausschluss der Nichtigkeit führen. Sie kann aber auch eine Wertungshilfe im Rahmen der Abwägung nach § 44 Abs. 1 VwVfG sein: Der Fehler, der nach § 44 Abs. 1 VwVfG zur Nichtigkeit führen soll, muss schwerer wiegen, als die in § 44 Abs. 3 VwVfG aufgelisteten Verstöße. Die sachliche Unzuständigkeit der G könnte nach § 44 Abs. 1 VwVfG die Nichtigkeit der erlassenen Erlaubnis begründen.

5. Ausreichend für eine Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG ist bereits, dass der Verwaltungsakt an einem besonders schwerwiegendem Fehler leidet.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach § 44 Abs. 1 VwVfG (relative Nichtigkeitsgründe) ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er (1) an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und (2) dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Ein besonders schwerwiegender Fehler liegt vor, wenn der Verwaltungsakt gegen tragende Verfassungsprinzipien verstößt oder den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen so sehr widerspricht, dass es unerträglich wäre, wenn er die mit ihm bezweckten Rechtswirkungen hätte. Offensichtlich ist der Fehler, wenn er für einen mit den Gesamtumständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne weiteres ersichtlich ist, d.h. sich geradezu aufdrängt. Der Erlass der Erlaubnis durch G ohne die erforderliche Verbandskompetenz wäre nach § 44 Abs. 1 VwVfG nichtig, wenn dies ein offensichtlicher, besonders schwerwiegender Fehler wäre.

6. Vorliegend mangelt es bereits an einem besonders schwerwiegendem Fehler.

Nein!

Ein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne von § 44 Abs. 1 VwVfG liegt vor, wenn der Verwaltungsakt gegen tragende Verfassungsprinzipien verstößt oder den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen so sehr widerspricht, dass es unerträglich wäre, wenn er die mit ihm bezweckten Rechtswirkungen hätte. Offensichtlich ist der Fehler, wenn er für einen mit den Gesamtumständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne weiteres ersichtlich ist, d.h. sich geradezu aufdrängt. Die Verbandskompetenz findet ihrer verfassungsrechtlichen Ursprung in Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG. Gemeinden können nur innerhalb der gegebenen rechtsstaatlichen Grenzen tätig werden, dazu gehören vorrangig Aufgaben auf kommunaler Ebene (Art. 28 Abs. 2 GG). Handelt eine Gemeinde außerhalb ihres Aufgabenbereichs, so verstößt dies gegen diese Verfassungsprinzipien. Der Fehler ist auch offensichtlich: Der verständige Beobachter würde die Regelung des § 47 Abs. 4 S. 1 LGlüG kennen und im Gefühl haben, dass das Handeln der G nicht nur eine Bagatalle ist. Die Erlaubnis ist nichtig gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG. Trau dich hier, einfallsreich zu argumentieren und verarbeite vorhandene Argumente aus dem Sachverhalt.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen