Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Eigenbedarf nach Zwangsversteigerungserwerb trotz Ausschlussvereinbarung

Eigenbedarf nach Zwangsversteigerungserwerb trotz Ausschlussvereinbarung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E erwirbt die Eigentumswohnung des V im Wege der Zwangsversteigerung. V hatte diese vorher unbefristet und unter schriftlichem Ausschluss der Eigenbedarfskündigung an M vermietet. E kündigt M fristgemäß, da ihr Sohn, der in Es Wohnung kein eigenes Zimmer hat, die Wohnung benötigt.

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Einordnung des Falls

Eigenbedarf nach Zwangsversteigerungserwerb trotz Ausschlussvereinbarung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E könnte ein Anspruch auf Rückgabe der Mietsache zustehen (§§ 549 Abs. 1, 546 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Der Anspruch aus § 546 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Wirksamer Mietvertrag, (2) Beendigung des Mietverhältnisses. Anders als § 985 BGB, der nur auf die Herausgabe im aktuellen Zustand gerichtet ist, umfasst § 546 Abs. 1 BGB auch die Räumung, den Rückbau baulicher Veränderungen und die Schadensbeseitigung. Wird allgemein nach Ansprüchen auf Herausgabe der Wohnung gefragt, sind neben § 546 BGB noch folgende Anspruchsgrundlagen zu prüfen: §§ 985; 861; 1007; 823; 812 Abs, 1 S. 2 Alt. 1 BGB.
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2. Besteht zwischen E und M ein wirksamer Mietvertrag nach § 566 Abs. 1 BGB direkt?

Nein!

§ 566 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Wirksamer Mietvertrag, (2) Rechtsgeschäftliche Veräußerung nach Überlassung an den Mieter, (3) Identität von Veräußerer und Vermieter. E hat Eigentum hier nicht durch Rechtsgeschäft, sondern kraft Hoheitsakts - nämlich durch den Zuschlag im Zwangsversteigerungsverfahren (§ 90 Abs. 1 ZVG) - erworben. Eine direkte Anwendung des § 566 BGB scheidet damit aus. § 566 BGB ist ein Fall der gesetzlichen Vertragsübernahme. Entgegen der Überschrift muss als Kausalgeschäft kein Kaufvertrag zugrundeliegen.

3. Besteht zwischen E und M ein wirksamer Mietvertrag nach § 566 Abs. 1 BGB, § 57 ZVG?

Genau, so ist das!

Nach § 57 ZVG ist § 566 Abs. 1 BGB bei der Zwangsversteigerung von Grundstücken entsprechend anwendbar. Die Voraussetzungen des Eintritts des Erwerbers sind dabei: (1) Wirksamer Mietvertrag, (2) Eigentumserwerb kraft Hoheitsakts, (3) Identität von Zwangsvollstreckungsschuldner und Vermieter. Zwischen M und V bestand ein wirksamer Mietvertrag. E hat das Wohnungseigentum kraft Hoheitsakts durch Zuschlag erworben (§ 90 Abs. 1 ZVG). V war auch Vermieter und Vollstreckungsschuldner, sodass E in den Mietvertrag eingetreten ist.

4. E könnte das Mietverhältnis zu M durch wirksame Kündigung beendet haben (§ 57a ZVG).

Ja, in der Tat!

Die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses nach § 57a ZVG setzt voraus: (1) Mietvertrag zwischen Ersteher und Mieter (§ 57 ZVG, § 566 Abs. 1 BGB), (2) Einhaltung der gesetzlichen Fristen, (3) Berechtigtes Interesse (§§ 573d Abs. 1, 573 Abs. 1, 2 BGB), (4) Schriftform (§ 569 Abs. 1 BGB), (5) Schriftliche Begründung (§§ 573d Abs. 1, 573 Abs. 3 BGB), (6) Kein vertraglicher Ausschluss und (7) Kündigungserklärung. § 57a ZVG normiert ein außerordentliches Kündigungsrecht mit gesetzlicher Frist. Bei der unbefristeten Wohnraummiete ist daher § 573d BGB anwendbar.

