Einführungsfall Verhältnismäßigkeit

17. Juli 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Behörde B untersagt formell rechtmäßig nach § 15 Abs. 1 VersG eine von V geplante Versammlung, weil B konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass es zu vereinzelten Ausschreitungen mit Teilnehmenden einer Gegendemonstration kommen könnte. V ist der Meinung, das Verbot sei rechtswidrig.

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Einordnung des Falls

Einführungsfall Verhältnismäßigkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Verbot ist formell rechtmäßig. Handelte B auch aufgrund einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage?

Ja!

Die formelle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt voraus, dass die handelnde Behörde zuständig ist und diese die einschlägigen Verfahrens- und Formvorschriften eingehalten hat. Zudem bedarf ein belastender Verwaltungsakt einer rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage. B handelte formell rechtmäßig aufgrund der einschlägigen, rechtmäßigen Regelung Versammlungsrechts. Die Länder Bayern, Berlin (teilweise), Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein haben eigene Landesversammlungsgesetze erlassen. In allen anderen Ländern gilt das Versammlungsgesetz des Bundes.
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2. Die materielle Rechtmäßigkeit des Verbots setzt auch voraus, dass das Verbot verhältnismäßig ist.

Genau, so ist das!

Ein Verwaltungsakt ist materiell rechtmäßig, wenn der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist, die Behörde die richtige Rechtsfolge gewählt hat und die Maßnahme auch keinen sonstigen verfassungsrechtliche Grundsätze widerspricht. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf staatliches Handeln den nachteilig Betroffenen nicht übermäßig stark belasten. Dieses Übermaßverbot folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Abwehrfunktion der Grundrechte. Durch das Versammlungsverbot wird Vs Grundrecht aus Art. 8 GG nachteilig eingeschränkt. Als belastende staatliche Maßnahme muss das Verbot verhältnismäßig sein. Auf die vorherige Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage haben wir hier zwecks Schwerpunktsetzung verzichtet. Die Verhältnismäßigkeit prüfst Du in der Klausur entweder im Rahmen des Ermessen als Fall der Ermessensüberschreitung oder aber als eigenständigen Punkt. Jedenfalls aber auf Rechtsfolgenseite!

3. Das Verbot dient einem legitimen Zweck.

Ja, in der Tat!

Eine staatliche Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie (1) die Erreichung eines legitimen Zwecks verfolgt und die Maßnahme zur Erreichung des Zweckes (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen ist. Zunächst musst Du also erörtern, welchen Zweck die staatliche Maßnahme verfolgt. Dieser Zweck muss legitim, also nicht von vornherein rechtswidrig sein. Als legitimer Zweck kommt häufig der Schutz von subjektiven Rechten in Betracht. Das Verbot verfolgt hier den Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) einzelner Versammlungsteilnehmenden. Dieser Zweck ist legitim. In der Klausur ist der legitime Zweck meistens deutlich angelegt. In der Regel solltest Du hier keine Probleme haben.

4. Die Verhältnismäßigkeit scheitert an der Geeignetheit des Verbots zur Erreichung des legitimen Zwecks.

Nein!

Die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns setzt weiterhin voraus, dass das Mittel (= der staatliche Eingriff) geeignet ist, um den legitimen Zweck zu erreichen. Ein Mittel ist geeignet, wenn es dem angestrebten Zweck generell dienen kann. Dieses Merkmal ist weit zu verstehen. Ein Mittel ist nur dann ungeeignet, wenn es den Zweck in keiner Weise fördert. Durch das Verbot der Versammlung, auf der es zu Ausschreitungen kommen könnte, wird der Zweck, die körperliche Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmenden zu schützen, gefördert. Ohne die Versammlung wird es wohl eher nicht zu Ausschreitungen zwischen diesen Personen kommen.

5. Das Verbot ist auch erforderlich, um den legitimen Zweck zu erreichen.

Genau, so ist das!

Das Merkmal der Erforderlichkeit ist erfüllt, wenn es kein milderes Mitte gibt, das ebenso wirksam (= gleich geeignet) den legitimen Zweck fördert. Ein milderes Mittel ist eine Maßnahme, die den Betroffenen weniger belastet, als der vorgenommene Eingriff. Das Verbot der Versammlung ist das effektivste Mittel, um Ausschreitungen zwischen Demonstrierenden zu verhindern. Mildere Mittel, z.B. die Erhöhung des Polizeiaufgebots während der Versammlung, sind nicht genauso wirksam, wie das gänzliche Verbot der Versammlung. Pass auf, dass Du hier nicht nur feststellst, dass es ein milderes Mittel gibt und nicht prüfst, ob dieses genauso geeignet ist, um den Zweck zu fördern. In der Regel wird die Klausur darauf angelegt sein, dass das Mittel erforderlich ist. Es kommt aber gut an, wenn Du 1-2 Alternativen nennst und kurz begründest, wieso diese nicht gleich geeignet sind.

6. Das Versammlungsverbot müsste auch angemessen sein.

Ja, in der Tat!

Verhältnismäßigkeit setzt schließlich voraus, dass das Mittel angemessen ist. Die Angemessenheit wird auch als „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ bezeichnet. Die staatliche Maßnahme ist angemessen, wenn das mit ihr verfolgte Ziel in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht. Es findet also letztlich eine Abwägung sämtlicher betroffenen Rechtspositionen statt. Zu Berücksichtigen sind die Grundrechte, in die das staatliche Handeln eingreift und die Interessen, die mit dem staatlichen Handeln geschützt werden sollen. Du musst also eine Gesamtabwägung zwischen den betroffenen Rechten des Vs und einzelner Versammlungsteilnehmenden vornehmen. Hier liegt regelmäßig der Schwerpunkt der Prüfung! Versuche, viele Argumente aus dem Sachverhalt zu ziehen und trau Dich auch, eigene Argumente zu nennen!

7. Der Eingriff in Vs Recht aus Art. 8 Abs. 1 GG ist sehr intensiv. Ist das Versammlungsverbot dennoch angemessen?

Nein!

Die staatliche Maßnahme ist angemessen, wenn das mit ihr verfolgte Ziel in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht. Bei dem hier betroffenen Grundrecht aus Art. 8 GG handelt es sich um ein besonders wichtiges Grundrecht. Der Eingriff ist sehr intensiv, da die Ausübung des Rechts durch das Verbot nicht nur beschränkt, sondern unmöglich gemacht wird. Eine gesamte Versammlung zu verbieten, weil es zu einzelnen Auseinandersetzungen kommen könnte, ist unverhältnismäßig. Der Schutz des ebenfalls wichtigen Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG einzelner Versammlungsteilnehmenden kann durch ein erhöhtes Polizeiaufgebot oder aber durch Aufenthaltsverbote gegenüber einzelner Störer (sofern diese bereits im Vorhinein bekannt sind) gewährleistet werden.
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