Öffentliches Recht
Verwaltungsrecht AT
Ermessen und Verhältnismäßigkeit
Einführungsfall Verhältnismäßigkeit
Einführungsfall Verhältnismäßigkeit
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Behörde B untersagt formell rechtmäßig nach § 15 Abs. 1 VersG eine von V geplante Versammlung, weil B konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass es zu vereinzelten Ausschreitungen mit Teilnehmenden einer Gegendemonstration kommen könnte. V ist der Meinung, das Verbot sei rechtswidrig.
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Einordnung des Falls
Einführungsfall Verhältnismäßigkeit
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Das Verbot ist formell rechtmäßig. Zudem handelte B aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die materielle Rechtmäßigkeit des Verbots setzt auch voraus, dass das Verbot verhältnismäßig ist.
Genau, so ist das!
3. Das Verbot dient einem legitimen Zweck.
Ja, in der Tat!
4. Die Verhältnismäßigkeit scheitert an der Geeignetheit des Verbots zur Erreichung des legitimen Zwecks.
Nein!
5. Das Verbot ist auch erforderlich, um den legitimen Zweck zu erreichen.
Genau, so ist das!
6. Das Versammlungsverbot müsste auch angemessen sein.
Ja, in der Tat!
7. Das Versammlungsverbot ist angemessen.
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Philippe
19.7.2022, 18:52:02
In diesen Fällen dürfte es schon regelmäßig an der versammlungspolizeilichen Verantwortlichkeit der Ausgangsdemo fehlen. Vorbehaltlich des polizeilichen Notstands kommt es dann nicht mehr auf die Verhältnismäßigkeit an.
Nora Mommsen
9.8.2022, 11:28:19
Hallo Philippe, in der Theorie ist das richtig. In der Praxis wird in diesen Situationen regelmäßig auf den polizeilichen Notstand rekurriert um der Lage Herr zu werden und in der Folge wird dann die Ausgangsdemo verboten oder aufgelöst. Dann kommt es durchaus auf die Verhältnismäßigkeit an. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Max-i
15.9.2023, 07:20:29
Ist das Versammlungsgesetz hier überhaupt anwendbar? Soweit ich weiß ist bevor die Versammlung sich gebildet hat das POG anzuwenden
Nora Mommsen
15.9.2023, 08:29:55
Hallo Max-i, die zeitliche Beschränkung ist richtig. Allerdings ist hinsichtlich des Verbots vor Beginn der Versammlung der § 15 Abs. 1, 2 VersG lex specialis. An ein Versammlungsverbot sind besonders hohe Anforderungen zu stellen um dem Art. 8 GG gerecht zu werden. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Ala
18.6.2024, 11:27:23
Ich verstehe irgendwie nicht, warum man die Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das Handeln der
Behördeprüfen muss. Wurde das Übermaßverbot nicht schon bei der Kreation des Gesetzes berücksichtigt und ist wenn, dann nur im Rahmen der Überprüfung des Gesetzes („ist das Gesetz verfassungsgemäß?“) zu überprüfen? Denn im Gesetz ist ja die Rechtsfolge der Versammlungsauflösung schon angelegt, wenn gegen Grundrechte Einzelner zB verstoßen wird bzw. die Gefahr besteht. Ob es im konkreten Fall dann verhältnismäßig ist, ist doch eine Frage des Ermessens der
Behördeoder nicht? Also offenbar nicht - aber ich verstehe nicht, warum. Ich scheine einen Knoten im Kopf zu haben 😅🙈 kann mir das bitte jemand erklären? 🙏🏻
Linne_Karlotta_
19.6.2024, 09:14:44
Hallo @[Ala](241758), Du liegst richtig damit, dass zunächst die
Ermächtigungsgrundlageselbst verfassungsgemäß und somit auch verhältnismäßig sein muss. In der Aufgabe prüfen wir die konkrete Maßnahme der
Behörde, also die Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall. Auch diese Maßnahme muss verhältnismäßig sein. Du liegst ganz richtig damit, dass die Verhältnismäßigkeit auf Rechtsfolgenseite geprüft wird. In der Tat ist die Verhältnismäßigkeit ein Fall der Ermessensüberschreitung. In diesem Fall kam es uns vor allem darauf an, die Verhältnismäßigkeitsprüfung als solche darzulegen. Ich habe aber entsprechende Hinweise zum Prüfungsstandort eingefügt. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
Linne_Karlotta_
19.6.2024, 09:24:52
Hallo @[Ala](241758), Du liegst richtig damit, dass zunächst die
Ermächtigungsgrundlageselbst verfassungsgemäß und somit auch verhältnismäßig sein muss. In der Aufgabe prüfen wir die konkrete Maßnahme der
Behörde, also die Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall. Auch diese Maßnahme muss verhältnismäßig sein. Du liegst ganz richtig damit, dass die Verhältnismäßigkeit auf Rechtsfolgenseite geprüft wird. In der Tat kann die Verhältnismäßigkeit als ein Fall der Ermessensüberschreitung geprüft werden. Andere prüfen einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seperat (vgl. hierzu Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17.A. 2019, RdNr. 245). Wichtig ist nur, dass Du die Verhältnismäßigkeit erst auf Rechtsfolgenseite thematisierst. In diesem Fall kam es uns vor allem darauf an, die Verhältnismäßigkeitsprüfung als solche darzulegen. Ich habe aber entsprechende Hinweise zum Prüfungsstandort eingefügt. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
Ala
19.6.2024, 21:35:07
Vielen Dank! :)
Hendrik
5.11.2024, 13:08:38
Hallo, ich habe eine Frage bzgl. der Verhältnismäßigkeit. Muss ich die Verhältnismäßigkeit auch prüfen, wenn ich einen
Ermessensfehlerfestgestellt habe? Und prüfe ich die Verhältnismäßigkeit auch beim
Ermessensnichtgebrauch?