5. Zwischen M und V wurde die Eigenbedarfskündigung wirksam auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen.

Ja!

Soll ein Kündigungsausschluss für längere Zeit als für ein Jahr gelten, so bedarf dies der Schriftform (§§ 550 S. 1, 126 BGB; BGH, NJW 2007, 1742). § 550 S. 1 BGB soll es dem Erwerber im Hinblick auf § 566 BGB erleichtern, sich über den Umfang der auf ihn übergehenden Bindungen zu unterrichten. Die Norm gilt daher nicht nur bei Befristungen des Vertrages selbst, sondern auch bei Kündigungsbeschränkungen, die sich auf die Dauer des Mietverhältnisses auswirken. M und V haben die Eigenbedarfskündigung schriftlich und damit wirksam auch für längere Zeit als ein Jahr (§ 550 S. 2 BGB) ausgeschlossen.

6. Kündigungsausschlüsse zwischen Mieter und veräußerndem Vermieter gelten bei rechtsgeschäftlicher Veräußerung auch gegenüber dem Erwerber (§ 566 Abs. 1 BGB direkt).

Genau, so ist das!

Der infolge rechtsgeschäftlicher Veräußerung in das Mietverhältnis eintretende Erwerber muss Kündigungseinschränkungen zwischen Mieter und Voreigentümer gegen sich gelten lassen (BGH, NJW-RR 2014, 78). Grundsätzlich wirken Schuldverträge relativ. Die Änderung der dinglichen Rechtslage führt nicht dazu, dass das Verpflichtungsgeschäft nunmehr zum Erwerber besteht. Der Mieter wäre vielmehr auf Ansprüche gegen den veräußernden Vermieter (§§ 280 Abs. 1, 3 283 BGB) verwiesen und dem Erwerber ggü. zur Herausgabe verpflichtet (§ 985 BGB). Dies verhindert § 566 BGB.

7. Kündigungsausschlüsse zwischen Mieter und veräußerndem Vermieter betreffen nach dem Wortlaut des § 57 ZVG auch das Sonderkündigungsrecht (§ 57a ZVG) eines Erstehers in der Zwangsversteigerung.

Nein, das trifft nicht zu!

§ 566 Abs. 1 BGB findet nur "nach Maßgabe de(s) § 57a ZVG" Anwendung (§ 57 ZVG). Dieser Wortlaut zeigt, dass die gesetzliche Vertragsübernahme beim Erwerb im Wege der Zwangsversteigerung im Vergleich zur rechtsgeschäftlichen Veräußerung durch § 57a ZVG modifiziert wird. Der Ersteher erwirbt kraft Hoheitsakts durch den Zuschlag das Eigentum unter den im ZVG geregelten Bedingungen. Eine dieser Bedingungen is t§ 57a ZVG, der als öffentlich-rechtliche Norm einzelvertragliche Vereinbarungen überlagert.

8. Auch der Sinn und Zweck des § 57a ZVG spricht dafür, dass das Sonderkündigungsrecht nicht durch Vereinbarungen zwischen Mieter und Voreigentümer eingeschränkt werden kann.

Ja!

§ 57a ZVG dient dem Schutze der Realgläubiger und soll die Vergabe von Realkrediten gewährleisten. Banken vergeben Darlehen eher, wenn sie in der Zwangsvollstreckung mit einem hohen Erlös rechnen können. Bestehende Mietverträge sind jedoch wertmindernd. Durch das Sonderkündigungsrecht können sich die Banken dieser „Last" entledigen. Dies kann nicht durch Vereinbarungen zwischen Voreigentümer und Mieter unterlaufen werden (RdNr. 33ff.). Daher beeinträchtigt ein Kündigungsausschluss zwischen Mieter und Voreigentümer das Kündigungsrecht nach § 57a ZVG nicht.

