+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Polizistin P aus Münster wird auf ein nagelneues Rennrad aufmerksam, welches unabgeschlossen am Straßenrand steht. P findet heraus, dass es sich um das Rad von Studentin S handelt, die für ein halbes Jahr verreist ist. P nimmt das Rad mit auf die Wache, um es vor einem in Münster häufig vorkommenden Fahrraddiebstahl zu retten.

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Einordnung des Falls

Sicherstellung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nach dem PolG NRW darf die Polizei zur Gefahrenabwehr alten Gewahrsam an Sachen aufheben und neuen hoheitlichen Gewahrsam begründen.

Genau, so ist das!

Die Polizei ist befugt, Sachen sicherzustellen (§ 43 PolG NRW). Eine Sicherstellung ist die Aufhebung der tatsächlichen Sachherrschaft über eine Sache und die Begründung neuen, hoheitlichen Gewahrsams. Eine Sicherstellung von herrenlosen Sachen ist nicht möglich, da niemanden der aktuelle Gewahrsam entzogen werden kann. Teilweise wird vertreten, dass der handelnde Beamte nicht zielgerichtet neuen Gewahrsam begründen müsse. Für eine Sicherstellung reiche aus, dass die Begründung neue hoheitlichen Gewahrsams bloße Nebenfolge des polizeilichen Handelns sei. Überwiegend wird verlangt, dass das polizeiliche Handeln gerade darauf gerichtet sein muss, neuen hoheitlichen Gewahrsam zu begründen. Dem ist zuzustimmen: Nur so ist eine klare Abgrenzung zu anderen polizeilichen Maßnahmen möglich.
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2. Es liegt eine Sicherstellung vor, wenn die betroffene Sache sofort von der Polizei zerstört oder weggeworfen wird.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Wegnahme der Sache muss gerade darauf gerichtet sein, polizeilichen Gewahrsam zu begründen. Der neue Gewahrsam muss von einer gewissen Dauer und Erheblichkeit sein. Wird der Gewahrsam nur begründet, um die Sache sofort zu zerstören oder wegzuwerfen, liegt keine Sicherstellung der Sache vor. Zudem folgt aus der Begründung hoheitlichen Gewahrsams die Pflicht zur (sicheren) Verwahrung der Sache. Wird die Sache weggeworden oder zerstört, kann diese nicht mehr verwahrt werden. Nimmt die Polizei eine Sache an sich, um diese zu zerstören, begründet die Polizei nicht zielgerichtet neuen Gewahrsam. Zudem ist der Gewahrsam nur von kurzer Dauer und es schließt keine Verwahrung der Sache an die Gewahrsambegründung an. Es liegt keine Sicherstellung (§ 43 PolG NRW) vor.

3. Die Rechtsnatur der Sicherstellung hängt davon ab, ob sie gegenüber dem Gewahrsamsinhaber oder adressatenlos erfolgt.

Ja!

Überwiegend wird vertreten, dass die Rechtsnatur der Sicherstellung davon abhänge, ob sie gegenüber einem Adressaten erfolgt oder nicht. Die Begründung des hoheitlichen Gewahrsams stellt mangels Setzung einer Rechtsfolge rein faktisches Handeln dar. Ist der Gewahrsamsinhaber allerdings zugegeben, werde ihm gegenüber ein konkludenter Verwaltungsakt erlassen. Inhalt sei nicht eine konkludente Duldungsverfügung, sondern ein konkludentes Herausgabegebot. Der Realakt der Gewahrsambegründung sei dann mit einem Verwaltungsakt verbunden. Ist hingegeben kein Adressat zugegeben (sog. adressatenneutrale Sicherstellung), kann kein Herausgabegebot verfügt werden und es liege allein ein Realakt vor.

4. Eine Sicherstellung kann zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr erfolgen.

Genau, so ist das!

Die Sicherstellung kann zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr erfolgen (§ 43 Nr. 1 PolG NRW). Im Gegensatz zur polizeilichen Generalklausel (§ 8 Abs. 1 PolG NRW) muss die Gefahr gegenwärtig sein. Es muss bereits eine Schädigung eingetreten sein oder ein Schaden muss unmittelbar bevorstehen. Umstritten ist, ob die Gefahr von der sichergestellten Sache selbst ausgehen muss. Für diese restriktive Auslegung spricht, dass eine an die Sicherstellung anschließende Verwahrung überflüssig wäre, wenn von der Sache selbst die Gefahr nicht ausgeht. Für eine weite Auslegung spricht jedoch der Wortlaut, der gerade nicht daran anknüpft, dass die Gefahr von der Sache ausgehen muss. Gerade vor dem Hintergrund er Effektivität der Gefahrenabwehr sollte der der zweiten Ansicht gefolgt werden.

5. Eine Sicherstellung kann mit dem Ziel erfolgen, den Eigentümer oder den rechtmäßigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt vor Verlust oder Beschädigung der Sache zu schützen.

Ja, in der Tat!

Die Polizei kann Sachen sicherstellen, um den Eigentümer oder rechtmäßigen Gewahrsamsinhaber vor Verlust oder Beschädigung der Sache zu schützen. Es muss die konkrete Gefahr einer Beschädigung oder des Verlust der Sache bestehen. S ist Eigentümerin des Rades. Dadurch, dass das Rad unabgeschlossen an der Straße steht, droht der Diebstahl des Rades. Obwohl die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, geht dies nicht automatisch mit der Rechtmäßigkeit der Maßnahme einher. Auf Rechtsfolgenseite ist vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu berücksichtigen, ob der Eigentümer hätte kontaktiert werden können.

6. Von festgehaltene Personen können alle mitgeführten Gegenstände sichergestellt werden.

Nein!

Grundsätzlich können Sachen, die festgehaltene Personen mit sich führen, sichergestellt werden. Allerdings kann die Polizei nicht an jedem beliebigen Gegenstand hoheitlichen Gewahrsam begründen. Es muss die Möglichkeiten bestehen, dass die festgehaltene Person die Sache missbräuchlich einsetzen kann (§ 43 Nr. 3 PolG NRW). Dazu gehört, dass der Gegenstand von der Person verwenden kann, um sich zu töten oder zu verletzen (Nr. 3a), das Leben oder Gesundheit anderer zu schädigen (Nr. 3b) , fremde Sachen zu beschädigen (Nr. 3c) oder die Flucht zu ermöglichen oder zu erleichtern (Nr. 3d).
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