Linne_Karlotta_
5.11.2024, 13:31:42
Hallo Hendrik, danke für deine Frage. Grundsätzlich muss jedes behördliche Handeln im Einklang mit höherrangigem Recht stehen. Hierzu gehört insbesondere der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das bedeutet, i.R.e. gutachterlichen Prüfung solltest Du immer etwas dazu sagen, ob die Maßnahme verhältnismäßig ist, also (1) einem legitimen Zweck dient, und (2) die Maßnahme zur Erreichung dieses Zwecks geeignet sowie (3) erforderlich ist. Abschließend nimmst Du eine Abwägung der betroffenen Güter i.R.d. (4) Angemessenheit vor. Teilweise wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Ermessensüberschreitung geprüft. Denn eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn sich die
Behördemit der konkreten Maßnahme nicht in dem Rahmen bewegt, die ihr das Gesetz vorgibt. Dieser Rahmen kann sich einerseits aus einfachgesetzlichen Regeln, aber auch auch aus Verfassungsrecht, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ergeben. Andere prüfen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – wegen seiner überragenden Bedeutung – als eigenständigen Punkt. Wie Du das machst, ist m.E. nicht entscheidend, solange Du den Begriff „Verhältnismäßigkeit“ nennst. Im Zweifel kannst Du dich hier an den Vorgaben deiner Prüfperson orientieren. Zu deiner weiteren Frage: Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen die
Behördeihr Ermessen gar nicht ausgeübt hat (=
Ermessensnichtgebrauch) und die konkrete Maßnahmen zusätzlich unverhältnismäßig ist. Also die Maßnahme selbst dann rechtswidrig wäre, wenn die
Behördeihr Ermessen ausgeübt hätte. Daher prüfst Du – in einem Gutachten – auch dann weiter, wenn Du bereits einen
Ermessensfehlerfestgestellt hast. Z.B. kannst Du – nach der Prüfung des
Ermessensnichtgebrauchs – so fortfahren: „(...) Aus diesem Grund liegt ein
Ermessensnichtgebrauchvor. Darüber hinaus könnte die Maßnahme der
Behörde/ der angegriffene Verwaltungsakt gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. (...)“. Am Ende kannst Du dann in einem abschließenden Ergebnissatz festhalten, aus welchen Gründen die
materielle Rechtswidrigkeitgegeben ist. Hilfreich kann vielleicht noch sein, wenn Du dir das in der Praxis vorstellst: Wenn die
Behördeeine Maßnahme vornimmt, weil sie denkt, sie hätte keine andere Wahl, obwohl sie Ermessen hat (=
Ermessensnichtgebrauch) und das Gericht nur sagt: „Du musst hier Ermessen ausüben!“ Dann könnte die
Behörde„auf die Idee kommen“, Ermessenserwägungen anzustellen und dennoch im Ergebnis diesselbe Maßnahme erneut vornehmen. Wenn das Gericht dann erst im zweiten Schritt sagt: „Ach übrigens, die Maßnahme war sowieso auch unverhältnismäßig,“ dann ist das nicht besonders prozessökonomisch und wird auch nicht den Anforderungen des effektiven Rechtsschutzes gerecht. Ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
Hendrik
5.11.2024, 22:00:24
Perfekt, danke für die Antwort. Hat mir sehr weitergeholfen. Im Bezug auf den Ermessensfehlgebrauch kann man doch dann auf den Zweck der Norm und/oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abstellen?