9. Ist Es Sonderkündigungsrecht aufgrund des zwischen V und M vereinbarten Kündigungsausschlusses ausgeschlossen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die gesetzliche Vertragsübernahme (§ 566 Abs. 1 BGB) erfolgt "nach Maßgabe de(s) § 57a ZVG"(§ 57 ZVG). Der Mietvertrag, in den der Ersteher eintritt, wird damit kraft Hoheitsakts durch das gesetzliche Sonderkündigungsrecht (§ 57a ZVG) modifiziert. E hat das Grundstück im Wege der Zwangsversteigerung erworben. Durch den Zuschlag hat E kraft Hoheitsakts das Eigentum an dem Grundstück und das - nach seinem Zweck gerade unbeschränkte - Sonderkündigungsrecht (§ 57a ZVG) erworben.

10. E hat aufgrund des Eigenbedarfs auch ein berechtigtes Interesse an der Kündigung (§§ 573d Abs. 1, 573 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

Hierfür genügt es, wenn der Vermieter die ernsthafte Absicht hat, die Räume selbst als Wohnung zu nutzen oder dem Angehörigen zu überlassen und wenn diese Absicht auf vernünftigen Erwägungen beruht. Dabei ist der Nutzungswunsch nicht auf Angemessenheit, sondern nur auf Rechtsmissbrauch überprüfbar. E beabsichtigt, die Wohnung ihrem Sohn - also einem Angehörigen - zu überlassen. Diese Absicht beruht auch auf nachvollziehbaren Gründen, da der Sohn bei E kein eigenes Zimmer hat.

11. Die Kündigung wird jedoch den Begründungsanforderungen nicht gerecht (§§ 573d Abs. 1, 573 Abs. 3 S. 1 BGB).

Nein!

Zweck der Norm ist die Information des Mieters, damit dieser seine Interessen wahren kann. Dafür ist der Kündigungsgrund so zu bezeichnen, dass er von anderen Gründen unterschieden werden kann. Bzgl. des Eigenbedarfs muss die einziehende Person und der Eigenbedarfsgrund dargelegt werden. E hat als einziehende Person ihren Sohn genannt. Ferner hat sie den Eigenbedarf ausreichend damit begründet, dass ihre Wohnung zu klein sei.

12. Damit steht E ein Anspruch auf Herausgabe gegen M zu (§ 546 Abs. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Dies setzt voraus: (1) Wirksamer Mietvertrag, (2) Beendigung des Mietverhältnisses. Ein Mietvertrag zwischen E und M liegt vor (§§ 57 ZVG, 566 Abs. 1 BGB). E hat das Mietverhältnis durch außerordentliche Kündigung (§ 57a ZVG) beendet. Der zwischen V und M vereinbarte Ausschluss der Eigenbedarfskündigung beeinträchtigt dieses Sonderkündigungsrecht nicht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Tobias Rexler

Tobias Rexler

29.6.2022, 14:03:18

Ist das nicht im Lichte der Korrektur evtl. zugunsten des Mieters aufzulösen? Da der Mieter normalerweise einen hohen Schutz im Zivilrecht genießt, wie auch beispielsweise Arbeitnehmer, (eher ferner: Minderjährige), usw?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.6.2022, 17:43:47

Hallo Tobias, denkbar wäre dies natürlich. Gerichte sind allerdings in erster Linie dazu berufen, die geltenden Gesetze anzuwenden. Etwaige Korrekturen der Rechtslage fallen grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers. Der BGH hat in diesem Fall unter Heranziehung des gängigen Auslegungskanons (insbs. Wortlaut u. Telos) geurteilt, dass danach für eine Einschränkung des Kündigungsrechts hier kein Raum verbleibt. Von einer Korrektur dieses Ergebnis unter bloßem Verweis auf die heilige Kuh "Mieter" würde ich ohne Stütze im Gesetz klar abraten :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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